Von Elke Fimmen
Am 5. April 1945 wird bei der Mittagsbesprechung mit Hitler diskutiert, wer von den noch übriggebliebenen Persönlichkeiten der deutschen Widerstandsbewegung überleben und wer unter allen Umständen eliminiert werden soll. Am 7. April leitet der Kommandant des Berliner Gefängnisses in der Prinz-Albrecht-Straße, Gogalla, mit der Vollmacht einer Geheimen Reichssache ausgestattet, den Transport derjenigen, die überleben sollten, nach Süden. Darunter befinden sich der frühere Finanzminister und Reichsbankchef Hjalmar Schacht, der die Unterstützung des britischen Zentralbankchefs Montagu Norman für Hitlers Machtergreifung vermittelt hatte, der frühere Generalstabschef Halder, von Bonin, die Familie des früheren österreichischen Kanzlers Schuschnigg, General Alexander von Falkenhausen, Kokrin (der Neffe des russischen Außenministers Molotow), die Engländer Best und Falconer sowie der evangelische Pastor Martin Niemöller, der nach dem Krieg eine wichtige Rolle in der Evangelischen Kirche Deutschlands spielte.
Am gleichen Tag beginnt im Konzentrationslager Flossenbürg ein summarisches Standgericht gegen den früheren Abwehrchef Admiral Wilhelm Canaris, Oberst Oster, Sack, Strünk, Gehre und Dietrich Bonhoeffer, das sich allerdings wegen der Abwesenheit Bonhoeffers noch verzögert. Bonhoeffer war versehentlich unter diejenigen geraten, die laut Hitlers Anweisung überleben und nach Süden gebracht werden sollten. Man holt ihn von Schönberg im Bayerischen Wald zurück nach Flossenbürg. Dort wird er am Montag, dem 9. April 1945, im Alter von 39 Jahren zusammen mit den anderen hingerichtet.
Es ist zu vermuten, daß Hitler in letzter Minute noch diejenigen aussuchte, welche er aufgrund ihrer Reputation und Verbindungen dem Ausland gegenüber unter Umständen einsetzen könnte, um sich nach der Kapitulation eine bessere Ausgangsposition zu verschaffen. Man sollte jedoch dabei nicht übersehen, daß er mit dieser Selektion auch im Sinne jener Kräfte der britischen Elite handelte, die es während des gesamten Krieges immer wieder abgelehnt hatten, den deutschen Widerstand gegen Hitler zu unterstützen. Dies hätte nicht den geostrategischen Plänen derjenigen entsprochen, die Hitlers Machtergreifung unterstützt hatten. Deutschland und Rußland sollten sich gegenseitig zerstören, dann wäre ein schwaches Kontinentaleuropa beliebig manipulierbar geworden.
Wem dies übertrieben erscheint, der sei an das interne Memorandum des Briten Sir John Wheeler-Bennet erinnert, das dieser unmittelbar nach dem mißlungenen Attentat vom 20. Juli 1944 verfaßte. Er schrieb darin, es sei "zu unserem Vorteil, wenn die Säuberungen weitergehen. Durch das Scheitern der Verschwörung sind uns, wie auch den USA, die Schwierigkeiten erspart geblieben, die sich aus solch einer Bewegung hätten ergeben können. Mehr noch, die gegenwärtige Säuberungswelle entfernt vermutlich viele Individuen von der Szene, die uns Schwierigkeiten hätten machen können, nicht nur nach einer erfolgreichen Verschwörung, sondern auch nach der Niederschlagung Nazideutschlands. Die Gestapo und die SS haben uns mit der Entfernung einer Auswahl derer, die sich unzweifelhaft nach dem Krieg als ,gute' Deutsche erwiesen hätten, einen nennenswerten Dienst erwiesen."1
Einer dieser "guten Deutschen" war Dietrich Bonhoeffer. Er ist sicherlich eine der beeindruckendsten Persönlichkeiten der Widerstandsbewegung, die sich von Anfang an konsequent der menschenverachtenden Brutalität des Nationalsozialismus entgegenstellte.
Dietrich Bonhoeffer wurde am 4. Februar 1906 in Breslau als fünftes von acht Kindern geboren. Sein Vater war der bekannte Psychiatrieprofessor Karl Bonhoeffer, der sechs Jahre später den Lehrstuhl für Psychiatrie und die Leitung der Berliner Charité übernahm. Bonhoeffers Mutter Paula war eine geborene von Hase. Sie hatte das Lehrerinnenexamen abgelegt und unterrichtete ihre Kinder selbst, da sie der Ansicht war, den Deutschen werde das Rückgrat im Leben zweimal gebrochen, "einmal in der Schule und einmal beim Militär". Das Elternhaus war von der klassisch humanistischen Erziehung geprägt. Der Vater las den Kindern aus den Werken der Klassiker vor. Hausmusik wurde intensiv gepflegt. Dietrich Bonhoeffer hätte aufgrund seiner Liebe zur Musik und großen Virtuosität fast eine Laufbahn als Konzertpianist eingeschlagen. Leeres Gerede war im Hause Bonhoeffer verpönt, so daß die Kinder allesamt gewöhnt waren, sich selbst strengen Anforderungen zu unterziehen.
Bonhoeffers Entschluß, Theologie zu studieren, wurde wesentlich durch den Ersten Weltkrieg und die daraus folgenden radikalen sozialen und politischen Veränderungen in Deutschland mitbestimmt, die ihn Antworten auf die grundlegenden Fragen der menschlichen Existenz suchen ließen. Seine Familie war nicht kirchlich geprägt, im Gegenteil: Obwohl man mütterlicherseits Theologen und sogar einen Hofprediger Wilhelms II. in der Familie hatte, war die evangelische preußische Kirche wegen ihrer geistigen Enge nicht beliebt. Daher stieß auch Dietrichs Entschluß, Theologe zu werden, zuerst nicht unbedingt auf Begeisterung. Der Vater meinte, er habe "ihn eigentlich zu klug dafür gehalten".
Der Erste Weltkrieg und dann die Wirren der Weimarer Republik erschütterten auch die Bonhoeffersche Familie. Einer der beiden Brüder, die sich freiwillig an die Front gemeldet hatten, fiel. Dietrich Bonhoeffer äußerte sich 1929 über die sozialen und psychologischen Auswirkungen dieser Zeit, die ganz verschiedene Generationen erzeugt habe: "Zunächst diejenigen, deren Entwicklungs- und Reifezeit vor dem Kriegsbeginn liegt, dann die, die der Krieg früher oder später reifte, ferner das Geschlecht der Revolutionsjugend, deren Erwachsen und Werden in den Jahren von 1918 bis, sagen wir, 1923 lag, schließlich nicht zu vergessen diejenigen, denen die Zukunft gehören wird, die Krieg und Revolution nur noch vom Hörensagen kennen. So hat die rasche Folge der Ereignisse in weniger als 20 Jahren vier geistige Generationen erzeugt."
Er begann 1923 mit dem Theologiestudium in Tübingen. Ab 1924 studierte er dann in Berlin u.a. bei Adolf von Harnack, der seit 1921 emeritiert war, aber noch in seinem Privathaus - Bonhoeffer und Harnack waren praktisch Nachbarn - Seminare für ausgewählte Studenten zu kirchengeschichtlichen Fragen abhielt. Es gelang Bonhoeffer schnell, in diesen Kreis Zugang zu gewinnen. Ein Studienkollege schreibt später dazu: "Schon bei den ersten Sitzungen fiel mir Dietrich Bonhoeffer auf. Nicht nur, daß er uns an theologischem Wissen und Können fast alle überragte, sondern was mich an Bonhoeffer leidenschaftlich anzog, war die Wahrnehmung, daß hier einer nicht nur lernte..., sondern daß hier einer selbständig dachte und schon wußte, was er wollte, und wohl auch wollte, was er wußte." Später setzte er sich intensiv mit der antipodischen Theologie Karl Barths auseinander. 1927 promovierte er dann bei Reinhold Seeberg mit einer Arbeit über "Sanctorum communio". Bereits drei Jahre später habilitierte er sich mit der Arbeit Akt und Sein, Transzendentalphilosophie und Ontologie in der systematischen Theologie, in der er sich mit Bultmann und Heidegger, aber auch Barth auseinandersetzte.
Zu Anfang des Studiums verstand er sich keineswegs als "Mann der Kirche", sondern als Theologe - ein Theologe, der selten Gottesdienste besuchte. Ein Besuch 1924 in Rom vermittelte ihm, der der Institution Kirche selbst immer fremd gegenüberstand, zum ersten Mal den "Begriff von Kirche". Ebenso wichtig war seine Erfahrung mit konkreten kirchlichen Aufgaben während des Theologiestudiums. Er entschloß sich, Pfarrer zu werden, und beendete diese Ausbildung ebenfalls 1930 nach einer Vikariatsausbildung in Barcelona bei der dortigen deutschen Gemeinde. Da er jedoch erst 24 Jahre alt war und damit das vorgeschriebene Alter zur Ordination noch nicht erreicht hatte, entschloß er sich zu einem einjährigen Studienaufenthalt am Union Theological Seminary in New York.
Dieser Aufenthalt in den USA auf der Höhe der Weltwirtschaftskrise hat ihn sicherlich sehr geprägt. Das Theologiestudium beeindruckte ihn, der an systematische Auslegungen gewohnt war, nicht sonderlich. Er war der Meinung, man lege sich die Theologie hier eher so zurecht, wie man sie brauche. Mehr berührte ihn der Kontakt mit der Bevölkerung in Harlem, mit der ihn sein schwarzer Studienkollege Frank Fisher in Kontakt brachte. Bonhoeffers enge Freundschaft zu Fisher war - trotz der Aufgeschlossenheit des College - keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Fisher nahm ihn mit ins "Howard College", die schwarze Universität von Washington. Bonhoeffer stieß dort auf Schriften der "National Association for the Advancement of Coloured People" (NAACP), die für die Bürgerrechte der Schwarzen eintrat. Fast jeden Sonntag verbrachte er in Harlem in der "Abyssinian Baptist Church", wo er am Gottesdienst und am Gemeindeleben teilnahm. Er nahm alle Spiritualplatten, derer er habhaft werden kann, nach Deutschland mit. Später sollten seine Pfarramtskandidaten sie im Seminar der "Bekennenden Kirche" in Nazideutschland hören.
Nach Deutschland zurückkehrt, begann er seine Vorlesungen als Privatdozent an der Berliner Universität, wo zur gleichen Zeit Romano Guardini lehrte. Bonhoeffer übernahm darüber hinaus eine Stelle als Studentenpfarrer und unterrichtete eine Konfirmandenklasse im Berliner Arbeiterviertel Wedding, wobei ihm seine Harlemer Erfahrungen sehr zugute kamen. Auch in seiner theologischen Arbeit bemühte er sich darum, Theologie und kirchliche Praxis zu verbinden, was ihn an der Universität bereits zum Außenseiter qualifizierte.
Einige seiner kirchlichen Vorgesetzten ermunterten ihn zu Aktivitäten in der ökumenischen Bewegung. Er wurde 1931 zu einem der drei internationalen Sekretäre der Ökumenischen Jugendarbeit bei der "World Alliance" in Cambridge ernannt.
An der Berliner Universität waren damals bereits viele Theologiestudenten Anhänger der NSDAP. Es wurde immer schwieriger, offene Diskussionen zu führen. Die evangelische Kirchenhierarchie sympathisierte offen mit Hitler. So erklärte der Generalsuperintendent und spätere Bischof von Berlin Dibelius 1933 seine Unterstützung für Hitlers Notverordnung mit den Worten: "Wenn es um Leben oder Sterben der Nation geht, dann muß die staatliche Macht durchgreifend und kraftvoll eingesetzt werden, es sei nach außen oder innen. Die Kirche darf der rechtmäßigen staatlichen Gewalt nicht in den Arm fallen, wenn sie tut, wozu sie berufen ist. Auch dann nicht, wenn sie hart und rücksichtslos schaltet."
Als Bonhoeffer drei Wochen nach der Machtergreifung einen Vortrag vor evangelischen Pfarrern in Berlin zum Thema "Judenfrage und Kirche" hielt, war er nach der Darstellung seiner Hauptthesen fast allein im Saal. Er hatte den Standpunkt vertreten, daß die Kirche sich nicht aus der Politik heraushalten dürfe, wenn der Staat grundlegende Menschenrechte außer Kraft setze. Es gebe drei Möglichkeiten des Handelns: Erstens, den Staat nach seiner Verantwortlichkeit zu befragen; zweitens den Dienst an den Opfern, auch "wenn sie nicht der christlichen Gemeinde zugehören". Und die dritte Möglichkeit bestehe darin, "nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen". Nun ging es in die offene Auseinandersetzung, und hier zeigte sich Bonhoeffer als einer der geistigen Führer des Widerstands, der im Sinne der Bergpredigt auf der Seite der Schwachen stand und damit ganz offen der brutalen Machtideologie der Nationalsozialisten den Kampf ansagte.
So kämpfte er entschieden gegen die "Deutschen Christen". Als diese mit Unterstützung Hitlers 1933 70 Prozent der Stimmen bei den deutschen Kirchenwahlen auf sich vereinigten und damit die evangelische Kirche dominierten, setzte sich Bonhoeffer im September 1933 bei der berüchtigten "Braunen Synode" in Wittenberg zusammen mit 2000 anderen Pfarrern in Flugblattaktionen gegen den sogenannten "Arierparagraphen" ein, mit dem die Kirche im NS-Staat "gleichgeschaltet" wurde. Die "Reichskirche" unter Reichsbischof Müller akzeptierte diesen Paragraphen, demzufolge vom jüdischen Glauben übergetretene Pfarrer, Vikare und Gemeindehelfer aus der Tätigkeit der evangelischen Kirche ausgeschlossen wurden.
Diese unhaltbare Situation veranlaßte Bonhoeffer, eine Vikariatsstelle in London bei der deutschen Auslandsgemeinde anzunehmen. Hier half er den ersten deutschen Emigranten, in England Fuß zu fassen. Er versuchte mit Erfolg, die Auslandskirche von der Reichskirche abzuspalten und zur Unterstützung der 1934 gegründeten Bekennenden Kirche zu bewegen. Er kämpfte in der ökumenischen Bewegung für ihre Anerkennung und für eine Verurteilung der Reichskirche. So attackierte er April 1934 in einem Brief an den Generalsekretär des "Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen" die Langsamkeit der ökumenischen Organisationen. "Man muß sich eben einmal entscheiden und kann nicht ewig auf ein Zeichen des Himmels warten. Gerade hier heißt es Jetzt oder Nie. Wenn die Ökumene das nicht begreift, dann ist die Ökumene nicht mehr Kirche, sondern ein nichtsnutziger Verein, in dem schöne Reden gehalten werden. Bekenntnis heißt es heute in Deutschland, Bekenntnis heißt es auch für die Ökumene." Die Unentschiedenheit der ökumenischen Institutionen führte später dazu, daß er 1937 seine ökumenischen Ämter niederlegte.
Als er sich 1935 zur Rückkehr nach Deutschland entschloß, lag ihm eine Einladung Mahatma Gandhis vor, nach Indien zu kommen. Diese Einladung, um die er sich sehr bemüht hatte, weil er den Weg des friedlichen Widerstands kennenlernen wollte, schlug er ebenso wie die Möglichkeit, in England zu bleiben, aus, weil er seinen Verpflichtungen in Deutschland nachkommen wollte. Damals schrieb er an seine Schwester: "Ich scheide ungern, aber aus sehr bürgerlichen Sicherheitsgefühlen. Diese darf man gar nicht erst groß werden lassen, sonst ist das Leben gar nichts mehr wert und macht keine Freude mehr."
Bonhoeffer folgte dem Ruf des Altpreußischen Bruderrates, ein Predigerseminar in Finkenwalde bei Stettin zu leiten, welches das Notkirchenregiment der Bekennenden Kirche eingerichtet hatte. Er begann˙diese Arbeit im April 1935 mit 23 Kandidaten. Verbunden damit gründete er als eine protestantische Gemeinschaft das Bruderhaus.
1936 vollzog sich auch in der Bekennenden Kirche die Trennung zwischen dem breiten kompromißbereiten Flügel, der von Hitlers Kirchenausschüssen mit dem Angebot einer Zusammenarbeit geködert wurde. Obwohl die Mitarbeit in den bis dahin von "Deutschen Christen" dominierten Kirchenausschüssen die "Bejahung der nationalsozialistischen Volkwerdung auf der Grundlage von Rasse, Blut und Boden" bedeutete, fand sich ein großer Teil der Bekennenden Kirche zur Zusammenarbeit bereit. Gegen die kompromißlosen Bruderräte wird der "Rat der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland" gebildet. Er will mit den staatlichen Kirchenausschüssen zusammenarbeiten und die Privilegien einer Volks- und Staatskirche retten. Ein Ausspruch Bonhoeffers aus dieser Zeit bringt seine Entschiedenheit und die seiner Mitstreiter, nicht nachzugeben, klar zum Ausdruck: "Wer sich wissentlich von der Bekennenden Kirche trennt, trennt sich vom Heil."
Ab Dezember 1935 waren bereits alle nicht der staatlichen Aufsicht unterstehenden Kirchengruppen für illegal erklärt worden, somit also auch das Predigerseminar. Trotzdem wird hier weitergearbeitet. Am 29. August 1937 werden alle Einrichtungen der Bekennenden Kirche verboten. Das Seminar in Finkenwalde, das Bonhoeffer unter den Bedingungen der Illegalität weitergeführt hatte, wird von der Gestapo geschlossen. Fast zwei Jahre bildet Bonhoeffer nun noch weiter in den sogenannten "Sammelvikariaten" in Pommern auf dem flachen Lande Pfarramtskandidaten aus, bis auch diese durch Himmler 1940 aufgelöst werden. Für ihn selbst gilt ab 1936 Lehrverbot an allen deutschen Universitäten, ab 1938 Aufenthaltsverbot für Berlin, das jedoch durch die familiäre Situation gelockert wird. 1940 wird ihm "Reichsredeverbot" erteilt und ein Jahr später jede schriftstellerische Veröffentlichung untersagt.
Als am 9. November 1938 die Synagogen in Deutschland brennen, waren Bonhoeffers Schwester und ihr jüdischer Mann Gerhard Leibholz bereits nach England emigriert. Um Dietrich der Erfassung durch die Wehrmacht zu entziehen und eine Dienstverweigerung seinerseits angesichts des drohenden Krieges zu umgehen, bemühte sich seine Familie über ihre Beziehungen, eine kurzfristige Rückstellung vom Wehrdienst zu erreichen und ihm ein Visum für eine Auslandsreise in die USA zu verschaffen. Seine dortigen Freunde, die alles daran setzten, daß er in die USA käme, verschafften ihm die Möglichkeit einer Vorlesungsreise in den USA.
Er erhielt eine Einladung an das Union Theological Seminary in New York, wo er bereits 1929/30 ein Jahr studiert hatte. Seine Sorge über die Entwicklung in Deutschland und die Einsicht, daß er sich mit diesem für ihn persönlich bequemen Weg vor seiner Verantwortung in Deutschland flüchte, ließ ihn jedoch nach wenigen Wochen kurz vor Kriegsausbruch schon wieder zurückkehren. Damals schrieb er: "Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß ich einen Fehler gemacht habe, als ich nach Amerika kam. Ich muß diese schwierige Periode unserer nationalen Geschichte mit den Christen Deutschlands durchleben. Ich werde kein Recht haben, an der Wiederherstellung des christlichen Lebens nach dem Kriege in Deutschland mitzuwirken, wenn ich nicht die Prüfungen dieser Zeit mit meinem Volke teile."
Wie er im selben Brief an Reinhold Niebuhr - zwei Wochen vor Kriegsausbruch - schreibt, "stehen die Christen in Deutschland vor der fürchterlichen Alternative, entweder in die Niederlage ihrer Nation einzuwilligen, damit die christliche Zivilisation weiterleben kann, oder in den Sieg und dabei unsere Zivilisation zu zerstören. Ich weiß, welche dieser Alternativen ich zu wählen habe; aber ich kann diese Wahl nicht treffen, während ich in Sicherheit bin."
Er stellte sich dieser scheinbar völlig ausweglosen Alternative nach seiner Rückkehr auf sehr praktische Weise. Zwar bete er "für Deutschlands Niederlage", aber das hieß für ihn gleichzeitig, an der Niederlage Hitlers und seiner Clique zu arbeiten, um den Wiederaufbau einer neuen gerechten Nachkriegsordnung auf den Grundsätzen der Menschenwürde, die von allen Nationen zu respektieren sei, zu ermöglichen.
Bonhoeffer war durch seinen Schwager Hans von Dohnanyi bereits seit 1938 mit den Widerstandsplänen gegen Hitler vertraut gewesen. Vermutlich hatte die USA-Reise auch dazu gedient, Verbindungen für den Widerstand zu sondieren. Nach seiner Rückkehr nahm Bonhoeffer aktiven Anteil an den Widerstandsplänen der Gruppe, die von Admiral Canaris, dem Chef der militärischen Abwehr, geleitet wurde. Hans von Dohnanyi, bis dahin Referent des Justizministers Gürtner, war von Canaris seinem engsten Mitarbeiter Oberst Oster zugeteilt worden. Dieser sammelte die Beweise der Verbrechen des Hitlerregimes für den "Tag X". Zu dieser Gruppe gehörte auch sein anderer Schwager Rüdiger Schleicher sowie sein Bruder Klaus, damals Syndikus bei der Deutschen Lufthansa. Klaus und Dietrich waren die Kontaktpersonen zur "Weißen Rose" in München.
Dietrich Bonhoeffer blieb weiterhin offiziell im Dienst der Bekennenden Kirche, während er gleichzeitig als Zivilist bei der Abwehr beschäftigt wurde. Man verpflichtete ihn für die Münchner Dienststelle, für die auch Josef Müller (genannt "Ochsensepp", später Ministerpräsident von Bayern) arbeitete. Offiziell hieß es, man brauche Bonhoeffer wegen seiner guten internationalen ökumenischen Beziehungen. Nun war er der Gestapo und der Erfassung durch die Wehrmacht entzogen und konnte sich wieder frei bewegen und als Kurier der Abwehr Reisen nach Schweden, in die Schweiz und Rom unternehmen. Bei seinen Münchner Aufenthalten lebte und arbeitete er in der Benediktinerabtei Kloster Ettal.
Nachdem alle bisherigen Umsturzpläne gegen Hitler gescheitert waren und Hitler alle Erfolge auf seiner Seite zu verbuchen hatte - u.a. wegen der "Appeasementpolitik" des Westens - , war es für den Widerstand dringlich geworden, neue Kontakte im Ausland zu knüpfen und die Friedensziele auf alliierter Seite zu erkunden. Im Frühjahr und Herbst 1941 reiste Bonhoeffer deshalb in die Schweiz, um über seine kirchlichen Beziehungen Kontakte mit England zu knüpfen. Diese wurden von englischer Seite jedoch nicht beantwortet. Zur Zeit seiner Heimkehr begannen die ersten großen Deportationen von Juden. Bonhoeffer schrieb zusammen mit dem Justitiar der Bekennenden Kirche F.J. Perels einen Bericht für oppositionelle Militärs, um sie bei ihren Putschvorbereitungen zur Eile anzutreiben. Außerdem half er bei einer Aktion von Canaris, eine kleine Gruppe von Juden in die Schweiz zu bringen.
1942 besuchte Bonhoeffer zusammen mit Helmut von Moltke im Auftrag von Canaris Norwegen, um dem dortigen kirchlichen Widerstand Mut zu machen. Im selben Jahr traf er seinen alten Freund, den Bischof von Chichester George Bell in Schweden. Ihm übergab er auftragsgemäß genaue Einzelheiten eines bevorstehenden Putsches. Die englische Führung sollte im Falle des Staatsstreiches den Putschisten die Möglichkeit geben, eine Regierung zu bilden. Bell, der diese Informationen an Außenminister Eden weiterleitete, erhielt eine Absage. Man wolle damit nichts zu tun haben. Auch die anschließende Rom-Reise zusammen mit Dohnanyi, wo man eine Antwort aus London erhofft hatte, verlief ergebnislos.
1943 verlobte sich Bonhoeffer mit Maria von Wedemeyer. Kurz vorher war der Münchner Konsul Schmidhuber, Bonhoeffers Vorgesetzter in der dortigen Abwehrstelle, wegen Unregelmäßigkeiten bei Devisengeschäften verhaftet worden. Dem Reichssicherheitshauptamt und Himmler persönlich, die seit langem nach einem Vorwand suchten, die Abwehr von Canaris gründlich zu durchleuchten und unter ihre Kontrolle zu bringen, bot sich nun eine günstige Gelegenheit. Die Untersuchungen wurden auch auf Berlin ausgeweitet. Schließlich kam es am 5. April zur Verhaftung Bonhoeffers, Hans von Dohnanyis und Josef Müllers. Bonhoeffer wurde ins Wehrmachtsgefängnis in Berlin-Tegel gebracht.
Zunächst gelang es Canaris, die Spuren zu verwischen. Dohnanyi, Müller und Bonhoeffer hatten sich bereits vorher gemeinsam abgesprochen, was man im Falle eine Verhaftung aussagen wolle. Man hoffte auf eine Klärung des Falles und bereitete sich auf den immer wieder hinausgeschobenen Prozeß vor. Der ermittelnde Oberstkriegsgerichtsrat Roeder konnte schließlich durch Beförderung aus dem Verfahren herausgezogen werden. Sein Nachfolger erklärte, er werde in der Sache nicht weiter ermitteln.
Mit dem Scheitern des Attentats vom 20. Juli 1944 bestand jedoch kaum mehr Hoffnung für den Widerstand. Die unmittelbar am 20. Juli Beteiligten wurden sofort exekutiert, darunter auch Dietrichs Onkel, der Stadtkommandant von Berlin, Paul von Hase. Anfang Oktober wurden Klaus Bonhoeffer und Rüdiger Schleicher wegen ihrer Beteiligung verhaftet. Bonhoeffer ließ daraufhin einen Fluchtplan fallen, um seine Familie nicht zusätzlich zu gefährden. Inzwischen waren zu allem Überfluß noch Akten der Abwehr gefunden worden, die unter anderem bewiesen, daß auch Oster, Dohnanyi und Bonhoeffer schon seit 1938 in die Verschwörung verwickelt waren. Hitler widerrief den Befehl zur sofortigen Liquidierung, um die weitere Verzweigung der Verschwörung sorgfältiger zu verfolgen.
Am 8. Oktober 1944 wurde Dietrich Bonhoeffer von der Gestapo aus dem Tegeler Militärgefängnis geholt und in das Gefängnis des Reichssicherheitshauptamtes in die Prinz-Albert-Straße überführt. Diejenigen, die in der Militärjustiz noch ihre Hand über ihn hatten halten können, wie der Heeresrichter Sack sowie Canaris und Oster selbst, saßen nun selbst wenige Zellen entfernt. Auch Hans von Dohnanyi und Carl Goerdeler befanden sich dort.
Bonhoeffer galt nun als jemand, aus dem man noch wichtige Informationen kirchlicher ausländischer Beziehungen herausholen konnte. Er wurde der Gruppe zugeteilt, die für weitere Verhöre aufgespart werden sollte. Nach schweren Luftangriffen wurde er zusammen mit anderen prominenten Häftlingen deswegen im Februar 1945 nach Buchenwald gebracht. In Berlin waren unterdessen Klaus Bonhoeffer und Rüdiger Schleicher zum Tode verurteilt worden. Sie wurden am 23. April von einem Rollkommando der SS nachts erschossen. Canaris, Oster, Gehre, Sack, Strünck und Dietrich Bonhoeffer werden am Morgen des 9. April in Flossenbürg erhängt, Hans von Dohnanyi wird ebenfalls an diesem Tag in Sachsenhausen umgebracht.
Bonhoeffer und der Kreis der Widerstandsbewegung, für den er sprach, waren weit davon entfernt, Hitler und den Nationalsozialismus als internes deutsches "soziologisches Phänomen" und natürliche Folge des "autoritären Charakters der Deutschen" anzusehen, wie es nach dem Krieg von den Besatzungsmächten und auch der Nachkriegs-EKD im Rahmen der "Kollektivschuld"-These propagiert wurde. Vielmehr machten sie die Bedingungen des Versailler Vertrages, der mit seinem Schuldendiktat Deutschland und die gesamte Weltwirtschaft ruiniert hatte, sowie die Beschwichtigungspolitik des Westens gegenüber Hitler wesentlich mit für den Aufstieg und die Machtergreifung des Nationalsozialismus verantwortlich.
Bonhoeffer schrieb 1941 während seiner zweiten Reise in die Schweiz in einem Memorandum über "Die Kirche und die neue Ordnung in Europa", das an Kirchenkreise in England gerichtet war: "Realismus verlangt, daß die Welt vor einer Wiederholung des Nationalsozialismus geschützt werden muß, aber derselbe Realismus verlangt auch, daß wir die Welt vor einer Wiederholung des psychologischen Prozesses schützen müssen, der sich zwischen 1918 und 1933 in Deutschland vollzog. Der Wagen von Compiegne (Unterzeichnungsort des Versailler Vertrages, wo Hitler demonstrativ die französische Kapitulation entgegennahm, E.F.) ist geradezu das Symbol für diese Tarnung der Ungerechtigkeit (des Nationalsozialismus, E.F.). Es ist eine gerade ausreichende, relative Rechtfertigung für einige der Ansprüche Deutschlands, um Hitler die Möglichkeit zu geben, sich als ein Prophet einzuführen, der gekommen war, um die Gerechtigkeit wiederherzustellen. Das ist die Hauptquelle der gegenwärtigen moralischen Verwirrung."
Und weiter: "Und es darf nicht vergessen werden, daß die Staatsmänner anderer Länder, indem sie Hitler Zugeständnisse machten, die seinen Vorgängern verweigert wurden, zu Hitlers Helfern gegen die Widerstandsgruppen in Deutschland wurden. Auf diese Weise ist es erklärlich, daß es für die deutsche Nation immer schwieriger geworden ist, den wahren Charakter ihres Regimes zu begreifen und daß nur verhältnismäßig wenige in ihrer Überzeugung unerschüttert geblieben sind, daß es Satan in der Maske des Engels des Lichtes darstellt."
Ebenso wie die anderen Persönlichkeiten des Widerstands lehnte er die Forderung Churchills, der ab 1941 englischer Premierminister war, nach "bedingungsloser Kapitulation" grundsätzlich ab. Im oben genannten Dokument heißt es dazu: "Die Entwaffnung Deutschlands sollte gewiß nicht als das Hauptfriedensziel angeführt werden, wie es zu oft geschieht. Vielmehr sollte sie als Teil eines umfassenderen Programms erwähnt werden, welches die Gewährung eines gewissen Maßes von politischer und wirtschaftlicher Sicherheit für ein entwaffnetes Deutschland einschließt, wie die Akzeptierung einer gewissen übernationalen Kontrolle der Rüstungen aller Nationen. Auf jeden Fall sollten die Gedanken über wirtschaftlichen Wiederaufbau und soziale Neuordnung bei jeder Propaganda (besonders bei Rundfunksendungen für Deutschland) größere Anwendung finden."
Nach der Kapitulation stelle sich die Frage, "wie Deutschland seinen Weg zu einem Regierungssystem finden kann, das von den Deutschen angenommen werden kann und das es zu einem ordentlichen Mitglied im Kreis der Nationen werden läßt." Dieses Regierungssystem, so Bonhoeffer, könne nicht in der Übertragung des britischen Modells des "alten Liberalismus, der wegen seiner Mißerfolge selbst weitgehend für die Entwicklung zu einem staatlichen Absolutismus verantwortlich ist", liegen. Sicherlich müßten "bürgerliche Religionsfreiheit, Redefreiheit oder Gleichheit vor dem Gesetz in der neuen Ordnung sichergestellt werden. Aber es geht um weit mehr als Worte. Die ganze Orientierung der Nachkriegsstaaten wird von dieser ideologischen Frage abhängig sein. Wir glauben nun, daß der Begriff einer von Gesetz und Verantwortlichkeit begrenzten Ordnung, einer Ordnung, die nicht Ziel an sich ist, sondern die die Gebote, die über dem Staate stehen, anerkennt, größere geistige Substanz und Gültigkeit besitzt als die Betonung der Rechte des Individuums."
Bonhoeffer befürchtete: "In einer Anzahl europäischer Länder würde eine sofortige Rückkehr zur voll ausgebildeten Demokratie und zum Parlamentarismus noch größere Unordnung hervorrufen als jene, die vor der autoritären Ära herrschte. In diesen Ländern (Deutschland, Frankreich, Italien), wo alle Zentren politischer Schaffenskraft und alle Ordnung verunglimpft oder gar zerstört worden sind, wird für eine beträchtliche Zeitspanne eine starke, zentralisierte Gewalt vonnöten sein. Das bedeutet aber nicht, daß wir weiterhin Formen von staatlichem Absolutismus hinnehmen müssen."
Dieses Memorandum, das er zusammen mit Visser t'Hoeft, dem damaligen Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf, nach England schickt, dürfte Bonhoeffer mit Sicherheit auf die Liste der "guten" Deutschen gesetzt haben, wenn er nicht schon längst darauf stand. Die Politik der Besatzungsmächte in Deutschland nach dem Krieg zeigt, daß sie das genaue Gegenteil von allem taten, was hier gefordert wurde.
Es bleibt die Tragik des deutschen Widerstands, bis zuletzt trotz aller eigenen Einsichten in den britischen Ausverkauf verzweifelt auf die Hilfe Englands gehofft zu haben. Dieses teilweise verständliche Wunschdenken besiegelte auch ihr eigenes Schicksal.
Das moralische Dilemma, sich an der "großen Maskerade des Bösen", wie er es nannte, zu beteiligen, stellte sich für Bonhoeffer in aller Schärfe: Er als Mann des kirchlichen Widerstands gegen Hitler arbeitete offiziell für die Spionageabwehr der Nazis unter Canaris - und damit nach außen hin für die andere Seite. Nur wenige wußten von seiner wirklichen Tätigkeit. Wie wurde er damit fertig? Den Schlüssel dazu liefert sein Verständnis dessen, was "Nachfolge Christi" bedeutet, das Hauptthema, dem er sich in seinem Leben stellte - in seinen theologischen Werken, wie der Nachfolge (1937), der unvollendet gebliebenen Ethik und den Gefängnisbriefen ebenso wie in seinen persönlichen Handlungen.
In der Schrift Nach zehn Jahren, die er zur Jahreswende 1942/43 für Freunde wie Hans von Dohnayni und General Oster schrieb, wandte er sich gegen "den Kurzschluß ungeschichtlich und unverantwortlich denkender Prinzipienreiter", die sich von ihrer Verantwortung abwendeten, wenn plötzlich einmal das Böse Erfolg habe und es gefährlich werde: "Angesichts solcher Lage erfahren wir, daß weder theoretisch zuschauen, kritisieren und rechthaben wollen, also die Weigerung, sich auf den Boden der Tatsachen zu stellen, noch Opportunismus, also die Selbstpreisgabe und Kapitulation angesichts des Erfolgs, unserer Aufgabe gerecht wird. Weder beleidigte Kritiker noch Opportunisten wollen und dürfen wir sein, sondern an der geschichtlichen Gestaltung - von Fall zu Fall und in jedem Augenblick, als Sieger oder als Unterlegene - Mitverantwortliche. Die Rede vom heroischen Untergang angesichts einer unausweichlichen Niederlage ist im Grunde sehr unheroisch, weil sie nämlich den Blick in die Zukunft nicht wagt. Die letzte verantwortliche Frage ist nicht, wie ich mich heroisch aus der Affäre ziehe, sondern wie eine kommende Generation weiterleben soll. Nur aus dieser geschichtlich verantwortlichen Frage können fruchtbare - wenn auch vorübergehend sehr demütigende Lösungen entstehen. Kurz, es ist sehr viel leichter, eine Sache prinzipiell als in konkreter Verantwortung durchzuhalten."
Bonhoeffer war von einem tiefen Optimismus getragen, der in seinem Glauben an das göttliche Naturrecht, an eine "immanente Gerechtigkeit" wurzelte. So schreibt er: "Es gehört zu den erstaunlichsten, aber zugleich unwiderleglichsten Erfahrungen, daß das Böse sich - oft in einer überraschend kurzen Frist - als dumm und unzweckmäßig erweist. Damit ist nicht gemeint, daß jeder einzelnen bösen Tat die Strafe auf dem Fuße folgt, aber daß die prinzipielle Aufhebung der göttlichen Gebote im vermeintlichen Interesse der irdischen Selbsterhaltung gerade dem eigenen Interesse dieser Selbsterhaltung entgegenwirkt. Ich glaube, daß Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich glaube, daß Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Ich glaube, daß Gott kein zeitloses Fatum ist, sondern daß er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet."
Bonhoeffer hielt überhaupt nichts von einer Auffassung des Christentums, bei der die "Diesseitigkeit der Welt" und damit die Bestimmung des Menschen vorschnell aufgegeben wird, und man sich in die "Jenseitigkeit" hinwegstiehlt. Beide gehören zusammen. Er spricht von "den Letzten Dingen" (Gott), die die "Vorletzten Dinge" (unser Leben) bestimmen. Wir seien in dieses Leben hineingestellt, um auf Erden in der Nachfolge Christi zu handeln. "Mag sein, daß der jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gern die Arbeit für die bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht." So zeige sich der Glaube, und nicht, indem man sich "Nischen" für religiöse Handlungen schaffe, mit denen man sich selbst beruhige und Gott als "geistliche Apotheke" benutze.
Zugleich bedeute die Nachfolge eine Absage an alle, die, wie Bonhoeffer es nannte, "die billige Gnade" wollten, die sich mit den bestehenden Verhältnissen abfinden und auf die Gnade Gottes berufen, die jedem Menschen geschenkt sei. Dies traf auf einen großen Teil der evangelischen Kirche zu, der sich mit dem Nationalsozialismus arrangiert hatte. Bonhoeffer hielt diesen entgegen, daß es zwar richtig sei, daß Gott jedem Menschen Gnade erweise. "Wer sich aber mit dieser Gnade von der Nachfolge dispensieren will, betrügt sich selbst", sagte er.
Indem Bonhoeffer die Notwendigkeit der Nachfolge Christi, die er im wesentlichen auf die Bergpredigt zurückführte, so stark herausstrich, forderte er damit nicht nur seine eigenen Glaubensbrüder heraus, sondern warf vor allem dem Nationalsozialismus den Fehdehandschuh hin. Schließlich sollte es in Deutschland damals nur einen "Führer" geben, der die Menschen "zur Gefolgschaft rufen durfte".
Darüber hinaus war die Bergpredigt für den nationalsozialistischen "Kult der Stärke" der Inbegriff der Ohnmacht, oder, wie es Max Weber ausdrückte "die Ethik der Würdelosigkeit". Die "Deutschen Christen" hatten Christus mit ihrer Erfindung einer Art Hegelschen "Volksgeistes", der nicht dem Gericht Christi unterstehe, praktisch abgeschafft. Darüber hinaus mußte in der Propaganda der Nazis ausgerechnet Karl der Große als zentrale Zielscheibe für ihre Religionshaß herhalten. Ihm warf man u.a. vor, er habe bei seiner Christianisierung ein Massaker unter den Sachsen angerichtet. Bonhoeffer legte in seinen Finkenwalder Seminaren Wert darauf, seinen Kandidaten zu erklären, daß Karl der Große das "filioque" (jenen Glaubenssatz, wonach der Heilige Geist vom Vater und vom Sohne gleichermaßen ausgeht) eingeführt habe. Dieser Glaubenssatz, der später beim Florentiner Konzil zur Grundlage der Verständigung von West- und Ostkirche wurde, bestimmt den Menschen als "Ebenbild Gottes", der Christus nachfolgen kann.
Dieser Gottesbegriff und das damit verbundene Menschenbild war dem Nationalsozialismus ein Dorn im Auge. In der Nachfolge schrieb Bonhoeffer: "Ein Christentum, in dem es nur den Vatergott, aber nicht Christus als lebendigen Sohn gibt, hebt die Nachfolge geradezu auf. Hier gibt es Gottvertrauen, aber nicht Nachfolge. Allein, weil der Sohn Gottes Mensch wurde, weil er Mittler ist, ist Nachfolge das rechte Verhältnis zu ihm. Nur der Mittler, der Gottmensch, kann in die Nachfolge rufen."
Das ist für ihn der Dreh- und Angelpunkt seines Denkens, wie es etwa auch in Bezügen zur Musik in seinen Gefängnisbriefen immer wieder deutlich wird. Bonhoeffer spricht davon, daß die Musik "den Grundton der Freude" im Leben gebe. Er nennt Gott den "cantus firmus", zu dem alle anderen Stimmen des Lebens als Kontrapunkte erklingen. "Wo der cantus firmus klar und deutlich ist, kann sich der Kontrapunkt so gewaltig als möglich entfalten. Beide sind ,ungetrennt und doch geschieden', wie in Christus seine göttliche und menschliche Natur. Ist nicht vielleicht die Polyphonie in der Musik uns darum so nah und wichtig, weil sie das musikalische Abbild dieser christologischen Tatsache und daher auch unserer vita christiana ist? Wenn man in dieser Polyphonie steht, dann wird das Leben erst ganz, und zugleich weiß man, daß nichts Unheilvolles geschehen kann, solange der cantus firmus durchgehalten wird."
"Optimismus ist in seinem Wesen keine Ansicht über die gegenwärtige Situation, sondern er ist eine Lebenskraft, eine Kraft der Hoffnung, wo andere resignieren, eine Kraft, den Kopf hoch zu halten, wenn alles fehlzuschlagen scheint, eine Kraft, Rückschläge zu ertragen, eine Kraft, die die Zukunft niemals dem Gegner läßt, sondern sie für sich in Anspruch nimmt. Es gibt gewiß auch einen dummen, feigen Optimismus, der verpönt werden muß. Aber den Optimismus als Willen zur Zukunft soll niemand verächtlich machen, auch wenn er hundertmal irrt. Er ist die Gesundheit des Lebens, die der Kranke nicht anstecken soll." Dietrich Bonhoeffer, "Nach zehn Jahren", geschrieben 1942, veröffentlicht in "Widerstand und Ergebung".
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"Es kommt wohl nur darauf an, ob man dem Fragment unseres Lebens noch ansieht, wie das Ganze eigentlich angelegt und gedacht war und aus welchem Material es besteht. Es gibt schließlich Fragmente, die nur noch auf den Kehrichthaufen gehören (selbst eine anständige "Hölle" ist noch zu gut für sie), und solche, die bedeutsam sind auf Jahrhunderte hinaus, weil ihre Vollendung nur eine göttliche Sache sein kann, also Fragmente, die Fragmente sein müssen. - Ich denke z.B. an die Kunst der Fuge. Wenn unser Leben auch nur ein entferntesteter Abglanz eines solchen Fragments ist, in dem wenigstens eine kurze Zeit lang die sich immer stärker häufenden, verschiedenen Themata zusammenstimmen und in dem der große Kontrapunkt von Anfang bis zum Ende durchgehalten wird, so daß schließlich nach dem Abbruch - höchstens noch der Choral Vor Deinen Thron tret ich allhier - intoniert werden kann, dann wollen wir uns auch über unser fragmentarisches Leben nicht beklagen, sondern daran sogar froh werden." Dietrich Bonhoeffer, am 23. Februar 1944 in einem Brief aus dem Wehrmachtsgefängnis in Berlin-Tegel.
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Anmerkung
1. Zitiert nach P. Meehan, The Unnecessary War und Giles McDonogh, A Good German. Adam von Trott.
Eberhardt Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Eine Biographie, Chr. Kaiser Verlag, München, 1970.
Bonhoeffer, Auswahl, Chr. Kaiser Verlag, München, 1964.
Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus, 1994.
Dietrich Bonhoeffer, Nachfolge, Chr. Kaiser Verlag, 1994.
Renate Wind, Dem Rad in die Speichen fallen, Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 1993.
Eberhard Bethge, Bonhoeffer, rororo Bildmonographien, 1988.