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Aus der Neuen Solidarität Nr. 14-15/2007 |
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Von Helga Zepp-LaRouche
Die BüSo-Vorsitzende hielt am 18. November 2006 in Frankreich auf der Jahresversammlung der Partei Solidarité et Progrès, die Jacques Cheminades Präsidentschaftskandidatur unterstützte, eine Rede über die notwendige Änderung des kulturellen Paradigmas, bei der das Konzept der ästhetischen Erziehung eine große Rolle spielen müsse. Zunächst ging sie auf die politische Weltlage unmittelbar nach der Kongreßwahl in den Vereinigten Staaten ein, um in diesem Kontext auf das eigentliche Thema ihres Vortrags zu kommen.
(...) Als die Amerikanische Revolution stattfand, hofften die besten europäischen Köpfe, daß sie in Europa wiederholt werden könne. Und die größte Hoffnung richtete sich auf die Französische Revolution, denn Baillys Idee, eine Nationalversammlung einzurichten, bis über eine Verfassung debattiert werden konnte, ging am ehesten in die Richtung der Amerikanischen Revolution. Aber wir alle wissen, was passierte: die Erstürmung der Bastille, kurz danach die Jakobiner. Robespierre sagte: „Die Revolution braucht keine Wissenschaftler“; die Guillotine wurde in Gang gesetzt; der Thermidor kam als Antwort darauf; Napoleon krönte sich selbst zum Kaiser und begann ein Weltreich aufzubauen, indem er ganz Europa in Kriege verstrickte. An diesem Punkt waren alle Humanisten in ganz Europa, die in Frankreich das erste Beispiel einer Amerikanischen Revolution in Europa gesehen hatten, völlig schockiert, und nur einige seltsame Jakobiner wollten danach noch die Französische Revolution weiterführen.
Einer, der zu Anfang sehr für die Französische Revolution war - tatsächlich dachte er 1789, das Zeitalter der Vernunft breche an -, war Friedrich Schiller. 1789 hielt er seine berühmte Vorlesung über die Universalgeschichte in Jena, und er war überzeugt, daß die Gelegenheit, wahre politische Freiheit und Republiken überall zu errichten, sehr nah wäre. Aber als Schiller 1792 von der Nationalversammlung zum Ehrenbürger Frankreichs ernannt wurde und er hörte, daß Ludwig XVI. hingerichtet worden war, war er so angewidert, daß er die Ehrenbürgerwürde ablehnte, weil er mit einer solchen Politik nichts zu tun haben wollte.
Schiller schrieb zu dieser Zeit die berühmten Ästhetischen Briefe, und am Anfang dieser Briefe sagt er über die Französische Revolution: „Ein großer Moment hat ein kleines Geschlecht gefunden.“ Die objektive Voraussetzung für eine politische Veränderung war vorhanden, aber die subjektive, moralische Voraussetzung fehlte. Er schrieb diese Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, um ein Mittel zu finden, um zu gewährleisten, daß in der Zukunft bei solchen großen Momenten auch ein großes Geschlecht da wäre, das dazu in der Lage wäre, die objektive Chance zu nutzen und die Art von politischer Veränderung zu schaffen, die notwendig ist.
Seine Antwort lautete grundsätzlich: Wenn die Menschen so bleiben, wie sie sind, wird sich nichts ändern. Also ist die einzige Möglichkeit, die man hat, sie zu besseren Menschen zu machen. Und wie macht man sie zu besseren Menschen? Indem man ihnen eine ästhetische Erziehung gibt. Und da die meisten Leute heutzutage keine Ahnung haben, was das eigentlich ist, stellt sich die Frage, wie man eigentlich jemanden ästhetisch erzieht? Bedeutet das, jeden Abend ins Theater zu gehen? Bedeutet das, viele Bücher zu lesen? Oder was bedeutet das?
Ich möchte zuerst aufzeigen, wie die Idee für eine ästhetische Erziehung entstand.
Lessing und Moses Mendelssohn haben die wichtigsten Grundlagen für die deutsche Klassik gelegt. Lessing war der erste deutsche Dramatiker im wahren Sinne, er schrieb in dieser Zeit, nach dem Dreißigjährigen Krieg und nach dem Siebenjährigen Krieg, richtige Tragödien, indem er Shakespeare zum Leben erweckte und auf die griechischen Klassiker zurückgriff. So schuf er die Grundlagen der Weimarer Klassik, die aus Schiller, Goethe, Wilhelm von Humboldt und mehreren anderen bestand, aber Lessing war einer ihrer Gründer. Und er war der erste, der behauptete: Die Tragödie veredelt das Publikum, indem sie Mitleid erregt. Er sagte: Wer uns mitfühlend macht, macht uns besser und tugendhafter.
Die Idee der ästhetischen Erziehung begann eigentlich mit einem Briefwechsel, den man unbedingt lesen sollte, zwischen Lessing, Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai (er war der Verleger) zwischen dem 31. August 1756 und dem 24. Mai 1757. In diesem Briefwechsel entwickelt Lessing den Grundgedanken seiner Theorie über die Veredelung des Menschen. Er beginnt mit Fragen wie: Welche Leidenschaften werden von der Tragödie geweckt und welche Fähigkeiten der Seele sind für das moralische Erkenntnisvermögen verantwortlich? Welche Eigenschaften der Seele leiten das moralische Verhalten? Ich denke, dies ist eine wichtige Frage, auf die ich gleich zurückkommen werde. Er sagt: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, denn er ist empfänglicher für alle sozialen Tugenden und alle Arten von Großzügigkeiten.
Ist dieser Satz denn wahr? Bitte denken Sie mit mir zusammen darüber nach. Ist wirklich der mitleidigste Mensch der beste Mensch?
Zuerst möchte ich die Vorgeschichte, die hinter dieser Aussage steht, erzählen. Seit Aristoteles reden alle über die Leidenschaften der Tragödie und beziehen sich normalerweise auf Aristoteles und seine Poetik. In diesem Werk sagt Aristoteles u.a., man brauche Tragödien für die Katharsis. Mit „Katharsis“ meint er, daß man viele Emotionen erregen muß, damit sie durch Furcht und Mitleid gereinigt werden. Er behauptet auch - das ist jetzt nur eine Zwischenbemerkung -, daß ein Schauspieler in ärgerlicher Stimmung auf die Bühne gehen soll, wenn er eine ärgerliche Person spielt, daß man sich auf der Bühne die Haare ausreißen soll, wenn man bestürzt ist usw., oder er würde sagen, Romeo müsse Liebe empfinden, wenn er Julia küßt. Schiller wird das scharf zurückweisen.
Aristoteles sagt also: Die Menschen sollten ihre Emotionen gut studieren, weil sie diese für die Rhetorik benötigen. Das Ziel der Redekunst ist, das Urteil der Zuhörer zu beeinflussen, und daher muß der Redner sich selbst und die Person, die urteilt, in eine bestimmte innere Haltung versetzen. Und da sich die gleiche Sache für die Person, die liebt, und diejenige, die haßt, unterschiedlich darstellt, erscheint sie der Person, die wütend ist, anders als der, die milde ist. Die gleiche Sache wird von Menschen in verschiedenen Stimmungen unterschiedlich bewertet. Deshalb kommt es nicht auf Wahrheit an, sondern daß man, ich möchte sagen, die Menschen durch rhetorische Fähigkeiten manipuliert, damit sie je nach der Stimmung, in die man sie versetzt hat, urteilen.
Aristoteles sagt, es gibt noch zwei andere Mittel der Beeinflussung: den Charakter des Sprechers und den Sprecher selbst. Und auch die Beweise und die angenommen Beweise. Es ist nicht wichtig, ob es wahr ist oder nicht, solange ich den Anschein erwecke, daß der Beweis wahrhaftig ist.
Diese aristotelische Denkweise beeinflußte lange Zeit diese Debatte. So schrieb ein gewisser Rudolph Agricola im Jahre 1515, für die Affekte (ein Begriff, der das gleiche bedeutet wie Leidenschaft oder Emotion) sei es ohne Bedeutung, ob der Sachverhalt wahr ist. Man urteile dann nicht mehr auf der Grundlage der Wirklichkeit, sondern der Täuschung durch einen anderen Affekt, den man durch eine minimale und unwichtige Beeinflussung angenommen hat. Es geht also nur um Manipulation.
Ein Affekt sei eine bestimmte Bewegung des Geistes, die uns dazu bringt, etwas stärker zu begehren oder zurückzuweisen, als wenn wir in einer ruhigen Stimmung wären. Anders ausgedrückt, man braucht nur die Emotionen aufzupeitschen, dann kann man Menschen beeinflussen, ihre Einstellung verändern usw.
Ein anderer Vertreter dieser Richtung ist der Schriftsteller Gerhard Johannes Facius, der 1630 über Rhetorik schrieb, bei einer Veränderung des seelischen oder geistigen Zustandes zähle, was durch die Affekte erregt wurde. Dann urteile die Person anders als in ruhigem oder besänftigtem Zustand. Er beschreibt also den überredenden Effekt des Affektes. Dieser sei so stark bzw. könne so gestärkt werden, daß er sogar gegen die Wahrheit eingesetzt werden könne.
Als Gründer der rhetorischen Schule fordert Aristoteles, der Redner solle die Eigenschaften des Affektes lernen, um bewußt ein bestimmtes Ergebnis hervorrufen zu können. Ein gewisser Antonio Sebastiano Minturno schrieb 1559 in De Poeta, ebenfalls in der Art des Aristoteles: „Mitleid und Furcht eignen sich sehr gut, um Ärger zu brechen, Gier zu zerstören, Ehrgeiz zu vermindern, die Begierde nach Macht zu unterdrücken und jedwedes ungezähmte Toben des Geistes einzudämmen.“ Dies war also die gemeinsame Ansicht der Dichter im 16. und 17. Jahrhundert, zumindest derer, mit denen ich mich beschäftigt habe, das war die Meinung des Facius, der sogenannten Gniesenauer Dichtergruppe, von Gryphius, der während des Dreißigjährigen Krieges sehr emotionale, beeindruckende Gedichte schrieb, die Sie sich auch ansehen sollten. Und alle glaubten, dies sei die Ansicht des Aristoteles über Furcht und Mitleid.
Übrigens nannte Aristoteles Mitleid eleos und Furcht phobos (man findet dieses Wort noch in „Phobie“ usw.). Dahinter steht die Vorstellung, daß man eine Katharsis, eine Reinigung der Emotionen brauche.
Lessing brachte in der Mitte des 18. Jahrhunderts zum ersten Mal die Idee auf, daß die Tragödie nur ein Gefühl hervorrufe, nicht viele, und daß dieses Gefühl das Mitleid sei. Der Begriff bedeutet, daß man mit dem Leiden der anderen Person fühlt, mit ihr leidet. Er ist auch der erste, der sagte, daß Mitleid eine moralische Wirkung hervorrufe. Allerdings hat er das nicht ganz selbständig entdeckt. Er bezieht sich auf Leibniz und stand außerdem im Dialog mit Mendelssohn. Aber nichtsdestotrotz vollzog er einen klaren Bruch.
Leibniz hatte das in einer Schrift mit dem Titel Meditationes De Cognitione Veridate et Ideis ausgeführt. Er beschreibt in gewissem Sinne die verschiedenen Arten der Erkenntnis. Er sagt, der Schlüssel sei die Aktivität der Seele, da die Seele Erkenntnis definiere. Wenn die Seele die wahrgenommene Sache oder das Thema, das man zu verstehen versucht, nicht wiedererkennen kann, bezeichnet er dies als cognitio obscura - dunkle Erkenntnis. Wenn man es klar erkennt, nennt er es cognitio clara. Wenn man die Sache von anderen Dingen unterscheiden kann, nennt er es cognitio distincta, wenn man es nicht kann cognitio confusa.
Leibniz war der erste, der die subjektiven Bedingungen im Prozeß der Erkenntnis untersuchte, nämlich daß er innerhalb der menschlichen Seele stattfindet. Dies ist nicht offensichtlich, weil die meisten Menschen von Vernunft und Verstehen als einem objektiven Prozeß des Geistes sprechen.
Alexander Gottlieb Baumgarten folgte in seiner Theoretischen Ästhetik Leibniz in dieser Tradition. Er ging sogar noch einen Schritt weiter und stellte fest: Der die Sinne betreffende Teil der Seele ist zur unabhängigen Erkenntnis fähig. Verstand und Vernunft bewirken die Erkenntnis. Man hat aber auch die Seele, die ein Teil davon ist und die verantwortlich für den die Sinne betreffenden Teil der Erkenntnis ist. Er entwickelte als erster die wissenschaftliche Definition der Instrumente zur Untersuchung dieser Kräfte. Er bestimmte diese verschiedenen Kräfte der Seele, die am sinnlichen Teil der Erkenntnis beteiligt sind. Er unterscheidet zwischen imaginatio, der Vorstellungskraft; facultas fingendi, der Kraft der Poesie; perspicacia, der Kraft der Analyse; memoria, dem Gedächtnis; previsio, der Kraft der Antizipation (Vorausschau); judicium, der Urteilskraft; praesaegitio, der Kraft der Vorahnung (was LaRouche als Vorherwissen, engl. prescience, bezeichnen würde); und facultas characteristica, der Kraft der Konzeptualisierung.
Für Baumgarten ist der Bereich der Erkenntnis ausschließlich der Bereich des sinnlichen Teiles der Seele oder der Teil, mit dem man Gedichte versteht. Die Kraft der Seele in Bezug auf ihre Erkenntnis sei sinnlich. Aber er betont auch, es gehe nicht um das Gefühl um des Gefühles willen, sondern um die Frage, wie man seine Gefühle erziehe, damit sie besser zur Erkenntnis beitragen.
Ästhetik ist in diesem Sinne eine unabhängige Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis, die im Laufe des 18. Jahrhunderts entwickelt wurde.
Mendelssohn schrieb 1755, indem er sich auf Leibniz und Baumgarten bezog, die Briefe über die Empfindungen, in denen er das Wesen des Vergnügens beleuchtet. Er untersuchte die Prozesse, die in der Seele entstehen, wenn ein Mensch Vergnügen erlebt. Mendelssohn untersucht z.B. Mitgefühl und Liebe für ein Objekt oder einen Menschen, den ohne eigenes Zutun ein Unglück oder ein körperliches Übel trifft. Die Liebe beruht auf der Vollkommenheit des Menschen, den man liebt; man denkt, daß die Person, die man liebt, einige sehr gute Eigenschaften besitzt. Anderenfalls würde man sie nicht lieben, und das bereitet einem Vergnügen. Wenn diesem Menschen ein Unglück widerfährt, für das er nicht selbst verantwortlich ist, ist er nur um so liebenswerter, es erhöht seinen Wert.
Mendelssohn sagt: Dies ist die Natur unserer Empfindungen. Wenn einige bittere Tropfen in den honigsüßen Becher des Vergnügens gemischt werden, erhöhen sie den Geschmack der Süße und verdoppeln das Vergnügen.
Dies ist der Gehalt der Tragödie: Warum fühlt man Vergnügen bei etwas Furchtbarem? Warum macht man sich die Mühe, Sophokles oder Euripides, Shakespeare oder Schiller anzuschauen? Offensichtlich, weil das Unglück der edlen Person sozusagen das Vergnügen erhöht. Ich komme gleich darauf zurück.
In der Tradition von Leibniz und Baumgarten besteht Mendelssohn darauf, daß die Wahrnehmung einer Sache von den Prozessen in der Seele erzeugt wird, welche die Erkenntnis hervorrufen. 1757 schreibt er in seinem Buch Über die Hauptprinzipien der schönen Kunst und Wissenschaft, in den Gesetzen der Schönheit lägen die tiefsten Geheimnisse unserer Seele. In jedem Gesetz der Schönheit liege gleichzeitig die Entdeckung des Wissens über die Seele. Er nennt dies Seelenlehre oder Seelenkunde, was man heutzutage Psychologie nennen würde. Er weist also darauf hin, daß jedes Schönheitsgesetz, das man entdeckt, einem etwas darüber erzählt, wie unser Geist arbeitet. Da dieses Gesetz eine Anweisung enthält, unter welchen Bedingungen etwas Schönes die größte Wirkung auf unseren Geist und unsere Seele ausübt, kann man es aus der Natur des menschlichen Geistes und seiner Eigenschaften heraus erklären. Man muß die Erscheinungen, welche die treibende Kraft, die Beweggründe unserer Seele sind, durch welche die Seele am meisten bewegt wird, sehr genau untersuchen und mit der Theorie vergleichen, um neues Licht darauf zu werfen und ihre Begrenzungen durch neue Entdeckungen zu erweitern.
Eine ähnliche Idee, daß die Gesetze des Mikrokosmos und die des Makrokosmos dieselben sind, findet man bei Nikolaus von Kues. Dieselbe Idee findet man bei Leibniz, der die menschliche Seele als Monade versteht, die in Keimform alle Gesetze des physischen Universums im Großen trägt. Es ist also dieselbe Idee, daß man in den Gesetzen der Schönheit den Schlüssel zu den inneren Geheimnissens seiner eigenen Seele findet. Weiter führt er aus, die Haupttriebkräfte der Seele würden durch die schöne Kunst in höchste Tätigkeit versetzt.
Mendelssohns Auffassung des Affektes, des Gefühls ist völlig verschieden von der des Aristoteles. Und diese Gruppe, insbesondere Mendelssohn und Lessing, brach bewußt mit allen Theorien des Aristoteles über Poesie und Rhetorik. Denn für Aristoteles und seine Schule der Rhetorik sind Affekt und Gefühl lediglich Mittel zur Überredung und Manipulation. Dagegen redet Mendelssohn über Psychologie, Seelenkunde, die Erkenntnis der Seele. Und er hat diesen Begriffen eine neue Schärfe gegeben.
Nun stellt sich die Frage, welche Art der Leidenschaft durch die Tragödie hervorgerufen wird? Auf der Bühne treten alle möglichen Arten von Leidenschaften auf: Die Hauptfiguren sind manchmal voller Freude, sie verlieben sich, sie werden wütend, sie sind rachsüchtig. Lessing fragt: „Wiederholen die Menschen im Zuschauerraum die Emotionen auf der Bühne?“ Fühlt die Person im Zuschauerraum wie Julia oder Romeo oder Jago? Lessing antwortet: Nein, kein Gefühl, keine Leidenschaft wird durch die Tragödie auf die Zuschauer übertragen außer einer einzigen - Mitleid. Die Person im Zuschauerraum wird selbst nicht wirklich wütend oder ängstlich. Das gilt sogar für einen Horrorfilm: Wenn man den Fernseher ausschaltet oder das Kino verläßt, verschwindet der Schrecken, weil man sich erinnert, daß es nur ein Film war. Daher erfährt man diese Gefühle nicht wirklich selbst, denn, wie Lessing sagt: „das unangenehme Element fehlt“, mit dem man sich auseinandersetzten müßte.
Was Lessing in Bezug auf das Mitleid sagt, ist etwas ganz anderes. Weil hier der Affekt, das Mitleid ein Objekt findet - das Unglück des tragischen Helden - und Mitleid eine spezifisches Form der Erkenntnis ist.
Nicolai, der im Dialog mit Mendelssohn und Lessing stand, meint: Nein, die Tragödie sei nur dort wirkungsvoll, wo der Betrachter seine eigene Seele spüre. Lessing widerspricht dem und sagt deutlich: Ich stimme mit dieser ganzen Aristotelischen Schule nicht überein. Am 31. August 1756 beginnt der Briefwechsel. Nicolai schreibt, er werde das Argument des Aristoteles, der Zweck der Tragödie sei die Reinigung der Gefühle, widerlegen. Das sei der wichtigste Grund, warum so viele Dramen, die in Deutschland geschrieben wurden, schlechte Dramen seien. Denn wenn der Zweck des Dramas die moralische Verbesserung der Zuhörer sei, ende man bei den furchtbaren Moralstücken. Nicolai behauptet, das beste Stück sei dasjenige, welches die Leidenschaften am meisten anstachle. Deshalb sei die Verwicklung der Handlung im Drama das wichtigste, weil sie am stärksten die Leidenschaften errege. Und dann zählt er verschiedene Kategorien von Schauspielen auf, u.a. griechische Tragödien, und zeigt auf, daß diese alle möglichen Emotionen hervorrufen: Furcht, Mitleid, Bewunderung usw.
Im Oktober 1756 schreibt Lessing an Mendelssohn: „Ich lese Ihre Mitteilung über Naumanns metaphysische Diskussion mit einer edlen Dame.“ Dieser Naumann wollte eine Philosophie für Damen herausgeben, was allerdings nie veröffentlicht wurde. Lessing fährt fort: „Nachdem ich das von Ihnen gehört habe, konnte ich nicht umhin auszurufen: ,Warum ist er nicht einfach ertrunken?’ Dieser Gedanke ist übrigens nach Ihrem eigenen System nicht so bösartig, wie es scheint, denn das Beste für eine einzelne Person muß immer hinter dem Gemeinwohl zurückstehen. Und es wäre für ihn selbst auch ehrenvoller. Wäre es nicht besser, als schlechter Dichter, denn als schlechter Philosoph zu ertrinken? Übrigens sage ich ihm ein solches Schicksal weder voraus, noch wünsche ich es ihm - Gott, nein! Das tue ich nicht. Ich würde eher mein eigenes Leben riskieren, um ihn aus dem Wasser zu retten, wenn er hineingefallen wäre. Aber Tatsache ist nun mal: Naumann ist nicht klug.“
Der Hintergrund dieser Geschichte ist, daß dieser Naumann ein lausiger Dichter war, der aber gleichzeitig viel Geld verdienen wollte. Er wollte eine Schiffsladung Damenstrümpfe nach Amerika verkaufen, aber das Schiff sank, und er verlor sein ganzes Geld. Er schrieb ein Gedicht darüber und schickte es an Lessing. Darauf bezieht sich Lessing: besser als schlechter Dichter ertrinken denn als schlechter Philosoph.
Im November 1756 antwortete Lessing Nicolai schließlich auf dessen ersten Brief vom 31. August. Er schrieb, er stimme darin überein, daß die Ansicht, die Tragödie müsse die Menschen besser machen, viele wohlmeinende, aber schlechte Tragödien bescherte. Aber das zweite Prinzip - je mehr Leidenschaften ein Drama hervorrufe, desto besser - solle man erforschen, und untersuchen, welche Leidenschaften von einem Drama erregt werden.
Lessing geht noch einmal auf diese Fragen ein: Wird man wirklich freudig? Verliebt man sich? Oder ist es etwas anderes? Die Antwort lautet: nein! Und er wiederholt: Das einzige Gefühl, das erweckt wird, ist Mitleid. Furcht und Bewunderung sind keine echten Gefühle. Furcht entsteht, wenn das Gefühl überrascht wird. Wenn z.B. ein Geist erscheint, wie in Hamlet, ahnt man voraus, daß dieser Geist etwas mit dem Unglück der Person zu tun hat. Vor einem Geist als solchem würde man sich nicht fürchten. Deshalb nennt er „Schrecken“ ein „Gefühl der Überraschung“. Oder Bewunderung: wenn der Held Pech hat, aber so erhaben ist, daß das Mitleid sich in Bewunderung verwandelt. Furcht, Schrecken und Bewunderung sind lediglich Stufen auf einer Leiter, in deren Mitte das Mitleid liegt, und wenn das zu früh geweckt wird, entsteht Schrecken, wenn es zu weit getrieben wird, entsteht das Erhabene, es verwandelt sich in Bewunderung.
Der Zweck der Tragödie, meint Lessing, sei, das Mitleid zu vergrößern. Sie soll nicht das Mitleid mit dieser oder jener unglücklichen Person in einer bestimmten Situation im Stück erhöhen, sondern das Mitleid mit allen Unglücklichen aller Zeiten in jeder Lage erziehen - uns bewegen, sich für sie einzusetzen.
Lessing sagt an einer anderen Stelle, die Menschen sollten Tragödien und auch Komödien studieren, weil wir auf der Bühne mit Konflikten konfrontiert werden, denen wir auch im wirklichen Leben begegnen können, wo sie aber so plötzlich auftreten, daß wir keine Zeit haben, uns darauf vorzubereiten. Schiller sagt zum Beispiel in der Einführung zur Braut von Messina, einem Stück, das er ganz im griechischen Stil schrieb, daß große Tragödien oder große klassische Kunst in uns eine emotionale Kraft wecken, die auch noch wirksam bleibt, lange nachdem wir das Theater verlassen haben.
Ich glaube, das ist unbedingt richtig - sowohl im positiven als leider auch im negativen Sinne. Ich habe zweimal den Fehler gemacht, mir ein Stück von Schiller bzw. Shakespeare anzusehen, die in diesem furchtbaren modernen Regietheaterstil aufgeführt wurden, und es erweckte fürchterliche Gefühle in mir, die ich nicht abstellen konnte, sie beschäftigten mich mehrere Tage lang. Gleichzeitig gilt, daß es auch in uns bleibt, wenn man eine wirklich erhebende Vorstellung gesehen hat und veredelt wurde. Man hat emotional etwas gelernt, was nicht mehr verschwindet. Mit großer Musik verhält es sich ähnlich, Schiller sagt es über große Tragödien.
Lessing betont, der Zweck der Tragödie sei, uns Mitleid für alle Unglücklichen aller Zeiten in allen Situationen zu lehren und uns zu bewegen, uns für sie einzusetzen. Das ist das Hauptproblem, mit dem wir es zu tun haben. Warum sagen Menschen nicht sofort: „Die Welt ist in einem furchtbaren Zustand: Afrika stirbt, die Kultur ist widerwärtig, die meisten Menschen leiden unter ihrem furchtbaren Leben. Ich muß mein Leben dazu benutzen, das zu ändern.“ Nein, die Menschen reagieren nicht so. Sie sagen: „Das lasse ich gar nicht an mich herankommen. Ich lasse das Elend in Afrika nicht an mich heran. Es würde mir den Abend verderben.“ Viele Menschen sagen: „Ich schaue mir die Nachrichten nicht mehr an, weil man nur noch schlechte Nachrichten zu sehen bekommt und ich mir den Tag nicht mit dieser Wirklichkeit verderben will.“
In den Ästhetischen Briefen, die auf diesen früheren Schriften besonders von Lessing und Mendelssohn beruhen, stellte Schiller fest, das Hauptproblem der Zeit sei der Mangel an Einfühlungsvermögen, mangelnde Entwicklung der sinnlichen Fähigkeiten dieser emotionalen Seite der Erkenntnis. Die meisten Menschen vernachlässigen das. Sie sagen: „Ich muß viel lernen, ich muß das alles wissen...“, aber sie legen wenig Wert darauf, daß ihre Emotionen auf die gleiche Ebene der Vernunft erzogen werden müssen, damit beides nicht im Widerspruch steht. Die ästhetische Erziehung nimmt sich dieses Problems an.
Lessing sagt also: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch; er ist bereit, auf der Grundlage aller bürgerlichen Tugenden zu handeln und alle Arten der Großzügigkeit zu demonstrieren. Und deshalb macht uns das, was uns mitleidiger macht, besser und tugendhafter. Das Gleiche gilt für die Komödie, weil sie uns befähigt, alle möglichen Absurditäten und schrullige Menschen zu erkennen, weil man sie auf spielerische Weise studiert hat und sie nicht in seinem eigenen Verhalten wiederholen wird und dadurch vielleicht zu einem gebildeten Menschen wird. Die Tragödie wie die Komödie sollen uns Vergnügen bereiten.
Dann erörtern sie, wie ein Drama zu gestalten sei, damit diese Wirkung entstehe. Die Person, die im Stück ein Unglück trifft, muß gute Eigenschaften und Fähigkeiten haben, und das Unglück muß in Übereinstimmung mit den Fähigkeiten bleiben. Man braucht eine gute Person und ein großes Unglück, nicht aber große Fähigkeiten und ein kleines Unglück oder umgekehrt, sie müssen in etwa gleichwertig sein, um diesen Effekt zu erzeugen. Daher darf der Dichter keinen nur bösen Menschen auf die Bühne stellen, denn mit einer durchwegs bösen Person empfindet man kein Mitgefühl. Und man sollte Gott nicht auf die Bühne stellen, weil er so vollkommen ist, daß keine Tragödie entstehen kann, nur Bewunderung.
Es stellt sich also die Frage, wie man eine Tragödie anlegen muß, um höchstes Mitgefühl zu erwecken. Lessing meint nicht bloß den Ausgang des Stückes, ob es schlecht endet und man es daher als Tragödie bezeichnet, sondern er sagt, diese Tragödie müsse während des gesamten Stückes behandelt werden. In einem Brief an Nicolai vom 19. November schreibt er, das Ziel sei, das Publikum zu rühren, sogar zu Tränen.
Als Beispiel nennt er einen Bettler. Jemand geht zu ihm und fragt nach seinem Unglück, und er antwortet: „Ich habe vor drei Jahren meine Arbeit verloren, meine Frau ist krank, meine Kinder sind zu klein, um für sich selbst zu sorgen, und ich bin erst gestern von einer schweren Krankheit genesen.“ Man fragt den Bettler: „Wer sind Sie?“ Er antwortet: „Ich habe für einen Minister gearbeitet, und ich könnte meine Arbeit sofort wiederbekommen, wenn ich bereit wäre, das Geschöpf dieses bösen Ministers zu werden.“ Lessing meint, das sei eine traurige Geschichte, aber sie würde niemanden zu Tränen rühren. Aber wenn der Bettler sagte: „Ich habe meine Arbeit verloren, weil ich ehrlich war und mich bei diesem Minister unbeliebt gemacht habe, deshalb leide ich jetzt Hunger, und meine kranke Frau und meine Kinder haben Hunger und gehen lieber betteln, als anzuschauen, wie ich böse werde, weil sie nicht ertragen könnten, daß ich böse werde.” In diesem Fall mag die mitfühlende Person sogar zu Tränen gerührt werden, weil man hier eine Geschichte hört, in der Fähigkeit und Unglück in einem ausgeglichenen Verhältnis zueinander stehen.
Man nimmt eine Waage; auf der einen Schale liegt das Unglück, auf der anderen das Mitgefühl. Wir betonen jetzt die eine oder andere Seite etwas mehr und sehen, wie das die emotionale Reaktion der Zuschauer beeinflußt. Wir sehen den gleichen Bettler, den Unglücklichen, der seine Geschichte weitererzählt: „Wenn meine Frau nur wieder gesund wird, wird alles besser, denn wir sind tapfere Leute und schämen uns nicht, unser Geld mit unser Hände Arbeit zu verdienen. Wir können Holz hacken oder etwas anderes Praktisches tun, was, ist nicht so wichtig. Es kommt nicht darauf an, ob wir mit unseren Händen oder in der Verwaltung arbeiten, sondern allein darauf, daß wir das Gute wollen.“ Lessing sagt: In diesem Augenblick trocknen unsere Tränen und machen der Bewunderung dieses ehrenvollen Verhaltens Platz. Aber wir sind nicht mehr gerührt.
Betrachten wir nun die andere Wagschale: Das Unglück wird zu groß. Die Geschichte geht weiter: Der Bettler bekommt keine Almosen, jeder weist ihn zurück und sagt: „Geh jetzt!“ Sein Hunger wächst, er wird dadurch geistig verwirrt, seine Wut wächst, und in seiner Verzweiflung tötet er seine Frau, seine Kinder und schließlich sich selbst.
Lessing fragt nun, ob wir immer noch weinen können? Offenbar nicht, denn hier hat das Leid das Mitgefühl eingeholt, und das Mitgefühl hört auf. Er bringt andere, besser durchdachte Beispiele aus der griechischen Tragödie, die man aber ausführlich erklären müßte, deshalb habe ich eine relativ einfache Geschichte ausgewählt. Aber er wendet das gleiche Prinzip bei Ödipus, bei Hekabe und anderen griechischen Tragödien an. Wenn jemand Tragödien oder Komödien schreiben möchte, ist es nützlich, dies zu lesen. Denn man erhält eine Vorstellung davon, wie die Dichter abwogen, ihre Charaktere bildeten, welchen wissenschaftlichen Effekt dies auf die Zuschauer hat. Wir kommen darauf gleich wieder mit Schiller zurück.
Lessing will möglichst viele Menschen zu selbständig denkenden Wesen machen, die zu individuellem Mitgefühl fähig sind - Persönlichkeiten, die sich harmonisch zu einem Individuum entwickeln. Und Mitleid ist am wichtigsten. Als Lessing und Mendelssohn diese Briefe schrieben, wurde Mendelssohn der „Sokrates des 18. Jahrhunderts“ genannt. Er setzte Platons Phaedon fort, er war ein außergewöhnlicher, überragender Geist und wurde als solcher im Deutschland des 18. Jahrhunderts angesehen. Sie taten das alles gegen die französische und englische Aufklärung, gegen die Ideen von Locke, Hobbes und deren Vorstellung, daß nur Egoismus und persönlicher Nutzen die Menschen zu Handlungen anstacheln würde.
Man darf sich nicht gemäß dieser Theorie verhalten, sondern muß die Menschen so organisieren, daß sie Mitgefühl füreinander empfinden. Es ist ein frontaler Angriff auf die Aufklärung. Lessing und Mendelssohn verwarfen alles, was auf einen Masseneffekt abzielt. Beispielsweise würden sie nicht zu Fußballspielen gehen. Sie wären entsetzt gewesen, wenn sie die Fußballweltmeisterschaft in Berlin im letzten Sommer gesehen hätten, als alle diese Menschen der Raserei verfielen. Und sie wären vollkommen entsetzt über ein Pop- oder Rockfestival, wo 10.000 junge Leute alle in einer seltsam dionysischen orgiastischen Stimmung sind. Solche Mobs sind genau das Gegenteil von dem, was die ästhetische Erziehung beinhaltet. Niemand wird auf diesen Massenveranstaltung ästhetisch gebildet, zumindest nicht im wirklichen Sinne.
Bei Videospielen etwa werden die Menschen autistisch. Wenn sie stundenlang Videospiele spielen, entwickeln sie zwar bestimmte geistige Fähigkeiten wie schnelle Reaktionen. Aber diese Fähigkeiten scheinen in einem toten Teil des Geistes angesiedelt, weil es reine Logik ist, fast wie eine digitale Reaktion im Kopf. Und diese Menschen haben keine Gefühle. Man kann bei Videospielen keine Gefühle haben, man wird autistisch, weil man sie nicht entwickelt. Wie Lessing vermutlich sagen würde: Wie kann man bei einem Videospiel mitfühlen?
Bei Tests für eine Studie über Videospiele hat man Schüler, Kinder, junge Leute, die stundenlang diese Spiele spielen, mit Familienstreitigkeiten, politischen Katastrophen, Naturkatastrophen und gewissen Szenen in Videospielen konfrontiert, und sie haben praktisch keine Emotionen gezeigt. Wenn aber das Videospiel getestet wird, reagieren sie sehr emotional. Ich finde das wirklich sehr interessant.
Wenden wir uns jetzt Schiller zu. In gewissem Sinne entstand die Idee, daß der Mensch ästhetisch erzogen werden kann, wie ich versucht habe darzustellen, aus einem langen Kampf, bis jemand die richtige Idee hatte. Schiller verfaßte die Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen und viele andere ästhetische Schriften, z.B., warum Menschen Freude an tragischen Dingen haben. Er schrieb zwei sehr schön Artikel über das Erhabene, was ihn einzigartig macht, denn kein anderer hat über das Erhabene geschrieben. Schiller schuf mit der Idee des Erhabenen ein völlig anderes Universum der Tragödie. Er war deutlich von Lessing und Mendelssohn beeinflußt, und man sollte wissen, daß die Brüder Alexander und Wilhelm von Humboldt oft bei den Mendelssohns zu Gast waren. Bisher habe ich über den fruchtbaren Boden, aus dem die Deutsche Klassik hervorging, gesprochen. Schiller sagte in Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen fast das gleiche. Er wiederholte, was Lessing früher ausgeführt hatte: daß das gut gemeinte Verlangen, das moralisch Gute in der Kunst als Ziel anzustreben, so viel Mittelmäßigkeit hervorgebracht und ähnlichen Schaden in der Theorie angerichtet habe.
Die Hauptidee der Ästhetischen Briefe ist die folgende. Schiller fragt: Warum ist die Französische Revolution gescheitert? Er behauptet, weil die subjektiven Bedingungen nicht vorhanden waren. Aber was soll der einzelne tun, woher soll die Veredlung kommen, wenn die Massen degeneriert und die Regierungen korrupt sind?
Er gibt eine überraschende Antwort: Die Veränderung muß durch große klassische Kunst kommen. Warum? Weil große klassische Kunst nur dann große klassische Kunst ist, wenn sie den wahren Prinzipien dieser Kunst folgt. Deshalb kann ein Tyrann sie einschränken, er kann sie verbieten, aber er kann nicht in ihr regieren.
Ein Dichter verdient laut Schiller nur dann, als großer Dichter bezeichnet zu werden, wenn er in dem Augenblick, in dem er große Kunst schafft und eine Tragödie oder ein Gedicht schreibt, sich selbst idealisiert. Er muß sich selbst erheben, um ein vollkommener Mensch zu werden, sonst sollte er nicht wagen, die Zuschauer zu rühren. Weil er eine solche Macht ausübt, daß er Emotionen wecken und Menschen verändern kann, sollte sich der Künstler und besonders der Dichter nicht vor ein Publikum stellen, wenn er sich nicht selbst zum idealen Menschen veredelt hat, und er sollte nicht über ein Thema reden, das nicht universell ist. Wenn er diese zwei Bedingungen nicht erfüllt, erzeugt er keinen wissenschaftlich erkennbaren Effekt im Publikum.
Man muß sich veredeln, man muß die höchsten Ideale mobilisieren. Wenn Sie zu Hause ein Gedicht schreiben, dann nicht einfach, weil Sie gerade Bohnen gegessen haben und Ihr Magen voll ist, und Sie das jetzt loswerden müssen! Das Thema, über das man schreibt, sollte von universellem Interesse für die Menschheit sein. Darum sind so viele dieser Gedichte in der Art von „Die Luft ist so blau und die Blätter sind so grün“, schlechte Gedichte. Schiller fordert, daß das Thema, das man diskutiert, von allgemeinem Interesse und ein wahrhaftiger Gegenstand für die Menschheit sein müsse. Nur dann kann man es als großartig bezeichnen. Wenn man diese zwei Bedingungen erfüllt, kann man eine wissenschaftlich wißbare Wirkung auf das Publikum beobachten.
Schiller schreibt in einer Kritik Über Bürgers Gedichte:
„Mit Recht verlangt er von dem Dichter, der ihm, wie dem Römer sein Horaz, ein teurer Begleiter durch das Leben sein soll, daß er im intellektuellen und sittlichen auf einer Stufe mit ihm stehe, weil er auch in Stunden des Genusses nicht unter sich sinken will. Es ist also nicht genug, Empfindung mit erhöhten Farben zu schildern; man muß auch erhöht empfinden. Begeisterung allein ist nicht genug; man fordert die Begeisterung eines gebildeten Geistes.
Alles, was der Dichter uns geben kann, ist seine Individualität. Diese muß es also wert sein, vor Welt und Nachwelt ausgestellt zu werden. Diese seine Individualität so sehr als möglich zu veredeln, zur reinsten herrlichsten Menschheit heraufzuläutern, ist sein erstes und wichtigstes Geschäft, ehe er es unternehmen darf, die Vortrefflichen zu rühren. Der höchste Wert seines Gedichtes kann kein andrer sein, als daß es der reine vollendete Abdruck einer interessanten Gemütslage eines interessanten vollendeten Geistes ist...
Eines der ersten Erfordernisse des Dichters ist Idealisierung, Veredlung, ohne welche er aufhört, seinen Namen zu verdienen. Ihm kommt es zu, das Vortreffliche seines Gegenstandes, (mag dieser nun Gestalt, Empfindung oder Handlung sein, in ihm oder außer ihm wohnen,) von gröbern, wenigstens fremdartigen Beimischungen, zu befreien, die in mehrern Gegenständen zerstreuten Strahlen von Vollkommenheit in einem einzigen zu sammeln, einzelne, das Ebenmaß störende Züge der Harmonie des Ganzen zu unterwerfen, das Individuelle und Lokale zum Allgemeinen zu erheben. Alle Ideale, die er auf diese Art im Einzelnen bildet, sind gleichsam nur Ausflüsse eines innern Ideals von Vollkommenheit, das in der Seele des Dichters wohnt.“
Anders ausgedrückt: Wenn man ein Gedicht schreibt, sieht man die Seele des Dichters. Wenn man einen Artikel oder ein Flugblatt oder ein Buch schreibt, ist das immer noch irgendwie objektiv, verglichen mit einem Gedicht. Aber ein Gedicht gibt etwas von seinen innersten Geheimnissen preis.
Was braucht der Dichter, um ein solcher idealisierter Mensch zu werden? Wie wird man ein idealer Mensch, wenigstens zeitweise? Schiller antwortet wie Lessing und Mendelssohn: Man muß die Menschheit veredeln. Schillers höchstes Bild des Menschen war die „schöne Seele“. In seiner Schrift Über Anmut und Würde schreibt er dazu:
„Eine schöne Seele nennt man es, wenn sich das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen endlich bis zu dem Grad versichert hat, daß es dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf, und nie Gefahr läuft, mit den Entscheidungen desselben in Widerspruch zu stehen. Daher sind bei einer schönen Seele die einzelnen Handlungen nicht sittlich, sondern der ganze Charakter ist es. Man kann ihr auch keine einzige darunter zum Verdienst anrechnen, weil eine Befriedigung des Triebes nie verdienstlich heißen kann. Die schöne Seele hat kein andres Verdienst, als daß sie ist.“
Man nennt einen Menschen eine schöne Seele, wenn er so sicher über alle seine Gefühle geworden ist, daß er die Leitung des Willens den Emotionen geben kann, ohne Gefahr zu laufen, daß diese anders entscheiden als der Wille. Deshalb nennt man bei einer schönen Seele nicht die einzelnen Handlungen schön oder edel, weil es der ganze Charakter ist, der alle Handlungen bestimmt, der moralisch ist. Die schöne Seele handelt natürlich, sie will ein Verlangen befriedigen, nicht etwas erreichen. Die schöne Seele handelt schön, weil sie schön ist.
Schiller führt an anderer Stelle aus: „Eine schöne Seele ist der Mensch, für den Freiheit und Notwendigkeit, Pflicht und Leidenschaft in eins fallen.“ Wenn man alle seine Emotionen auf diese hohe Stufe erzogen hat, muß man das Notwendige tun, das eine Pflicht ist, aber man tut es nicht gegen die Emotionen. Die meisten Menschen sagen: „Ich muß diese fürchterliche Arbeit erledigen, aber weil ich moralisch bin, unterdrücke ich meine Emotionen.“ Dann werden sie zu Kantianern, weil sie den „moralischen Imperativ“ benutzen müssen. Schiller sagte, Kant müsse eine schreckliche Kindheit gehabt haben, weil er keine schöne Seele war; er schrieb nicht für uns, er schrieb nur für Sklaven. Dieser kategorische Imperativ sei vielleicht in Momenten nützlich, in denen man noch nicht ganz eine schöne Seele ist. Bevor man seinen inneren Schweinehund herausläßt - sozusagen seine Emotionen in verschiedene Richtungen galoppieren läßt -, sollte man lieber Kants kategorischen Imperativ folgen, um einigermaßen moralisch zu bleiben. Aber das ist kein Dauerzustand.
Schillers gesamte ästhetische Schriften sind ein Angriff auf Kant. Kant fing in dem Augenblick an, seine Kritiken zu schreiben, als Mendelssohn tot war. Hätte er diesen Unsinn geschrieben, als Mendelssohn noch lebte, hätte dieser ihn auseinandergenommen, denn er war der Sokrates des 18. Jahrhunderts.
Nach Mendelssohns Tod schrieb Kant die Kritik der Urteilskraft, die Kritik der reinen Vernunft und die Kritik der praktischen Vernunft. In der Kritik der Urteilskraft beschreibt er praktisch die verrückte Idee, daß man Vernunft besitzen könne, die gesetzmäßig sei, aber man habe auch Geschmack und Kunst, die keinem Gesetz folgen sollten. Er geht sogar so weit zu sagen, eine Arabeske, die ein Maler an die Wand wirft, auf der man die Bedeutung, aber keinen Plan erkennen kann, sei schöner als ein Gemälde, in dem man den Goldenen Schnitt oder eine andere Absicht oder einen Plan des Malers erkennen könne. Kant greift die Einheit von Schönheit, Wahrheit und Wissen an.
Schillers Ziel dagegen ist die schöne Seele, ein Mensch, der nicht nur auf alle die anderen Dinge achtet, sondern auch mitfühlend ist. In Über Anmut und Würde schreibt er, die schöne Seele sei am glücklichsten, wenn andere Menschen zu schönen Seelen werden - wenn also andere Menschen kreativ werden, wenn andere Menschen all die Dinge verwirklichen, welche die schöne Seele selbst für sich verwirklichen möchte. In gewissem Sinne versteht Schiller diese Idee höchst politisch, denn er sagt, das größte Kunstwerk sei der Aufbau einer wahren politischen Freiheit.
Im zehnten Ästhetischen Brief schreibt er: „Dieser reine Vernunftbegriff der Schönheit, wenn ein solcher sich aufzeigen ließe, müßte also - weil er aus keinem wirklichen Fall geschöpft werden kann, vielmehr unser Urteil über jeden wirklichen Fall erst berichtigt und leitet - auf dem Weg der Abstraktion gesucht und schon aus der Möglichkeit der sinnlich vergünstigten Natur gefolgert werden können; mit einem Wort: Die Schönheit müßte sich als eine notwendige Bedingung der Menschheit aufzeigen lassen.“
Ich bin absolut sicher, daß wir ohne Schönheit nicht menschlich sind. Und ohne die Schönheit in der Kunst, ohne Schönheit in den sozialen Beziehungen, ohne die Schönheit unserer Seele, tun wir nicht das Richtige. Ich denke, jeder von uns sollte das Ziel haben, schnell eine schöne Seele zu werden. Es ist viel wichtiger, daß die Menschen dies als Ideal verfolgen, als einen schönen Körper zu haben und ins Fitneßcenter oder in den Schönheitssalon zu gehen. Die meisten Leute geben eine ganze Menge Geld für ihre äußere Schönheit aus, aber sie kümmern sich fast nicht um die Schönheit ihrer Seele. Ich denke also, das Beste, was man machen kann ist, daran zu arbeiten und das zum Ideal zu erheben.
In den Kallias-Briefen zeichnet Schiller das Bild des guten Samariters. Er nennt dieses Beispiel: Ein verletzter Mann liegt am Straßenrand, andere Menschen gehen vorbei, und Schiller zeigt anhand von fünf Beispielen ihre Motive auf, ihm zu helfen. Der erste Mann fragt: „Welche Ehre habe ich davon, wenn ich es tue?“; der zweite: „Mich interessiert zuerst, welchen Vorteil ich davon habe“, usw. Erst der fünfte Fall ist der wahre gute Samariter. Er legt sein Bündel ab, ohne darauf zu achten, ob er es vielleicht nicht wiederbekommen wird. Er bringt den verletzten Mann in die nächste Stadt, damit er versorgt werden kann, ohne groß darüber nachzudenken.
Ich bin überzeugt, daß diese Haltung, zu tun, was man tun muß, wenn man gebraucht wird, eine Eigenschaft ist, die auch Führungstalent ist und gleichzeitig den Weg zur Genialität weist. Man wird kein Genie, wenn man alles lernt, was auf dem Lehrplan steht, aber kein Mitgefühl hat. Sie werden keine Genies, auch wenn Sie alles lesen, was LaRouche geschrieben hat, wenn Sie es nur „wissen“, aber nicht wirklich mit aller Entschlossenheit und Mitgefühl als schöne Seelen davon überzeugt sind.
Diese Idee einer emotionalen Entwicklung - soviel wie möglich darauf zu achten, daß die Seele schön wird -, das ist etwas, worüber man nachdenken sollte, denn es ist nicht selbstverständlich. Diese Frage halte ich für sehr wertvoll. Und Lessing, Mendelssohn und Schiller haben meiner Meinung nach das beste darüber geschrieben.
Lesen Sie hierzu bitte auch:
Moses Mendelssohn gab Deutschland seine Seele - Neue Solidarität Nr. 13/2007 Stellungnahmen der BüSo-Vorsitzenden Helga Zepp-LaRouche - Internetseite der Bürgerrechtsbewegung Solidarität (BüSo) Ein "roter Faden" durch Friedrich Schillers Schrift: Über die ästhetische Erziehung des Menschen - Neue Solidarität Nr. 52/2003 |
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