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Am 30. November 1989 wurde der Chef der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, ermordet. Wenige Tage später, am 4. Dezember, wollte er in New York in einer Rede Vorschläge unterbreiten, deren Verwirklichung die Weltgeschichte verändert hätte.
Es folgen wichtige Auszüge aus dieser Rede, die er nicht mehr halten konnte.
(...) Ich habe, gewissermaßen als Leitmotiv, für meine Ausführungen die Integration gewählt; darunter verstehe ich die fundamentale Umwandlung Europas und deren wirtschaftliche Folgen. Diese Umwandlung hat zwei miteinander verflochtene Merkmale, nämlich die wirtschaftliche und politische Integration im Westen und die Reform in Osteuropa...
Gegenwärtig erleben wir eine Reihe von Entwicklungen in Osteuropa, die einen eindeutigen Bruch mit der Vergangenheit darstellen. Die Ereignisse überstürzen sich in atemberaubendem Tempo... Ungarn, Polen, Tschechoslowaken und Ostdeutsche stehen auf und verlangen Freiheit - Freiheit der Meinungsäußerung, Freiheit der Rede, Reisefreiheit, Selbstbestimmung und freie Wahlen. Kurz: Sie verlangen Demokratie, sie verlangen „Regierung des Volkes, durch das Volk, für das Volk“. Gleichzeitig erwarten sie einen Lebensstandard, der ihnen bislang vorenthalten wurde. Sie haben das Desaster der sozialistischen Planwirtschaft satt, die potentiell wohlhabende Gesellschaften an den Rand des Elends gebracht hat...
Ich möchte etwas näher auf die besondere Situation in Polen eingehen. Zu den offensichtlichen Unzulänglichkeiten in der Organisation seiner Binnenwirtschaft muß sich Polen mit einer außergewöhnliche großen Auslandsverschuldung von 40 Milliarden Dollar herumschlagen. Damit innere Reformen überhaupt Aussicht auf Erfolg haben, muß das Schuldenproblem sofort gelöst werden. Nachdem sich die Banken in der Vergangenheit zu regelmäßigen Umschuldungen bereitgefunden haben, kommt es jetzt auf ein Entgegenkommen der öffentlichen Gläubiger im Pariser Club an, auf die rund zwei Drittel der Auslandsschulden entfallen. Soll es zu einer dauerhaften Lösung kommen, muß man über die bisherigen Ansätze hinausgehen und Schulden- und Schuldendienstreduktionen in die Strategie miteinbeziehen.
Aber auch hier kann eine großzügige Schuldenregelung allein die wirtschaftlichen Probleme nicht lösen. Polen ist gewiß auf materielle westliche Unterstützung angewiesen, die aber nur dann einen sinnvollen Beitrag zur Reformpolitik leisten kann, wenn sie so zweckgerecht und effizient eingesetzt wird, wie das in der Nachkriegszeit mit den Marshallplan-Geldern im zerstörten Westeuropa geschah...
Die unerläßliche Hilfe von außen sollte, so meine ich, von einem zeitlich begrenzten Programm dahingehend ergänzt werden, daß die ausländischen Geber bei der Verwendung der Gelder auch etwas zu sagen haben. So soll sichergestellt werden, daß die neuen Kredite in vielversprechende Projekte fließen. Deshalb ist es empfehlenswert, wenn die Ausfuhrbürgschaften, die die Bundesregierung ausweiten will, überwiegend projektgebunden sind. Tatsächlich war es ein polnischer Vorschlag, daß ein Expertenteam aus beiden Ländern in Frage kommende Projekte untersucht, um sicherzustellen, daß die kostspieligen Fehler der 70er Jahre vermieden werden.
In diesem Zusammenhang schlug ich auf der diesjährigen Jahrestagung der Weltbank und des IWF in Washington die Einrichtung einer Entwicklungsbank vor Ort vor, d.h. in Warschau. Ihre Aufgabe sollte es sein, die materielle Hilfe zu bündeln und nach strengen Vergaberichtlinien einzusetzen. Ich könnte mir durchaus denken, daß eine solche Institution nach dem Grundmuster der deutschen Kreditanstalt für Wiederaufbau - deren Ursprung auf den Marshall-Plan zurückgeht - errichtet werden kann. Der Vorstand dieser neuen Institution sollte mehrheitlich aus Vertretern der Geberländer besetzt werden. Diese polnische „Anstalt für wirtschaftliche Erneuerung“ (AWE) hätte zweierlei Aufgaben: Sie sollte helfen und kontrollieren. Da beides nur in enger Zusammenarbeit mit den polnischen Behörden sowie Wirtschaft und Industrie geschehen kann, ist ihre enge Einbindung in den dortigen ökonomischen Gesamtzusammenhang und -entwicklungsprozeß unverzichtbar. Diese Institution könnte „auf Zeit“ errichtet werden oder nach einer Übergangszeit gänzlich in polnische Verantwortung übergehen. Sie könnte einen wichtigen Beitrag zur Wirtschaftsreform leisten, indem sie westliche „Hilfe zur Selbsthilfe“ sinnvoll kanalisiert...
(Zitiert nach den „Auszügen aus Presseartikeln Nr. 97“ der Deutschen Bundesbank, die am 8. Dezember 1989 in Frankfurt erschienen sind und sich auf den am gleichen Tag in „Die Zeit“ erschienenen Text beziehen, einer Übersetzung des autorisierten englischen Textes.)