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Neue Solidarität
Nr. 15, 11. April 2012

Ausbildung zum Singen, und Singen als Bildung

Von Antonella Banaudi

Die italienische Sopranistin Antonella Banaudi sprach bei der Berliner Konferenz des Schiller-Instituts am 26. Februar 2012 über Aspekte der Gesangsausbildung.

Der Titel, den ich meinen Ausführungen gegeben habe, lautet: „Ausbildung zum Singen, und Singen als Bildung“. Es wird wahrscheinlich eher ein freier Exkurs werden als eine ordentliche Reise - so wie jemand einmal gesagt hat: Von Musik zu reden, das ist so, als würde man Architektur tanzen.

Ich möchte an einige berühmte Worte erinnern, die inzwischen Teil unserer Kultur geworden sind und sich auch ohne eine bestimmte Religion verstanden lassen: „Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott.“ Das Wort bedeutet hier nicht „Wort“ im engeren Sinne, wie wir es heute verstehen. Das Wort ist Klang, die Schwingung alles Lebendigen, und damit bedeutet es Leben und Schöpfung, und Schöpfung ist die Sprache des Schöpfers. Der Logos ist der Ursprung aller Formen. Das Wort ist die Gesamtkenntnis des Absoluten jenseits aller Erscheinungen. Das Wort ist das Wort Gottes, der den Dingen Namen gibt, sie sichtbar macht, das Prinzip, nach dem alle Menschen streben. Im Corpus Hermeticum sagt Thot-Hermes, wenn man seine Worte in eine andere Sprache übersetze, verlören sie ihre Bedeutung, weil nur die Rede in der Sprache der Väter die Bedeutung der Worte bewahre, denn die Qualität der Rede und der Klang der ägyptischen Sprache trügen die Energie der sprechenden Dinge in sich.

In der Hermetik wie in der hebräischen Welt und dann in der Kabbala sind die Klänge der Worte voll göttlicher und „magischer“ Energie.

Und im übrigen zieht das hermetische Denken auch Verbindungen zwischen dem „Pneuma“, was sowohl Geist als auch Atem, Logos oder Wort als schöpferisches Prinzip bedeutet, und den pythagoräischen Harmonien der Sphärenmusik.

Von einer Schrift der Bilder und Symbole, manchmal auch wiederholten graphischen Mustern kam der Mensch zu einer phonetischen Schrift, die immer noch die Kraft des bezeichneten Objektes erhält.

Ich würde einfach sagen, auch wenn wir uns weit von dem ursprünglichen Klang entfernt haben, können wir im Klang jedes Wortes immer noch ein Echo, einen Schatten der Idee aller Dinge hören. Das gelingt sogar durch den Filter verschiedener Sprachen und verschiedener emotionaler und historischer Erfahrungen, die uns mit dem Gegenstand des Wortes verbinden. Ich spreche hier nicht von der buchstäblichen Bedeutung des Wortes, zu der jeder von uns einen anderen emotionalen Bezug hat, sondern vom eigentlichen Klang des Wortes.

Ich erinnere mich, daß [Giuseppe] Ungaretti seine Gedichte mit großer Sprachgewalt rezitierte, daß er in seiner Rezitation die Zeit dehnte, wodurch der Gegenstand oder die Handlung, die wachgerufen wurden, eine starke Wirkung auf den Hörer hatten. Aber Ungaretti selbst sagte, daß Poesie Poesie ist, weil sie ein Geheimnis enthält.

Nun will ich mich hier in keine unproduktive Diskussion einlassen, wo Musik und Worte darüber streiten, wer von beiden dem anderen dienen müsse. Ich denke, ein musikalisches Genie ist jemand, der in der Lage ist, die Seele der Worthülsen aufzuspüren, jemand, der das Geheimnis der Poesie in eine klingende Architektur übersetzen kann, und es spielt dabei keine Rolle, wie das Wort als menschliche Sprache behandelt wird, ob es aufgespalten, erweitert oder sogar zerrissen wird, weit von unserem üblichen Sprachgebrauch entfernt.

Ich möchte noch einen Gedanken hinzufügen, über den es sich vielleicht nachzudenken lohnt: Die Musik ist der Vermittler zwischen Wort und Prinzip. Worte ohne Musik sind keine Poesie. Musik ohne Poesie ist kein Geheimnis, kein Logos.

Wie erhalte ich aber Zugang zu diesem Zauber? Wie kann ich das Geheimnis der Musik, die Architektur der Schöpfung erleben?

Die Kunst verbindet uns mit der Schöpfung

Jede Beschäftigung damit ist ein Prozeß, ein Vorsatz ständiger Verbesserung. Die Kunst ist indes ein Prozeß, der darauf abzielt, sich selbst zu verbessern, ohne sich von der Realität zu lösen. Die Kunst darf nicht dazu dienen, sich von der Realität abzukoppeln, um ein einsames Paradies steriler und vergänglicher Schönheit zu finden. Wer sich selbst verbessert, wird auch das verbessern, was ihn umgibt.

Es gibt keinen Unterschied zwischen Geist und Materie. Es gibt nur verschiedene Ebenen der Realitätswahrnehmung. Die Kunst kann die physische Realität und die transzendentale Realität miteinander verbinden. Die Kunst bringt uns mit dem Prinzip, mit dem als Vernunft und Verstand begriffenen Logos in Berührung - und was ist die Musik, wenn nicht Vernunft und Verstand? Sie verbindet uns mit dem, was Heraklit als Blitz oder Feuer im Sinne ständiger Schöpfung bezeichnet hat, Immanenz. Vor allem kann uns die Musik mit der Immanenz verbinden, der ewigen Seele, die sich selbst immer wieder neu hervorbringt.

Mit unserem Leben haben wir das Geschenk erhalten, durch Kunst und durch die Poesie der Kunst erleuchtet zu werden, d.h. die Bedeutung jenes kosmischen Atems zu erfahren, dessen Teil wir sind. Die Kunst bildet unsere Seele, das Wesen, das ständig genährt und neu geschaffen werden muß. Diese Suche nach Schönheit und Vernunft ist allein schon ein wunderschönes Abenteuer, und sie ist noch schöner, wenn man sie auf allen Ebenen mit anderen „Kunst-Abenteurern“ teilt.

Durch den Gesang erleben wir diese unschätzbare Erfahrung, wir sind dann Instrumente unserer selbst. Wir können den Klang jederzeit erzeugen, doch dazu müssen wir ihn unermüdlich wahrzunehmen lernen, geschickt und leuchtend, lebendig, aber auch schwarz, doch immer ganz. Nur durch die eigene Aufführung großer Musik oder das Hören klassischer Werke in Aufführungen großer Musiker können wir diesen anhaltenden Moment erleben, wie er sich in allem aufbaut und organisiert und in lebendiger Spannung zum Unendlichen führt. Erkennen Sie diesen Drang, das aberwitzige Streben nach Erfüllung, in jedem Augenblick neu erzeugt und gespeist, jeder Ton, jeder Klang und jede melodische Linie und Harmonie und Färbung dicht und gespannt, selbst in den Pausen, bis zum abschließenden Presto im vierten Satz der [Beethovenschen] 9. Sinfonie?

Wie kann man lernen, jeden Sekundenbruchteil so intensiv zu leben? Vielleicht ist das offensichtlich, aber man kann es durch Üben lernen, indem wir uns selbst mit Geduld und Methode ausbilden, unsere Konzentrationsfähigkeit verbessern, vom Standpunkt der Ästhetik, der Physiologie und des Ausdrucks unsere innere Vorstellungskraft in ständiger Suche nach dem Besten erhöhen, flexibel neue Wege erfinden und ausprobieren, alles im Hier und Jetzt in uns aufnehmen, uns gleichzeitig aber auf die Zukunft ausrichten, bereit, sich den nächsten Moment vorzustellen.

Die Bedeutung des Belcanto

Ich möchte nun zu einer praktischeren Ebene übergehen, denn ich möchte Fragen beantworten, die mir verschiedentlich gestellt wurden, und die vielleicht auch Sie haben.

Das Studium des Gesangs ist eine privilegierte Form der Ausbildung, denn der Gesang ist eine Kunstform und somit ein schöpferischer Prozeß. Er ist Teil der Musik und somit der Schwingungen des Prinzips; außerdem bin ich selbst das Instrument zur Übermittlung des Geheimnisses - zum Glück geben mir die großen Komponisten die Gelegenheit dazu.

Fangen wir also an, uns selbst auszubilden. Als erstes geben wir alle vorgefaßten Ideen über unsere eigene Stimme auf. (Die größten Entdeckungen wurden gerade deshalb gemacht, weil es den Wissenschaftlern gelang, die bisherigen Fortschritte zu „vergessen“ und sich nicht von ihnen beeinflussen zu lassen, um mutig und dreist vorgefaßte Meinungen in Frage zu stellen und ihre eigene Sicht der Welt zu erschaffen.)

Also fangen wir damit an, das auch in unserer eigenen kleinen Art zu tun! Wenn wir studieren, müssen wir völlig offen dafür sein, herauszufinden, was unsere wirkliche Stimme ist. Wenn man nur ein bestimmtes „Ergebnis“ anstrebt, beispielsweise die Lautstärke der Stimme, ohne sich um die übrigen Erfordernisse des Belcanto zu kümmern, kann dabei eine scheußliche Stimme herauskommen, die niemand hören will. Oder wenn man um jeden Preis nach Beweglichkeit strebt, macht uns dies oberflächlich und langweilig.

Ich erinnere mich noch, wie mich einmal eine junge Frau mit einer hellen Sopranstimme beeindrucken wollte, indem sie mir eine berühmte Arie extrem schnell vorsang. Was ich dann hörte, war ein Sopran, der viel mehr oberflächlich als leicht war. Wenn man mit Überschallgeschwindigkeit durch eine schöne Passage rast, bleiben nur kurze Farbblitze ohne jede Bedeutung in Erinnerung.

Achtung vor der eigenen Stimme bedeutet auch Achtung vor sich selbst. Die Einstellung, die wir zu unserer Stimme haben, ist ein Spiegelbild davon, wie wir mit uns selbst umgeben. Ich spreche hierbei nicht nur über den ästhetischen Aspekt der Stimme, ich spreche auch über die Persönlichkeit der Stimme und ihre künstlerische Wirkung - ihre Fähigkeit, in der ihr eigenen Sprache eine Vision, eine Idee, eine Bedeutung und ein Schöpfungsideal zu vermitteln, etwas, was über das Offenkundige hinausgeht.

Noch einmal zurück zur Überschallgeschwindigkeit... Meiner Meinung nach erreicht man in der Musik und in der Kunst überhaupt die besten Resultate, wenn man es langsam angeht, vor allem am Anfang. Das Malen beginnt mit dem Säubern des Pinselns, dem Vorbereiten der Leinwand, dem Mischen der Farben, dem Malen des Hintergrundes, einiger Engel, der Falten eines Gewandes. Wieviel Studium ist notwendig, um das Fleisch eines Gesichtes zu malen? Ein Auge? Läßt sich neben den Gesetzen der Proportion zwischen den Figuren durch das Studium des Lichtes ein Geheimnis ausdrücken, vielleicht auch durch eine geheime Lehre?

Ich spüre es, daß einige meiner Schüler anfangs überrascht sind darüber, wieviel Zeit ich auf das Studium der Vokale verwende. Es ist ein langsamer, ständiger Prozeß des Hörens, um das innere Ohr zu üben, um ständig das weniger Schöne auszuschließen und den weiteren Weg zu erhellen; in einem ständigen Versuchsprozeß beziehen wir uns stets auf das, was wir als schön empfunden haben, denn die Schönheit ist unsere Richtschnur. Am Anfang steht das Studium, und das wiederholt sich bei jedem neuen Stück, das man aufführen will.

Fast nichts in der Kunst wird theoretisch gelehrt. Wir können nur das lehren, ausprobieren und auswählen, was uns auf den besten und den richtigen Weg führt, nämlich jenen einzigen Weg, der eine innere Wahrheit ausdrückt. Ein großer Künstler ist jemand, der in der Lage ist, er selbst zu sein, wenn er an der Wahrheit, am Prinzip teilhat.

Deshalb glaube ich, daß das Studium des Gesangs keine Frage ästhetischer, sondern moralischer Entscheidungen ist, in dem Sinne, daß sich die Wahrheit mit dem Guten und der Schönheit verbindet.

Die tiefere Bedeutung ausdrücken

Durch das Studium der Vokale mit dem Studenten und durch den Studenten selbst finden wir eine ausgewogene Position, um selbst in den dunkleren Bereichen eine leuchtende und lebendige Stimme mit Legato, Flexibilität und Beweglichkeit zu entwickeln, so daß das Instrument in der Lage ist, an der die Welt bestimmenden Idee teilzuhaben. Die Stimme gibt nicht den Worten Klang, sie gibt der inneren Bedeutung der Komposition Klang. Es muß jedesmal eine Wiederentdeckung und Neuschöpfung sein, im Sinne des Wunders des ursprünglichen Klanges des Wortes.

Unser Geist muß durch unsere Stimme an der Musik beteiligt sein. Und wir können das nur, wenn unsere Technik zusammen mit der Farbe der Idee für die musikalische Emotion transparent wird. Das Wort „Interpretation“ gefällt mir eigentlich nicht, weil es als ein Eingreifen mißverstanden werden könnte, etwas, was zu stark unsere eigene Sicht der in der Musik ausgedrückten Idee widerspiegelt. Ich ziehe den Begriff des „Teilhabens“ an der musikalischen Emotion vor.

Es ist manchmal sehr einfach, die Klangfarbe der Stimme zu ändern. Ich erinnere mich an eine berechnete, schwerfällige und auch langweilige Ausführung von Già il sole dal Gange [ein Lied von Alessandro Scarlatti]. Man denke sich dabei eine Filmszene, wo die Sonne mit hellen Strahlen über dem Ganges aufgeht, und lasse sich einfach wie ein Boot auf den Wellen von der Bewegung der Musik treiben - und sofort verändert sich die Qualität des Klanges zu einer leichteren, froheren Aufführung! Das ist ein sehr einfaches Beispiel. Ich kann sagen, solange unsere Vorstellung nicht mit dem übereinstimmt, was der Autor in Musik gesetzt hat, läßt sich keine künstlerische Qualität der Aufführung erreichen.

Nur wenn wir unsere eigene Natur kennen, können wir sie ausbilden, verbessern, stärken, selbst Künstler sein. Das Studium des Gesangs ist vielleicht damit vergleichbar, ein Haus, in das man einzieht, kennenzulernen. Anfangs scheint es so, daß das Licht ausreicht, um darin zu wohnen, aber man weiß nicht genau, wie es geschnitten ist oder was sich darin befindet. Man benutzt zunächst dieselben Wohnbereiche, denselben Stuhl, aber dann beginnt man die Räume zu entdecken, sie zu reinigen, man trennt sich von Vorurteilen und Gewohnheiten, von nutzlosen und störenden Möbelstücken. Man öffnet die Fenster, läßt das Licht herein und begnügt sich nicht mehr mit künstlichem Licht. Wir brauchen wahres Licht, das Licht der Sonne, unseres Feuers. Normalerweise ist ein Haus, das gereinigt und aufgeräumt ist, viel schöner, als wir es uns im Halbdunkel vorstellen konnten. Wir stellen oft fest, daß es uns so viel besser gefällt, daß wir besser leben als zuvor, wir atmen tiefer, und die Menschen freuen sich, zu uns zu Besuch zu kommen.

Kommen wir nun zum letzten Exkurs. Ich war kürzlich in der Pazzi-Kapelle - in Florenz natürlich, dem Florenz Brunelleschis und Ficinos. (Ich war nicht zum ersten Mal dort, aber früher kannte ich ihr Geheimnis noch nicht.) In ihren reinen Proportionen und ihrer Einfachheit, dem Gleichklang von Licht und Farben verlieh sie dem Klang meiner Stimme eine wunderbare Resonanz. Das zeigt, daß die Proportion, die in den Bau übertragene Idee in uns einen Widerhall findet. Die Emotion, die ich spürte, als ich eine Antwort der Steine hörte, die mich beim Singen geradezu stützten, als wären sie lebendig, und sich als kosmische Schwingungen äußerte, ließ mich als Teil eines Ganzen empfinden, das Stein und Mensch vereint in einer Harmonie, die der Grund für die Existenz aller Dinge ist. Diese Harmonie suchen und empfinden wir, wenn wir zusammen singen, zusammen spielen und an einer Art Festlichkeit teilnehmen, die über Religionen hinausgeht und zutiefst moralisch und menschlich ist.

Lesen Sie hierzu bitte auch:
Die musikalische Seele
- Neue Solidarität 33/2011
Dokumentation der Berliner Konferenz des Schiller-Instituts
- Internetseite des Schiller-Instituts (externer Link)