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Neue Solidarität
Nr. 15, 11. April 2012

Generationen der Musik

Von Raymond Björling

Der schwedische Tenor Raymond Björling sprach bei der Berliner Konferenz des Schiller-Instituts über die Gesangstradition in seiner Familie und über seinen Großvater Jussi Björling. Die Video- und Audioaufnahme der Rede im englischen Original mit den drei Liedern, die Raymond Björling im Rahmen des Vortrags gesungen hat, finden Sie auf der Internetseite des Schiller-Instituts.

Hallo. Es ist schön, hier in Berlin zu sein, es bedeutet mir viel. Als ich sieben Jahre alt war, zogen wir nach Berlin - meine Mutter, meine Schwester und mein Vater. Mein Vater war ein guter Opernsänger und er war an der Deutschen Oper engagiert, hier in Berlin, wo wir in der Königsallee lebten, nahe dem großen Wald, dem Grunewald. Es war eine phantastische Zeit, wir kamen direkt aus Amerika, wo ich 1956 geboren wurde.

Mein Vater hatte sein Debüt 1962 in Göteborg in Schweden, wo er als Pinkerton in Madame Butterfly auftrat, und dann wurde er engagiert, um hierher zu kommen, wo ich die deutsch-amerikanische JFK-Schule besuchte und lernte, die Sprache zu sprechen. Das ist einer der Gründe, warum ich heute wieder hier bin.

Ulf [Sandmark, der ebenfalls bei der Konferenz sprach] bat mich, über das Singen und meinen Hintergrund zu sprechen, aber es ist interessant für mich zu erfahren, daß die LaRouche-Bewegung die Musik und die Kunst in ihre politische Arbeit integriert - das ist phantastisch, denn Musik und Kunst sind äußerst wichtig für den Menschen, mehr, als wir eigentlich glauben.

Es war die Hauptaufgabe meiner Familie. Mein Großvater hieß Jussi Björling, und er galt zu seiner Zeit als der größte Tenor der Welt. Aber diese Arbeit begann eigentlich schon vor Jussi. Sein Vater, David, war ein großartiger Sänger, und ich möchte Ihnen hier einige Bilder zeigen. (Abb. 1)

Bild: Schiller-Institut/Christopher Lewis
Abb. 1: Raymond Björling berichtet über seinen Urgroßvater David und dessen Söhne Jussi, Gösta und Olle

Der ältere Mann auf diesem Bild ist David, Jussis Vater, ein ganz besonderer Mensch. Er wollte schon sehr früh singen und er war sehr stur. Er war erst 15 oder 16 Jahre alt, als er begann, professionell in Chören zu singen, und er wollte eine Gesangsschule besuchen. Sein Vater hatte damit ein Problem, weil er zu der Zeit einen Beruf erlernen mußte, und in unserer Familie waren alle Schmied und das sollte auch David lernen - gegen seinen Willen. Deshalb wußte sein Vater nicht recht, was er mit ihm anstellen sollte, denn ohne eine Ausbildung würde der Sohn nicht in der Lage sein, sich selbst oder gar eine Familie zu ernähren.

Sein Vater war darüber so erbost, daß er ihn zu einem Freund schickte, einem sehr harten Kerl, der ihm sagte, er werde schon einen Mann aus dem Knaben machen.

Aber nach einem Monat schickte er David zurück und sagte: „Ich kann nichts mit ihm anfangen, er ist zu stur! Er will nur singen und musizieren.“

Deshalb verließ er seine Familie und ging nach Stockholm, wo er anfing Musik zu studieren. Er war ein kluger Mann: Jedesmal, wenn der König öffentlich auftrat, war auch David da und sang. Der damalige schwedische König, Oskar II., wollte selbst Tenor werden, und weil er von Davids Gesang beeindruckt war, bezahlte er ihm schließlich aus seiner Tasche den Unterricht am Konservatorium in Wien.

Dort studierte er, machte einen guten Abschluß und kam dann zurück nach Schweden, um sein Debüt in Göteborg zu geben, unmittelbar vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, als Pinkerton in Madame Butterfly - wie auch mein Vater nach ihm. Er war ein großer Sänger, und ich habe sehr gute Kritiken über ihn gelesen. Aber als der Dirigent ihm Anweisungen geben wollte, weigerte er sich standhaft, sodaß seine Opernkarriere schon bald danach endete, weil er als zu schwierig galt, um mit ihm zu arbeiten.

Stattdessen fand er Arbeit als Feiler und baute Maschinen, mit denen man die Milch entrahmt, bis er genug davon hatte und eines Tages verschwand.

Niemand wußte, wohin er gegangen war, nach einigen Jahren wurde deshalb schon beinahe seine Sterbeurkunde ausgestellt. Er hatte ein Schiff nach Amerika bestiegen und hatte dort angefangen zu singen, und verdiente sich damit seinen Lebensunterhalt, in Restaurants und ähnlichem. Dort beeindruckte er jemanden, der ihn an die Schule der Metropolitan-Oper brachte, wo er schließlich von Caruso persönlich unterrichtet wurde. Aber als Caruso ihm Vorschriften machen wollte, war er wieder sehr stur und sagte: Nein, ich will das auf meine Weise singen. Darüber gab es einen solchen Streit, daß Caruso ihm eine Ohrfeige gab, und David haute zurück, packte seine Koffer und ging zurück nach Schweden. Erst da erfuhr man in Schweden, daß er in New York gewesen war.

Er ging dann zurück in den Norden, nach Borlänge und Dalarna, und traf dort eine wunderschöne Frau, die schönste aller Frauen namens Esther Sund. Sie sang in einem Chor, in dem sie sich trafen, sie verliebten sich, und dann fingen sie an, alle diese Buben zu produzieren. Der Junge hier rechts (Olle Björling) wurde als erster geboren und hatte eine phantastische Stimme. Der Junge hier links unten war Jussi. Hier können Sie meinen Großvater sehen, und dieser hochgewachsene Knabe war Gösta, der jüngste von ihnen. Sie hatten vier Söhne, aber ihre Mutter starb schon bei der Geburt des vierten, Karl, an Tuberkulose.

David blieben also diese drei Knaben. Er begann, mit ihnen zu singen, schon in sehr frühem Alter - mit vier oder fünf Jahren. Damals mußte man einen Beruf haben, doch David hatte keinen Beruf. Aber er konnte singen, und weil er ein kluger Mann war, nahm er diese Buben und lehrte sie singen und gab dann mit ihnen Konzerte. Diese Konstellation nannte man das Björling-Männer-Quartett, sie sangen überall, und die kleinen Buben, die auf Kisten sangen, damit sie höher waren, brachten viele Damen zum Weinen, ihre Auftritte galten als phantastisch. David trat mit ihnen auf, aber es gibt leider keine Aufnahmen von ihnen - es heißt, sie hatten phantastische Stimmen. Die Jungen wurden älter, und später nahm er sie mit nach Amerika, wo sie 18 Monate lang durch das ganze Land reisten.

In den schwedischen und skandinavischen Siedlungen in Nordamerika kannten viele Menschen die beliebten schwedischen Lieder. Sie wurden so berühmt, daß man sie vielleicht mit der Jackson Family und Michael Jackson vergleichen kann.

Übrigens verdiente David Björling, wie bei der Jackson Family, sein Geld als Preisboxer, was damals möglich war. Auch Michael Jacksons Vater hat das getan.

Es war eine ganz bemerkenswerte Familie, in der alle sangen.

Karl, der kleinste, begann später seine Gesangskarriere, mein Vater war Opernsänger, meine Tante war Opernsängerin - ich denke, es waren neun Mitglieder unserer Familie, die professionell gesungen haben. Musik bedeutete unserer Familie sehr viel, und sie gab uns auch, mit dem wenigen Geld, das sie uns bot, die Chance, zu überleben.

Musik ist sehr, sehr wichtig, und es ist traurig zu sehen, daß die moderne Kultur, die Popkultur etc., bloß einen Profit machen will und alles simplifiziert, anstatt zu versuchen, die Kunst zu finden, die zu unserem Herzen spricht und uns etwas gibt. Deshalb ist es phantastisch, zu sehen, wie Sie die Kunst und die Musik in Ihrer Bewegung nutzen.

Ein Mann, der eines der schönsten Lieder über die Kunst und die Musik geschrieben hat, ist Franz Schubert: An die Musik, und das möchte ich Ihnen gerne aufführen.

* * *

Sie sehen also, daß die Musik sehr wichtig ist, für uns alle. Natürlich ist sie sehr wichtig für uns, die sie singen und aufführen. Aber auch für die jungen Menschen, die heute heranwachsen. Denken Sie nur daran, wie wichtig Musik sein kann, um Menschen zu trösten.

Die Musik ist eine universelle Sprache, und wenn man Musik kennt, kann man mit jedem auf der ganzen Welt sprechen, der Musik versteht. Das ist phantastisch, und es sollte ein Teil der Politik auf dieser Welt sein, denn sie kann das Eis brechen. Das Problem der Welt ist, daß wir uns gegenseitig nicht verstehen. Würden wir alle die gleiche Sprache sprechen, dann wäre es leichter. Das ist das gleiche bei diesen Jungen - sie hatten keine Ausbildung, aber sie konnten zusammen auftreten. Sie konnten überall auf der Welt hingehen, und die Menschen konnten sie verstehen. Alle diese Jungen wurden große Sänger. Sie haben natürlich von den „drei Tenören“ gehört, aber diese drei Jungen hätten tatsächlich diese drei Tenöre sein können.

Es gibt etwas zu sagen über die Farbe ihrer Stimmen. Ihre Stimmen unterschieden sich nur in der Hinsicht, daß Olle, der älteste (der größte auf diesem Bild) - die Farbe seiner Stimme war Gold, sie klang wie Gold; Gösta klang wie Silber, und Jussi hatte einen Klang wie Stahl. Das unterschied sie im Charakter, aber sonst war es schwer, sie zu unterscheiden.

Das kam von ihrem Vater, der diese klare Vorstellung hatte, wie man singen sollte, das gab ihnen Hoffnung fürs Leben, und es bedeutete, daß sie durch die Welt reisen und durch ihre Musik kommunizieren konnten.

Als er aufwuchs, fing Jussi schon sehr jung an; er war erst 17, als er an die Opernschule in Stockholm kam. Das ist ein sehr junges Alter, und deshalb ließ ihn der Leiter der Schule, namens John Forsell, vorsingen, weil er wegen seines Alters Bedenken hatte. Nach dem Vorsingen ging Jussi zu Forsell und der schwieg, er sagte kein Wort. Nach einigen Minuten sah er von seinem Schreibtisch auf und sagte: „Herr Björling, ich kann nichts für Sie tun!“ Jussi glaubte schon, er habe schlecht vorgesungen, aber dann fuhr Forsell fort: „Nein, ich kann nichts für Sie tun. Gott hat schon alles getan.“

Er wurde also in die Opernschule aufgenommen, was eine harte Schule für ihn war, wegen der harten Konkurrenz, aber die Qualität seiner Stimme war so gut, daß niemand ihn schikanierte. Eines Tages kam er zu spät zu einer Chorprobe in einer großen Kirche, und der Chorleiter sagte ihm, er könne ihn nicht brauchen, er solle nach hause gehen und niemals wiederkehren. Er ging dann hinaus und schlug die Türe zu, aber dann öffnete er die Tür wieder und sagte: „Okay, ich gehe. Aber versuchen Sie mal, einen besseren Tenor zu finden, wenn Sie können.“ Er wußte also, wie gut er war, und seine Stimme brachte ihn bis in die Metropolitan-Oper.

Bild: Jussi Björling Sällskapet
Abb. 2: Jussi Björling in der Rolle des Faust an der Metropolitan Opera, 1939

Das war natürlich eine großartige Sache, denn Sie wissen ja: Wenn man zur Metropolitan geht, dann geht man nicht bloß zur Metropolitan, sondern man reist durch alle großen Opernhäuser der USA. Auf diese Weise wurde er also weltberühmt.

Während des Krieges war er wieder in Schweden, und er konnte nicht zurückgehen [zur Metropolitan], weil er Angst davor hatte, daß das Schiff bei der Überfahrt angegriffen wird. Er blieb also in Europa und reiste überall herum. Nach dem Krieg sang er dann auch hier in Berlin, und er wurde ein Star in Europa.

Es gab da einen jungen Mann in Italien, der hieß Luciano Pavarotti, der hörte sich eine der alten Schallplatten von Jussi Björling an und das inspirierte ihn, er wollte so gut werden wie Jussi. Ich habe ihn einmal getroffen und er hat mir das gesagt, er wäre sonst Profifußballer geworden. Es gibt Bilder von ihm, wo man ihn sehen kann, wie er zum Fußballspielen angezogen ist - groß und sehr schlank. Aber die Oper gewann überhand, und da wurde er ein bißchen korpulenter.

Alles das hat natürlich auch auf mein Leben und auf mich selbst als Sänger abgefärbt. Ich wollte eigentlich gar nicht singen, denn ich wuchs auf dem Rücksitz eines Autos auf, neben meiner Mutter; wir reisten überall herum, und vorne saß mein Vater und neben ihm der Pianist. Das haben wir einige Jahre lang so gemacht, und das war für mich als Jungen sehr langweilig. Ich wollte, wenn ich erwachsen war, kein solches Leben führen, wo man immer dasitzen mußte bei den Konzerten und über nichts lachen durfte, weil es eine ernste Sache ist. Und ich beschloß, nicht mit dem Singen anzufangen.

Ich habe dann nach der Schule versucht, etwas anderes anzufangen - ich versuchte mich als Verkäufer und hatte viele Jobs, bis mein Vater eines Tages etwas nervös darüber wurde, so daß er mich eines Tages bei den Schultern packte und mir ins Auge blickte und sagte: „Bitte, versuche doch einmal zu singen.“ Ich habe mich überreden lassen, und von da an konnte ich nicht mehr aufhören.

So ist das, wenn man mit der Musik einmal anfängt, sie ergreift einen, und wenn man einmal drin ist, kann man nicht mehr hinaus. So bin ich hier, ich werde auch weiter singen. Niemand wird mich für etwas anderes einstellen, weil ich nichts kann außer singen, aber es ist eine phantastische Welt.

Ich möchte ein kleines schwedisches Lied für Sie singen, daß man mit An die Musik vergleichen kann. Es ist von einem schwedischen Komponisten namens Carl Leopold Sjöberg, und das Lied heißt Tonerna, das heißt Die Töne. Im Leben haben wir viele Gedanken, die uns im Kopf herumgehen und uns oft verwirren, heißt es im Text, aber die Töne, die Musik tröstet und heilt.

* * *

Hier ist noch ein Bild von Jussi. Ich bin sehr stolz auf ihn, stolz, sein Enkel zu sein. Hier ist mein Vater, Rolf Björling, als er hier in Berlin sang. Ich wünschte, ich hätte länger oder sogar auf Dauer hierbleiben können, aber die Zeiten waren hart und mein Vater hatte eine Arbeit in Schweden gefunden, weil er und meine Mutter sich nach Schweden und nach ihrer Familie sehnten. Wir gingen 1965 zurück. Meine Schwester, die als erste zu singen begann, wurde auf eine Musikschule geschickt - ich nicht, weil sie dachten, ich sei noch zu jung. Schließlich gaben meine Schwester und ich zusammen ein Konzert, bei dem sie aber so nervös war, daß sie schließlich das Singen ganz aufgab, obwohl sie eine schöne Stimme hatte. Sie wurde statt dessen Innendekorateurin und arbeitet auf diese Weise in Schweden mit der Kunst.

Meine Mutter war auch eine sehr gute Malerin, die Kunst liegt also auch in unserer Familie. Kunst ist heutzutage nicht leicht, denn die meisten Leute betrachten das nur als Hobby, was wirklich traurig ist, weil es die Menschen zurückhält. Es gibt nicht genug Geld für Kunst und Musik, wenn man nicht gerade ein großer Star ist, aber das sind nur wenige. Heute nennt man jeden einen Star - ein Fußballstar, ein Starkoch, jeder ist heutzutage ein Star, aber um wirklich groß in dieser Art von Karrieren zu werden, muß man sehr hart arbeiten. Vielen Künstlern fällt es schwer, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Das ist etwas, was wir ändern müssen. Wir müssen die Kunst als etwas Großes in unserem Leben betrachten, etwas, was uns etwas bedeutet. Überall wo wir hinschauen, steckt ein Künstler dahinter, und wir neigen dazu, das zu vergessen.

Dies ist meine künstlerische Familie, und sie ist vier Generationen lang rund um die Welt gereist, um zu singen und aufzutreten, wofür ich sehr dankbar bin. Und ich bin sehr froh, daß Sie die Kunst und die Musik in Ihre Bewegung aufnehmen.

Zum Schluß, bevor ich gehe, möchte ich noch ein letztes Lied für Sie singen, eines, das immer zu meinen Lieblingsliedern gehörte, nämlich Ludwig van Beethovens Adelaide. Das ist dann mein letztes Wort für heute. Es war mir ein Vergnügen, zu Ihnen zu sprechen, und ich hoffe, daß wir uns wiedersehen.