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Neue Solidarität
Nr. 33, 18. August 2010

Weißrußland: Einwohner dürfen in Tschernobyl-Sperrzone zurückkehren
Von Dr. Zbigniew Jaworowski

Tschernobyl. Nach dem Atomunfall von Tschernobyl 1986 siedelte die sowjetische Regierung mehr als 330.000 Menschen aus „kontaminierten Gebieten“ um, obwohl dort die Strahlenbelastung nicht über der natürlichen Belastung lag. Weißrußland wird jetzt die Einwohner in seinem Teil dieser Gebiete wieder zurücksiedeln.

Wie Nowosti, Interfax, Interia und andere Nachrichtenagenturen aus Weißrußland, Rußland und Polen am 23. Juli meldeten, hat die weißrussische Regierung beschlossen, mehrere hunderttausend Menschen, die vor 24 Jahren nach dem Reaktorunglück eilig aus der Sperrzone von Tschernobyl und anderen „kontaminierten Gebieten“ ausgesiedelt worden waren, wieder in die etwa 2000 Geisterdörfer zurückzulassen. Wenn man von hundert Personen in jedem Dorf ausgeht, handelt es sich dabei um eine Größenordnung von etwa 200.000 Menschen.

Tatsächlich war die panische Umsiedlungsaktion nach dem Unglück vom April 1986 ein grober Fehler der damaligen sowjetischen Regierung, der teilweise auf übertriebenen Empfehlungen internationaler Strahlenschutzbehörden wie der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP) und der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) beruhte.

Sinnlose Umsiedlungen

Die kurzfristige Evakuierung von Menschen in der unmittelbaren Umgebung des brennenden Kernreaktors, wie der 3 km entfernten Stadt Prypjat, war in dieser Krise sicherlich eine vernünftige Vorsichtsmaßnahme. Aber nachdem sich die Strahlendosis rasch um etliche Größenordnungen verringerte, war es irrational, die Menschen nicht mehr nach Prypjat zurückzulassen - heute ist die Strahlenbelastung in der Stadt nicht höher als in Warschau (Jaworowski 2010).

Vor allem aber war es völlig unbegründet, Menschen aus weit entfernten Orten in Belarus, der Ukraine und Rußland auszusiedeln, obwohl die eigentliche Gefahrenzone nur einen halben Quadratkilometer groß war und bis maximal 1,8 km südwestlich des Reaktors reichte. Die Umsiedlung lief sogar nach 1986 noch weiter, und 336.000 Menschen wurden gezwungen, ihre Heimatorte zu verlassen. Jetzt dürfen sie wieder nach Hause.

Schon vor zehn Jahren hatte der Wissenschaftliche Ausschuß der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen atomarer Strahlung (UNSCEAR) deutlich gemacht, daß diese Maßnahmen übertrieben waren (UNSCEAR 2000). Die Umsiedlungen verbesserten die Gesundheit der betroffenen Menschen nicht, weil gar keine meßbaren Gesundheitsgefahren bestanden. Sie führten im Gegenteil sowohl zu sozialen Problemen (Ausgrenzung und Verarmung der Evakuierten, Verlust an Eigentum und Infrastruktur sowie Einnahmenausfälle durch das Verbot der wirtschaftlichen Nutzung der „kontaminierten Gebiete“) als auch zu einer Epidemie psychosomatischer Leiden unter den Ausgesiedelten (Verdauungs- und Kreislauferkrankungen, Kopfschmerzen, Depressionen, Angstzustände, Realitätsflucht, erlernte Hilflosigkeit, Unfähigkeit zur Zusammenarbeit, psychische Abhängigkeit, Alkohol- und Drogenmißbrauch, Selbstmorde).

Als „kontaminierte Gebiete“ wurden die Gebiete definiert, in denen der Fallout an radioaktivem Cäsium-137 über 37 Kilobecquerel (kBq) pro Quadratkilometer lag. Dies betraf mehr als 140.000 km2 Landfläche in der damaligen Sowjetunion. Der Fallout von Tschernobyl erreichte aber auch viele andere Länder. So maß man mehr als 185 kBq/m2 Cäsium-137 in Österreich, Bulgarien, Finnland, Norwegen, Schweden, Großbritannien, Griechenland, Rumänien, der Schweiz und der Türkei. In diesen Ländern wurde jedoch niemand umgesiedelt.

Eine Cäsium-137-Konzentration über 37 kBq/m2 entspricht einer jährlichen Dosis von 1,6 Millisievert (mSv), das ist etwa die Hälfte der durchschnittlichen natürlichen Strahlenbelastung in den sogenannten „kontaminierten Gebieten“.

Der gewöhnliche Erdboden enthält etwa 50 natürliche Radioisotope, die viel gefährlicher sind als Cäsium-137. Ihre Gesamtaktivität in den obersten 10 cm der Erdschicht beträgt 400 kBq/m2 (Jaworowski 2002), also mehr als das Zehnfache der „Umsiedlungsgrenze“ in der Sowjetunion. Die Vertreter des Grenzwerts von 37 kBq/m2 haben diese Tatsache wohl nicht berücksichtigt. Man berücksichtigte sie auch nicht in vielen anderen Ländern, wo die natürliche Strahlenbelastung bis zu hundertmal höher ist als die durchschnittliche jährliche Strahlenbelastung der Bewohner der sogenannten „kontaminierten Gebiete“.

In der Sowjetunion wurde nie ein erhöhtes Vorkommen an Krebserkrankungen oder genetischen Störungen festgestellt. Im Gegenteil, die Gesundheit der Bevölkerung ist besser als in Ländern mit einer niedrigen natürlichen Strahlenbelastung. Verglichen mit anderen gesundheitsschädlichen Stoffen wirkt ionisierende Strahlung eher schwach. Offenbar hat die Natur die lebenden Organismen mit einem sehr dicken Sicherheitspolster für ein natürliches Niveau an Ionisationsstrahlung ausgestattet - ebenso wie für menschengemachte Strahlung aus kontrollierten, nichtmilitärischen Quellen (Jaworowski 1999).

Minimale Risiken

Die jüngste Entscheidung der weißrussischen Regierung ist ein politisch wichtiges Ereignis, das erheblich dazu beitragen kann, die Akzeptanz der Kernkraft in der Öffentlichkeit zu erhöhen. Sie fußt wahrscheinlich aus der jahrelangen Beschäftigung von UNSCEAR mit Studien, die belegen, daß die Katastrophe von Tschernobyl für die allgemeine Bevölkerung nur ein minimales Risiko auslöste. Todesopfer gab es nur unter den Mitarbeitern des Reaktors und den Rettungskräften. In beiden Gruppen wurde seither keine höhere Sterblichkeit durch Krebserkrankungen verzeichnet, und unter den Einwohnern der „kontaminierten Gebiete“ war kein vermehrtes Vorkommen von Krebs oder Erbkrankheiten festzustellen (UNSCEAR 2008).

Fast alle Bewohner der „kontaminierten Gebiete“ werden jährlich mit Ultraschall an der Schilddrüse untersucht. Im Zuge dieser enormen Massenuntersuchungen wurden bisher etwa 5000 Fälle von Schilddrüsenkrebs bei Kindern und Erwachsenen in den „kontaminierten Gebieten“ festgestellt. Das entspricht 0,1% der dort lebenden Bevölkerung. In den meisten Fällen handelt es sich um „okkulten Schilddrüsenkrebs“, der keine klinischen Symptome entwickelt und nichts mit dem radioaktiven Jod-131 zu tun hat, das aus dem Reaktor von Tschernobyl austrat. Das durchschnittliche Vorkommen von Schilddrüsenkrebs in Weißrußland liegt bei 9% der Bevölkerung - im Vergleich dazu in den USA 13% und in Finnland 35%.

Etwa 90% der Fälle von Schilddrüsenkrebs sind heilbar. Bei Tausenden Patienten in Schweden und Großbritannien, die weit höheren Dosen an radioaktivem Jod-131 ausgesetzt waren als die Menschen in den „kontaminierten Gebieten“, verzeichnete man keine vermehrten Vorkommen von Schilddrüsenkrebs, sondern das Gegenteil: bei den schwedischen Patienten waren es 38% und bei den britischen 17% weniger.

Umgerechnet auf Energieeinheiten verursachte das Reaktorunglück von Tschernobyl 0,86 Todesfälle je Gigawattjahr erzeugten Stroms, 47mal weniger als bei Wasserkraftwerken (40 Todesfälle je GWe-Jahr, einschließlich 230.000 Toten beim Bruch des Banqiao-Staudamms in China 1975).

Wissenschaftlich begründete Empfehlungen

Die weißrussische Regierung folgt den Empfehlungen eines Berichtes von vier UN-Organisationen aus dem Jahr 2002: UN-Entwicklungsprogramm (UNDP), UN-Kinderhilfswerk (UNICEF), Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (UNOCHA). Dort wird in drastischen Worten beschrieben, daß die enormen Anstrengungen und Milliarden Dollar Ausgaben zur Bewältigung der Folgen des Reaktorunglücks keine positiven Ergebnisse brachten, sondern vielmehr die Lage der 7 Millionen Menschen, die offiziell als „Tschernobyl-Opfer“ eingestuft wurden, noch verschlechterten und die psychologischen Folgen der Katastrophe und der falschen sowjetischen Entscheidungen zementierten.

Als Schlußfolgerung wird in dem Bericht den drei postsowjetischen Ländern und internationalen Organisationen empfohlen, ihre bisherige Politik aufzugeben, die auf irrigen Annahmen über die massenhaften Folgen der Strahlung beruhte und zur Vergeudung gewaltiger Mittel führte. Es werden 35 praktische Empfehlungen ausgesprochen, wie man den Teufelskreis der Frustration von Tschernobyl, sozialem Abstieg, Verarmung und epidemischer Verbreitung psychosomatischer Störungen durchbrechen kann. Praktisch laufen diese Empfehlungen darauf hinaus, alle früheren Beschränkungen aufzuheben. Die wichtigste von ihnen ist, daß man den umgesiedelten Menschen erlauben sollte, in ihre alten Wohngebiete zurückzukehren.

Dieser Empfehlung ist nun die weißrussische Regierung gefolgt. Man sollte ihr für ihren Mut danken, daß sie sich gegen die seit Jahren von Grünen und anderen Atomkraftgegnern geschürte Tschernobyl-Hysterie zu stellt. Die Normalität kehrt zurück.

 

(Der Autor ist auf vielen Feldern wissenschaftlich tätig und hat mehr als 300 wissenschaftliche Schriften, vier Bücher und zahlreiche populärwissenschaftliche Aufsätze veröffentlicht. Er ist seit 1973 Mitglied im Wissenschaftlichen Ausschuß der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen atomarer Strahlung (UNSCEAR) und war 1980-82 dessen Vorsitzender.)


Literatur:

Z. Jaworowski, 1999. „Radiation Risk and Ethics”, in Physics Today, Vol. 52, S. 24-29.

Z. Jaworowski, 2002. „Ionizing Radiation in the 20th Century and Beyond”, in Atomwirtschaft-Atomtechnik, Vol. 47, S. 22-27.

Z. Jaworowski, 2010. „Observations on the Chernobyl Disaster and LNT”, in Dose-Response, Vol.8, S. 148-171.

UNSCEAR, 2000. Sources and Effects of Ionizing Radiation, United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation UNSCEAR 2000, Report to the General Assembly. Annex J: Exposures and Effects of the Chernobyl Accident, S. 451-566.

UNSCEAR, 2008. Health Effects Due to Radiation form the Chernobyl Accident, Draft Report A/AC.82/R.673, 220 S., United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation.

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