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Von Christine Bierre
Die Herausgeberin unserer französischen Schwesterzeitung „Nouvelle Solidarité“ verfaßte für das Schiller-Institut den folgenden Bericht und Aufruf.
„Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“ – so lautet die Definition der Vereinten Nationen von Völkermord. Am 9. August nahm die von Saudi-Arabien geführte Koalition ihren Krieg gegen Jemen, der dieser Definition entspricht, wieder auf. Es ist ein Angriff auf eine ethnische und religiöse Gruppe, die Zaiditen, die sich seit dem 8. Jahrhundert in Jemen niedergelassen haben, und auf das tausendjährige Erbe Jemens.
Der Krieg der saudischen Koalition aus zehn Staaten, der im März 2015 anfing, ist an Brutalität kaum zu überbieten, er forderte in kurzer Zeit 7.000-10.000 Tote, mehr als zwei Millionen Menschen wurden vertrieben. Es ist ein illegaler Krieg ohne Genehmigung der Vereinten Nationen, in dem das Kriegsrecht völlig mißachtet wird: 23 Krankenhäuser wurden bombardiert, 30 Schulen zerstört, Kinder werden angegriffen.
In einem Bericht der Vereinten Nationen, der auf massiven Druck der Saudis hin schnell wieder zurückgezogen wurde, wird der Koalition vorgeworfen, für 60% der zivilen Todesopfer verantwortlich zu sein, davon fast ein Drittel Kinder. 2015 wurden 785 Kinder getötet, 1168 wurden verletzt, d.h. sechs pro Tag. (Siehe „Saudis erpressen UN in Bezug auf Kindermord im Jemen“ unter „Wichtiges kurzgefaßt“, Neue Solidarität 25/2016.) Doch die Saudis ermorden nicht nur Menschen, sie wollen auch die historische Erinnerung auslöschen, indem sie das reiche kulturelle Erbe Jemens systematisch zerstören.
Die Brutalität der Saudis mag wenig überraschen, aber höchst schockierend ist, daß die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich sie in diesem Krieg massiv militärisch unterstützen, und daß die meisten Massenmedien die Tatsachen verschweigen. Es ist nicht nur eine Schande für jeden Amerikaner, Briten und Franzosen, sondern auch ein Kriegsverbrechen und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Der folgende Artikel, der auf den Warnungen von Jemen-Experten in einem Kolloquium in der Pariser Nationalversammlung Ende Juni basiert, soll zu einem Aufschrei gegen diese Politik des „Westens“ aufrütteln.
Am 29. Juni verurteilte Hervé Fèron, sozialistischer Abgeordnete der französischen Nationalversammlung aus dem Département Meurthe et Moselle, scharf den von Frankreich, Großbritannien und den USA unterstützten schändlichen Krieg Saudi-Arabiens gegen eines der ärmsten Länder der Erde, Jemen. Internationalen Organisationen zufolge bewirkt dieser brutale Krieg eine der gegenwärtig schwersten, vielleicht sogar die schwerste humanitäre Krise auf der Welt; mehr als 70% der 24 Millionen Einwohner droht der Hungertod.
Um die seit 2014 in Jemen herrschenden Huthis, denen Saudi-Arabien enge Verbindungen zum Iran vorwirft, von der Macht zu stürzen, führt eine Koalition aus zehn Ländern mit Unterstützung der USA, Britanniens und Frankreichs einen extrem gewalttätigen Krieg gegen dieses Land, der seit März 2015 schon 7000-10.000 Todesopfer gefordert hat, darunter viele Kinder und andere Zivilisten, außerdem bis zu 30.000 Verletzte, und mehr als zwei Millionen Menschen sind auf der Flucht.
Aber der Krieg richtet sich nicht nur gegen die Huthis, sondern auch gegen das reiche, jahrtausendealte historische und kulturelle Erbe des Jemen. Luftangriffe, Bomben, Straßenkrieg und die im Zuge dessen entfesselten Plünderungen haben bereits immense Zerstörungen angerichtet, vor allem an drei Orten, die zum UNESCO-Weltkulturerbe gehören: die Altstadt von Sanaa sowie die antiken Städte Zabid im Westen und Schibam im Hadramaut-Tal im Osten des Landes.
Noch schlimmer ist, daß die Koalition sogar Orte angreift, die militärisch bedeutungslos sind, wie den antiken Marib-Damm, die uralte Stadt Barakisch und das Regionalmuseum von Dhamar, was die These bestätigt, daß hier bewußt die Kultur eines ganzen Volkes ausgelöscht werden soll. Ein einziger Bombenangriff genügte, um sämtliche 12.500 Funde im Museum von Dhamar zu zerstören, wie Iris Gerlach vom Deutschen Archäologischen Institut erklärte. Darunter waren Gegenstände aus dem Königreich Himyar (275-571), Hunderte Inschriften auf Sabäisch, der Sprache des Königreiches von Saba (800 v.Chr.), und eine Sammlung aus der islamischen Periode. Alles spricht dafür, daß die sunnitischen Saudis alles tun wollen, um die Huthis, die Anhänger des schiitischen Zaidismus sind, auszurotten. Tatsächlich ist das erklärte Ziel des saudischen Krieges, „die Huthis auszurotten und dem abgetretenen Präsidenten Mansur Hadi zurück zur Macht zu verhelfen“.
Um vor dieser Gefahr für das historische Erbe, die in der breiteren Öffentlichkeit meist völlig ignoriert wird, zu warnen, beschloß Féron zusammen mit der Wissenschaftlerin Anne Regourd vom französischen Forschungszentrum CNRS (Centre national de la Recherche Scientifique) und der Universität Kopenhagen, die besten Spezialisten für das historische Erbe Jemens in den Bereichen Architektur, Archäologie, Archive, Manuskripte und Musik am Sitz der Nationalversammlung im Palais Bourbon zu versammeln.
Die Kriegskoalition hat für ihr Verhalten keine Entschuldigung. Die Archäologen Sabina Antonini aus Italien und Jérémie Schiettecatte aus Frankreich haben gemeinsam mit Iris Gerlach für die UNESCO eine Liste von 50 archäologischen und historischen Stätten im Jemen erstellt, die vorrangig zu schützen sind, und diese Liste wurde der Koalition im Juni 2015 übermittelt.
Wir können hier aus Platzgründen nicht alle wissenswerten Informationen wiedergeben, die auf dem Kolloquium präsentiert wurden, sondern konzentrieren uns vor allem auf die Zerstörung des architektonischen und archäologischen Erbes, in der Hoffnung, daß die Öffentlichkeit auf diese schönen Bilder besonders reagiert.
Wir danken insbesondere Herrn Paul Bonnenfant, der dafür die Fotografien, die er in den Jahren 1975-2004 selbst aufgenommen hat, zur Verfügung gestellt hat.
Paul Bonnenfant, Wissenschaftler am CNRS, nahm zu Beginn der ersten Sitzung die Teilnehmer des Kolloquiums auf „eine Reise auf den Spuren von Krieg und Zerstörung des architektonischen Erbes“ von Norden nach Süden im Jemen (Abbildung 1) mit. Bonnenfant nahm kein Blatt vor den Mund. Er verurteilte scharf, daß die sieben reichsten Länder der Welt einen Krieg gegen eines der ärmsten führen (Jemen steht auf der Liste der Länder nach der Einkommensstatistik an 157. Stelle); daß Frankreich Saudi-Arabien, „einer der gewalttätigsten Diktaturen der Welt“, große Mengen an Waffen verkauft; und daß der saudische Prinz Bin Salman mit der französischen Medaille der Ehrenlegion ausgezeichnet wurde. All dies sei „nicht allzu moralisch“.
Er begann seine Präsentation mit der Stadt Saada im Norden, einer Bastion der Huthis, die von den Saudis ganz besonders mißhandelt wurde. Die 1200 Jahre alte Al-Hadi-Moschee (Abbildung 2) wurde durch Luftangriffe beschädigt, tausend Jahre alte Häuser aus Stampferde und jahrhundertealte Minarette wurden zerstört. Dann sprach er über Zafar, die ehemalige Hauptstadt des Reichs der Himyaren (110 v.-525 n.Chr.) und zweitgrößte archäologische Stätte des Landes nach Marib, die ebenfalls aus der Luft bombardiert wurde.
Dann folgte das herrliche Sanaa (Abbildung 3), Jemens Hauptstadt und eine der drei Stätten im Jemen, die von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurden. 5000 der 9000 schönen, mehrstöckigen Häuser im Altstadtviertel Al-Kasimi (Abbildung 4) aus Jemens Glanzzeit im 7. und 8. Jahrhundert erlitten durch Luftangriffe beträchtliche Schäden.
Weiter: Radaa mit seiner Madrasa (Islamschule) aus dem 16. Jahrhundert und den umgebenden Kuppeln (Abbildung 5); Dschibla mit den berühmten Moschee- und Palastgebäuden der Zaiditen-Königin Arwa bint Ahmad (Arwa al-Sulayhi); die auf einem Berg in 1400 Meter Höhe erbaute Stadt Taiz (Abbildung 6).
Da sie in den letzten 15 Monaten im Mittelpunkt der Kämpfe stand, wurde die Stadt stark zerstört. Die Festung Al-Kahira (Kairo) aus dem Mittelalter wurde bombardiert, das Museum zerstört. Den Einwohnern fehlt es an allem: Krankenhäuser, Wasser, Nahrung. Auch etlichen weiteren herausragenden historischen Stätten in Taiz droht die Zerstörung durch den Krieg (Abbildungen 7-9).
Dann folgte Zabid, die zweite Stadt mit Status als Weltkulturerbe der Menschheit. Als ehemalige Hauptstadt des Jemen vom 8. bis zum 15. Jahrhundert war Zabid besonders bedeutsam durch seine islamische Universität und die Pracht der zivilen und militärischen Gebäude und kunstvollen Stadtplanung. Abbildung 10 zeigt ein Mausoleum nahe der Stadt.
Schließlich die alte Festungsstadt Schibam, die dritte Stätte im Weltkulturerbe, mit ihren siebenstöckigen Ziegelhäusern, erbaut auf dem Felsenboden des Hadramaut-Tales. Die eindrucksvollen Strukturen tragen wegen ihrer Turmbauweise auch den Spitznamen „Manhattan der Wüste“ (Abbildung 11)
Iris Gerlach, Leiterin der Zweigstelle des Deutschen Archäologischen Instituts in Sanaa, eröffnete den zweiten Teil des Kolloquiums. In ihrer Rede „Das vergessene Arabia Felix“ schilderte sie ausführlich das archäologische Erbe des Königreichs Saba (Ende des 2. Jahrtausends v.Chr. bis 116 n.Chr.), das heute durch den Krieg gefährdet ist.
Sie verurteilte die Luftangriffe gegen das erstaunlichste technische Bauwerk dieser Ära, den großen Staudamm von Marib (Abb. 12, 13). Dieser war entscheidend für die wirtschaftliche Blüte des weiten Königreichs von Saba, das sich vom heutigen Jemen an der Küste des Roten Meeres nach Saudi-Arabien und bis nach Äthiopien, Eritrea und Dschibuti erstreckte. Das Land war nicht isoliert, sondern eingebunden in die florierende Seidenstraße vom Mittelmeer zum Indischen Ozean und nach China. Gerlach erläuterte:
„Mit Hilfe hochentwickelter Bewässerungsanlagen konnte Marib die Wüste in fruchtbares, üppiges Land verwandeln, und dies trug dazu bei, diese größte künstliche Oase der antiken Welt mehr als tausend Jahre lang zu erhalten. Als wichtige Kreuzung arabischer Handelsstraßen organisierte und beherrschte Saba insbesondere den Fernhandel mit Parfüm, Weihrauch und Myrrhen. Diese im Mittelmeerraum und Mesopotamien hochbegehrten Produkte trugen den arabischen Königreichen des alten Südens enorme Gewinne ein, und Saba war eines der mächtigsten und einflußreichsten unter ihnen. Die Einnahmen wurden dann unter anderem in die Ausarbeitung von Bauprogrammen für die städtischen Zentren, Heiligtümer, Paläste und auch wasserwirtschaftliche Anlagen investiert.
Das alte Marib, die Hauptstadt dieses Königreiches, war ein 94 Hektar umfassendes städtisches Zentrum, umgeben von Mauern, die herrliche Tempel, Paläste, Wohnviertel, Rastplätze für Karawanen und prächtige Gärten schützten. Die Gärten und Felder wurden über ein gewaltiges Netz von Kanälen bewässert, das sich aus dem großen Damm von Marib speiste. Diese Strukturen sind eine wahre Meisterleistung der Ingenieurskunst. Die Bewässerung der Felder wurde durch die Monsune möglich, die zweimal im Jahr in den Bergen Jemens niedergingen. Die Niederschläge wurden in den ,Wadis’ gesammelt, welche die benachbarte Wüste massiv überschwemmten. Die gewaltigen Wassermassen, die völlig unkontrolliert aus der Bergregion in die Wüste strömten, wurden bei Marib durch einen Damm aufgehalten, der aus zwei massiven Steinwänden bestand.“ (Der Damm war anfangs 4 Meter, später bis zu 14 Meter hoch und 600 Meter lang.) „Diese Barriere bändigte den Wasserfluß und leitete ihn in Schleusen um: eine Schleuse am Nordhang, die andere am Südhang.“
Der dritte Teil des Kolloquiums befaßte sich mit dem Zustand der Archive, Handschriften und sogar dem musikalischen Erbe Jemens. Anne Regourd, Herausgeberin der Zeitschrift Chronicles of Yemen’s Manuscripts (CYM), erläuterte die Fülle der historischen Handschriften und mahnte, diese vor der Zerstörung durch den Krieg zu bewahren.
In einem zusammen mit David Hollenberg verfaßten Artikel in CMY (Januar 2016) beschreiben die beiden Spezialisten die Ergebnisse ihrer Untersuchung über die Inhalte dieser Handschriftensammlung, was zu einem besseren Verständnis der tieferen Ursachen des gegenwärtigen Krieges zwischen dem sunnitischen Saudi-Arabien und den Huthis als zaidischen Schiiten beiträgt.
Im Vergleich mit den Schriften in anderen muslimischen Ländern sind die Handschriften in Jemen außergewöhnlich reichhaltig in den Bereichen Recht, dialektische Theologie, Grammatik, Geschichte, Belletristik, Wissenschaften, Koranexegese und Frömmigkeit. Sie sind Zeugnis eines klassischen Islam, der vom 11. bis zum 20. Jahrhundert eine „rationalistischere“ dialektische Theologie entwickelte, welche nicht auf wortwörtlicher Textauslegung beruhte, sondern auf einem notwendigen Beitrag von Intellekt (Vernunft), Philosophie und Logik. Die Bedeutung dieser Handschriften reicht über Jemen hinaus, betonen die beiden Forscher, sie erstreckt sich auch auf eine kulturelle Region in Form eines Halbmondes, mit Iran, Irak, Bilad al-Sam und dem zaiditischen Jemen.
Im Jemen werden bereits intensive Anstrengungen unternommen, um diese Handschriften, die sich im Besitz vieler verschiedener Privatpersonen befinden, zu schützen, beteiligt ist hieran ein Netzwerk von Nichtregierungsorganisationen und gemeinnützigen Organisationen vor Ort, die dazu besonders motiviert sind. Die Forscher, die auf dem Kolloquium sprachen, unterstrichen, daß die Bevölkerung dieses armen Landes um die Bedeutung ihres kulturellen Erbes weiß und große Anstrengungen unternimmt, um es zu schützen. Aber der Mangel an Geldmitteln ist erschütternd, und die Autoren fordern deshalb internationale Unterstützung für diese lokalen Institutionen.
Obwohl die Zerstörung des kulturellen und historischen Erbes im Jemen häufig verurteilt wurde, gibt es noch keinen allgemeinen Aufschrei, wie er auf ähnliche Angriffe in Syrien, Iran oder Niger erfolgte. Schon am vergangenen 7. September 2015 hatte der Abgeordnete Féron in einer schriftlichen Anfrage an den damaligen Kultusminister die „unglaubliche Tatenlosigkeit“ der internationalen Gemeinschaft angeprangert. Er hatte den Minister aufgerufen, eine öffentliche Erklärung abzugeben, damit Saudi-Arabien aufhört, „das jahrtausendealte Gedächtnis dieses Teils der Welt auszulöschen“, denn wie George Orwell gesagt habe: „Das wirksamste Mittel, ein Volk zu vernichten, besteht darin, das Wissen seiner eigenen Geschichte zu negieren und auszulöschen.“
Die Regierungen stellen sich bis heute immer noch taub gegenüber diesen Aufrufen. Wir rufen alle Bürger auf, so dringlich wie möglich die Aufmerksamkeit ihrer Volksvertreter auf allen Ebenen auf dieses Problem zu lenken und die Mitwirkung ihrer Länder an diesem Völkermord zu stoppen.