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Aus der Neuen Solidarität Nr. 21/2007

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Cervantes wäre beeindruckt gewesen

Von Lyndon LaRouche

Gedanken zum Erscheinen der englischen Übersetzung eines hebräischen Buches aus dem Jahr 1909: Yudl Rosenberg, „The Golem, and the Wondrous Deeds of the Maharal of Prague“ (Der Golem und die wundersamen Taten des Maharal [Rabbi Löw] von Prag).

Dieses Buch ist, nicht übertrieben, ein Edelstein! Es ist eine Freude, es zu lesen; doch Vorsicht, es gibt wichtige tiefere Bedeutungen, die eine fiktive Ironie benutzen, um die furchterregende Wirklichkeit möglichst harmlos erscheinen zu lassen.

Ein besonderer Dank gilt auch dem Übersetzer, Curt Leviant, dessen Einleitung mich als Werk eines wahrhaft bedeutenden Geistes der Gegenwart beeindruckt hat. Man spürt deutlich Judl Rosenbergs Genie und Sinn für Humor. Mit seiner entzückenden und wahrhaft schöpferischen Dreistigkeit tritt Rosenberg in die Fußstapfen von Miguel Cervantes, und es gelingt Leviant, daraus das schönste für seine Bühne zu machen. Da ich kein Hebräisch lesen kann, sind meine Bemerkungen in einem gewissen Abstand von Rosenbergs Original geschrieben, aber gewisse Bedeutungen kennen solche Grenzen nicht.

Ich bin ein erfahrener Amerikaner mit vielen Freunden und Bekannten unter erwachsenen jüdischen Amerikanern aus vier Generationen, meistens deutscher oder osteuropäischer Abstammung; dies schon seit meiner Jugend und danach im Großraum Boston und später New York City, vom Ende der 30er Jahre bis in die 70er Jahre. Dabei lege ich besonderen Wert auf die Bedeutung von Moses Mendelssohn für die große klassische Revolution des späten 18. Jahrhunderts, und, dem gegenübergestellt, von Heinrich Heines Kampf gegen einen Feind, den er, wie ich, in der verkommenen Romantischen Schule der Zeit nach 1815 erkannte und haßte. Zusammengenommen liefert mir das eine Kenntnis der grundlegenden Aspekte des Rahmens der europäischen Geschichte, innerhalb dessen der europäische Jude gewöhnlich darum ringen mußte, in einer meist bedrohlichen Umwelt eine eigene Identität zu finden und zu verteidigen...

Das Innenleben von Völkern, die wegen ihrer Herkunft oder Religion lange und oft Verfolgungen ausgesetzt waren, hat mich schon seit der Kindheit fasziniert, und mehr noch seit meiner Jugend im Raum Boston, in einem Umfeld, wo mir die typische Diskriminierung von Menschen italienischer, osteuropäisch-jüdischer und afroamerikanischer Herkunft verhaßt war.

Seit jener Zeit waren zwei Modelle jüdischen Widerstands gegen solche Diskriminierung für mich besonders wichtig. Die freudigsten Erinnerungen betreffen die triumphalen Errungenschaften Moses Mendelssohns und demgegenüber den eher melancholischen Fall jenes Heinrich Heine, der fast sein ganzes Leben lang für eine große Sache kämpfte, für die klassische Renaissance Deutschlands im späten 18. Jahrhundert. Fast bis zum Ende bekämpfte er die bösartige Romantik der nachnapoleonischen Ära, des Geheimgesandten von Fürst Metternich, G.W.F. Hegel, und allgemein. Aus einer neueren Zeit stammt dann die Jiddische Renaissance, die man in Amerika mit Begriffen wie dem „Workmen’s Circle“ und den Werken Scholem Aleichems verbindet.

Wie Rosenberg in seinem „Golem“ zeigt, schuf die fast völlige Ausmerzung der heroischen Errungenschaften Moses Mendelssohns eine Art Vakuum, in dem Ende des 19. und Anfang des 20. Jh. ein nur allzu notwendiger jüdischer Humor entstand, der wie im „Golem“ unausgesprochen auf dem Bild des „unsichtbaren Freundes“ kleiner Kinder beruht.

Vor etwa zwei Jahrzehnten saßen meine Frau und ich am Arno gegenüber der Stadt Florenz, und ich stellte mir vor, daß es vielleicht hier gewesen war, wo Boccaccio saß, als er sein Dekameron schrieb, während er auf der anderen Seite des Flusses in den Straßen von Florenz die Schrecken der Schwarzen Pest mit ansah. Cervantes’ Verarbeitung des moralisch völlig gescheiterten Spanien des 16. Jh. unter Philipp ist ein Echo auf Boccaccio, wenn er die moralisch völlig gescheiterten Charaktere Don Quichotte und Sancho Pansa zu den großen Kontrastfiguren macht. Leser von Rosenbergs Golem sollten unbedingt erkennen, daß er kein romantischer Weltuntergangspessimist ist, sondern einen köstlichen Sinn für Humor ausdrückt, der auch die größten klassischen Tragödiendichter auszeichnet.

Daher sollte man bei der Lektüre an Schillers berühmte Beobachtung über die Absicht des klassischen Dramas denken: daß der Bürger, nachdem er die vorherrschenden Torheiten auf der Bühne gesehen hat, das Theater mit dem Vorsatz verlassen sollte, ein besserer Bürger zu sein als vorher, der Verantwortung dafür übernimmt, welchen Weg seine Gesellschaft geht. Schiller weist damit auf einen grundlegenden Optimismus: den Optimismus des Bürgers, der sich herausgefordert fühlt, darüber nachzudenken, was eine von ihren Bürgern vernachlässigte Gesellschaft sich selbst antut, so wie es die klassische Tragödie andeutet, wenn die gesamte Handlung des Dramas auf der Bühne schrecklich war.

Tragisches gab es im Werk von Moses Mendelssohn und seinem engen Freund und Mitarbeiter Gotthold Lessing nicht. Mendelssohn, der arme jüdische Sohn eines kleinen Geistlichen aus Dessau, pflanzte das Banner von Leibniz und Platon auf, und erschütterte jenen Philistertempel, das Berlin Friedrichs des Großen, mit einem Großangriff auf die Verlogenheit der empiristischen Schule der Voltaire-Anhänger D’Alembert, Euler und Lagrange in den Grundfesten. Das Freundespaar entfesselte in Deutschland zusammen mit Lessings Mentor, dem großen Mathematiker Abraham Kästner, die große Welle der Klassik, die sich überall in Europa ausbreitete und die auch wesentlich zur Gründung der Vereinigten Staaten als Verfassungsrepublik beitrug.

Die oft bettelarmen Freunde erschütterten damals die Welt. So befanden sich, wie einige meiner Mitarbeiter in verschiedenen Veröffentlichungen nachgewiesen haben, die größten Musiker der Zeit - die wichtigsten Nachfolger Bachs, Mozart, Beethoven, Schubert und andere - im Umkreis der Familie von Moses Mendelssohn in Leipzig und Berlin. Seither hat es nichts wirklich Großes in der deutschen Kultur gegeben, was nicht in dieser Klassik-Verschwörung wurzelte, und die entscheidende Rolle spielten dabei die Kreise um Lessing und Mendelssohn, aus denen das Genie Friedrich Schiller aufstieg, um vieles zu schaffen, was bis heute auf der Welt unübertroffen ist.

Dies fand ein Echo in Benjamin Franklins Kreisen in den Vereinigten Staaten und beispielhaft in Percy Shelley und John Keats in Großbritannien. Doch dann folgte das Übel in Form des Sturms auf die Bastille, des teuflischen Gestanks der Jakobiner mit ihrem Terror sowie Graf Joseph de Maistres Marionette, Napoleon Bonaparte. Die Wiener Verhandlungen 1812-15 stellten die Uhr der europäischen Geschichte zurück.

Das Genie Schillers, Beethovens und Schuberts war ein Ausdruck einer glorreichen Vergangenheit gewesen. Die von Heinrich Heine angegriffene krankhafte Romantische Schule stellte sich an die Spitze eines neuen Trends. Etwas später folgte in Deutschland der Sturz von Kanzler Bismarck, und damit war der Weg frei für den Ersten und Zweiten Weltkrieg, so wie es der britische „Herr der Inseln“, Edward VII. beabsichtigt hatte. Gleichzeitig kam es auch zu einer Wende in Rußland, wofür Subatow, der seltsame Folterer und Chef der Geheimpolizei Ochrana, typisch ist; er diente als Architekt der Revolution von 1905, ein Komplott, in dem Pogrome gegen die Juden Osteuropas den Dreh- und Angelpunkt darstellten.

Zu der Zeit schuf der jüdische „Bund“ eine Tradition, die auch in die Gemeinden jüdischer Auswanderer, die in die amerikanische Version vom Getto strömten, hineinfloß. Diese Generation hatte das dringende Bedürfnis nach einem gemeinsamen geheimen Leben derer, die den „unsichtbaren Freund“ eines Kindes neben sich spürten. Der Golem, wie ihn Judl Rosenberg beschreibt, spiegelte diese Sehnsucht nach dem „unsichtbaren Freund“ wider, dem man seine Hoffnungen auf eine wundersame Gerechtigkeit zuflüstern konnte. Jedes Kind, das ins Bett gebracht wurde, kann sich ausmalen, wie die Eltern in ihrem Zimmer unten leise miteinander reden. Es denkt an die Eltern, die gegenüber der lauernden Gefahr mutig, aber machtlos sind, und um einschlafen zu können, muß es sich einen mächtigen tröstenden Freund vorstellen, dem es seine Gedanken zuflüstert.

Das wichtige an dieser Vorstellung des unsichtbaren Freundes ist nicht, was das Kind wirklich glaubt, sondern die Furcht, die hinter dieser Sehnsucht steckt. In seiner besten Form ist dieses Kind Schillers Bürger, der das Theater als besserer Mensch verläßt, obwohl der Verfasser, etwa Shakespeare oder Schiller, die oft völlige Verkommenheit aller Hauptpersonen im Wallenstein, oder auch Posas und des Königs, des Verhaltens aller Charaktere der Tragödie und die Ängste, die in den gedämpften Stimmen der Eltern im unten gelegenen Raum lauern, in warnender, inspirierter Art und Weise beschrieben hat.

Unter dem Boden der Träume

In dieser letzteren Hinsicht rate ich dem Leser, den Seiten xxiii-xxxiv der Einführung Curt Leviants besondere und nachdenkliche Aufmerksamkeit zu schenken. Lassen Sie mich nun kurz auf die tieferen Implikationen dieses Werks eingehen, wie ich sie sehe, und zu welchen Gedanken die genannten Seiten aus Curt Leviants Einführung über die Frage des „unsichtbaren Freundes“ mich veranlaßt haben.

Albert Einstein beschreibt unser Universum als in seiner Gesamtheit begrenzt, aber selbstbegrenzt ohne äußere „Zäune“. Wie Einstein unter Berufung auf Johannes Kepler und Bernhard Riemann feststellt, reflektiert die Fähigkeit des individuellen Menschen, unsichtbare Prinzipien zu entdecken, die das Universum insgesamt gestalten , in dem wir handeln, eine Art des Wissens, die sich auf das bezieht, was sich dem Versuch einer unmittelbaren Feststellung durch Sinneswahrnehmungen entzieht. Wir treffen auf diese höhere Ebene beim Entdecken und Beherrschen universeller Naturprinzipien, und wir finden das Produkt der Arbeit dieser wunderbaren Fähigkeit des Menschen in der großen Kunst der klassischen Komposition. Ein Kind, das in seiner Dachkammer einschlummert, fühlt die Präsenz universeller Prinzipien vielleicht stärker als die Objekte der bloßen Sinneswahrnehmung. Tatsächlich reflektiert dieses Gefühl die geistige Fähigkeit, auf der die Entdeckungen der universellen Prinzipien des Sonnensystems und der Galaxie beruhen, das Gefühl einer Kraft, die ihrer Natur nach gut ist und auf die Schattenwelt der Erfahrung durch bloße Sinneswahrnehmungen im Kleinen wirkt.

Bei der Beurteilung dieser soeben beschrieben Ironie müssen wir die Tatsache berücksichtigen, die jedem großen Naturwissenschaftler bekannt ist, daß das, was wir als einfache Sinneseindrücke betrachten, unser Bild der Erfahrungen der Sinnesorgane unseres sterblichen Fleisches ist, und daß die Bilder der Sinneswahrnehmungen nur die Schatten sind, die eine Realität auf Sinneswahrnehmungen wirft, welche die betreffende Person nicht direkt sehen kann. Die Realität, die dieser Sicht der Erfahrungen unserer Sinneswahrnehmungen zugrunde liegt, ist das, was wir in der Domäne der experimentellen Kenntnis der Gewißheit der Existenz bestimmter Prinzipien lokalisieren.

Das Resultat der Untersuchung solcher Ironien war wiederholt das Konzept eines physischen Universums wie der Domäne der Sphärik der alten Pythagoräer und Platons und in moderner Zeit der Neuformulierung des pythagoräisch-platonischen Prinzips der Sphärik unter dem Titel der „belehrten Unwissenheit“. Das war die Methode, die Kepler und seine Nachfolger wie Fermat, Leibniz und Riemann verwendeten. Es war das antieuklidische, antikartesische Konzept eines Universums, das, wie Einstein bemerkt, mit dem Werk von Kepler, Leibniz und Riemann verbunden ist.

Wenn wir das richtig weiterführen, stellen wir fest, daß sich die Entwicklung des Begriffs der Harmonie durch Kepler in der Methode des Florentiner Belcanto und Keplers in J.S. Bachs Konzept des Kontrapunkts reflektiert. Wie sehen Reflektionen dieser Revolution in den Gemälden Leonardo da Vincis. Diese Erfahrung zeigt, daß der Geist die Prinzipien der physischen Geometrie, die im wirklichen Universum jenseits unserer Sinneswahrnehmungen lokalisiert ist, erkennen kann. Die Fähigkeit, dies zu tun, und der Impuls, es zu tun, liegt im Geist des heranwachsenden Kindes, das sich seinen oder ihren „unsichtbaren Freund“ erfindet. Das ist nicht bloß eine Phantasie, es wäre vielmehr eine Phantasie, die wirksame Bedeutung dieses ziemlich verbreiteten Phänomens bei jungen Kindern zu bestreiten. Judl Rosenbergs Golem ist eine Fiktion, aber die Fähigkeit des menschlichen Geistes, welche die vorgestellte Existenz des Golem ausdenkt, ist keine Fiktion.

Jene unter uns, die die euklidischen und kartesischen Phantasien schon längst zurückgewiesen und die Grundlage für eine Riemannsche physische Geometrie in der gesetzmäßigen Abfolge qualitativer, demonstrierbarer Änderungen in den Prinzipien der Prozesse erkannt haben, können dem Kind versichern, daß im Universum tatsächlich so etwas wie ein unsichtbarer Freund existiert, der seinem Wesen nach gut ist. Der Geist des Kindes sehnt sich danach und sagt „Bitte!“ Wenn das Kind dem Faden folgt, der es in die wirkliche Wissenschaft und in die wirklich klassische Komposition in der Kunst führt, wird es dort eines Tages den Beweis für den wirklichen Freund finden, den es sich in seinen frühen Jahren gewünscht hat.

Judl Rosenbergs Golem existiert nicht, aber die Welt, in der er existieren sollte, ist real. Die Alpträume, die mit den Abenteuern des Golem verbunden sind, scheinen einen Pessimismus auszudrücken, aber Rosenbergs Golem selbst ist Ausdruck eines tief verwurzelten Optimismus. Rosenbergs köstlicher Sinn für Humor, der sich in seiner Erschaffung eines fiktiven Universums ausdrückt, wie zuvor in dem des von Cervantes geschaffenen Don Quichote, drückt eine Form des angeborenen Optimismus aus, der sich in einer Welt äußert, die ansonsten furchtbar ist. Es gibt ein hoffendes Geräusch, das hinter den Vorhängen einer schrecklichen Tragödie hervorflüstert; es ist nicht auf der Bühne, aber es ist da. Als Erwachsene nennen wir es Wissenschaft und klassische Komposition in der Kunst. Beide von ihnen sind entstanden als Ausdruck derselben wesentlichen Substanz, wie die andere. Diese Substanz kennen wir als Ausdruck der individuellen menschlichen Kreativität.

Dieser Sinn für das Vorhandensein der Kreativität ist die Essenz dessen, was ich im Verlauf eines transatlantischen Fluges las, bei dem ich Gelegenheit hatte, mich auf das Lesen zu konzentrieren und es, im Wesentlichen ununterbrochen, von vorne bis hinten durchzulesen. Ich danke Curt Leviant sehr dafür, und schlage vor, daß Sie das auch tun; aber denken Sie daran: den Preis des Tickets müssen Sie selbst bezahlen.

Lesen Sie hierzu bitte auch:
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