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Shakespeare als Gelehrter
Die amerikanische Politik als Tragödie

Von Lyndon LaRouche

Die folgende Schrift veröffentlichte der amerikanische Präsidentschafts-Vorkandidat in der Demokratischen Partei am 30. September 2003.


Beispiel Theater
Über Ironie

Akademiker und andere versuchen häufig, Shakespeares Autorität als Gelehrter herabzusetzen, aber gegen sie sprechen solche Kleinigkeiten wie beispielsweise in Julius Cäsar Cascas berühmte ironische Bemerkung über eine Rede Ciceros: "Mir war es griechisch." In der wahren Geschichte waren die Umstände von Ciceros Tod ein entscheidender Wendepunkt der römischen Geschichte, wenn man sieht, wie es von da an bis zum schließlich unvermeidlichen Untergang Roms bergab geht. Wieviele solche Gelehrte, die sich selbst für Autoritäten halten, verstehen diese Geschichte so gut, wie Shakespeare es tat - wieviele folgen lieber Coleridge, Bradley oder ähnlichen? In Wahrheit kennen heute nur ganz wenige Akademiker oder Politiker die Geschichte als Wissenschaft so gut wie Shakespeare.

Shakespeares wesentlicher Vorzug gegenüber den meisten zeitgenössischen Historikern ist: Sein Standpunkt war, daß der eigentliche Gegenstand der Geschichte die menschliche Natur ist, die uns von den Tieren unterscheidet und über sie erhebt. Die meisten zeitgenössischen Historiker sind kantianische Romantiker oder schlimmeres.

Eine ähnliche, noch tiefergehende Schlußfolgerung aus Shakespeares Werk steckt in Cassius' Wort: "Nicht durch die Schuld der Sterne, lieber Brutus, durch eigne Schuld nur sind wir Schwächlinge." Ich wünschte, mein manchmal fehlgehender Schützling und zeitweiser "Schwächling", Ex-Präsident Bill Clinton, lernte endlich die Bedeutung dieser Worte erfassen.

Wechseln wir von Julius Cäsar zu Hamlet. Dort finden sich wichtige zusätzliche Punkte, die für diesen Aufsatz von Bedeutung sind. Nehmen wir zu den Zitaten aus Julius Caesar die Stelle aus Hamlets Monolog im Zweiten Aufzug "Was ist ihm Hekuba...?" und vor allem aus dem Monolog im Dritten Aufzug den Ausspruch: "So macht Gewissen Feige aus uns allen." Das sind beides Beispiele für Stellen, die Bill Clinton ernster nehmen sollte, wenn es um die innenpolitischen Verirrungen seiner oft hemmungslos ehrgeizigen und schlecht beratenen Ehefrau geht.

Wie Sie sehen, ist mein Thema hier eine Politik für Krisenzeiten - die politischen Kernfragen unserer Nation für die Wahl 2004, die sich nicht länger aufschieben lassen. Man kann dies nur angemessen verstehen, wenn man von einer tiefen Einsicht in die wesentliche Bedeutung der klassischen Kunst für die Erziehung des modernen Staatsmanns ausgeht. Die gegenwärtige, sogar dringliche Bedeutung dieser Bezüge auf Shakespeare wird im folgenden in dieser Schrift hervorgehoben.

Ich möchte aber auch die folgende für das Thema wichtige Beobachtung einschließen: Ich wünsche leidenschaftlich, daß diejenigen, die mich mit ihren vermeintlich gebildeten Rezitationen klassischer Dichtung fast zur Verzweiflung bringen, die allgemeine natürliche Schlußfolgerung aus dieser und verwandten Lehren Shakespeares als Warnung vor rettungslos romantischen Fehlinterpretationen begreifen! Es überrascht mich beim ersten Hören immer wieder, wie Leute, die ihre Rezitationen für besonders gekonnt halten, völlig danebenliegen - andererseits ist es auch wieder gar nicht so überraschend, wenn ich über ihre durchaus verwandten "romantischen" politischen Fehleinschätzungen nachdenke.

Oft erinnern mich diese Probleme bei der Darbietung daran, wie das siebenjährige Fräulein Niedlich beim Debütantinnenball in der renommierten Mädchenschule des Fräulein Steif mit passendem Knicks ihr Gedichtlein aufsagt. Alle Fräulein Niedlichs dieser Welt haben unvermeidlich eine unterbewußte Geisteshaltung, die man sonst von den Vorbeimärschen der superschlanken, morphinistenartigen Mailänder Mannequins kennt (die vom Kopf abwärts praktisch unsichtbar wären, steckte man sie nicht in völlig geschmacklose, oft fast schäbige Fetzen). Derartige Aufführungen haben den Beigeschmack von Friedhofskunst. Dick, dünn, klein oder groß - die Wirkung ist immer die gleiche: daß der denkende Zuschauer froh ist, wenn er gehen kann. Es gehört alles in dieselbe Schublade wie die abstoßende narzißtische Auffassung des verstorbenen Sir Lawrence Olivier, der Schauspieler müsse sich vor allem selbst darstellen, um sich von den törichten Zuschauern vermeintlich oder tatsächlich bewundern zu lassen: "Schaut mich an!" (Sein Auftritt in der Fernsehfassung von Richard III. war besonders abstoßend. Man könnte fragen, wer war Hekuba für ihn?)

Das Wesen jeden guten Theaters und der Bezugspunkt für das Erhabene, das Merkmal großer klassischer Kunst, ist die Erfahrung des einzelnen Mitglieds der Gesellschaft, wenn er oder sie im Theater sitzt und das große klassische Werk nicht bloß in der sinnlich erfahrbaren Darstellung auf der Bühne verfolgt, sondern auf der imaginären Bühne in der eigenen Vorstellungskraft sieht. Hier, wie in den beiden Zitaten aus Hamlet, liegt der Schlüssel zum ernsthaften politischen Denken - kostbares Wissen, das wir mit Shakespeare gerne teilen.

Hier muß die Politik von den Prinzipien klassischer künstlerischer Komposition lernen, von denen der typische heutige vermeintlich "künstlerisch veranlagte Mensch" keine Ahnung hat. Die Bühne ist nie reine Fiktion und nie reine Unterhaltung - die Methoden und Vorbilder der heute gängigen Massenunterhaltung findet man nicht in der Welt der klassischen Kunst, sondern im Bordell. Die Verirrungen sogenannter Intuition zeigen sich dabei in typischer Weise in der seelenlosen Darbietung des armen kindischen Fräulein Niedlich, einem Menschen mit dem Körper eines Erwachsenen, aber dem armseligen Geist einer Jane Austen.

Beispiel Theater

Kein klassisches Drama wurde als bloße Fiktion oder Fallstudie persönlicher Moral im kleinen geschrieben. Nur ungebildete Tölpel oder Opfer einer tölpelhaften höheren Schul- oder Hochschulbildung wissen das nicht. Alle großen klassischen Dramen waren entweder Lehren in wahrer Geschichte oder in der Geschichte einer Legende in der Überlieferung der Kultur eines Volkes. Über solche Dramen und Gedichte lehren die großen Dichter und die Darsteller, die deren Absichten treu sind, der breiten Bevölkerung wahre Geschichte und wahre Politik.

"Tatsachen der Geschichte" sind etwas für Narren, so wie es Jonathan Swift über das Bildungswesen in dem gar nicht so frei erfundenen Laputa ausdrücken wollte. Man kennt die Geschichte nur zu dem Grad, wie man sie als leidenschaftliche Wirklichkeit, als wahre Geschichte auf der Bühne der lebendigen Einbildungskraft des Publikums nacherlebt. Was ist ihm Hekuba, was ist er ihr, daß er um sie soll weinen? Was und wo ist die Leidenschaft hinter den Verwandlungen, in denen eine oberflächliche Meinung fälschlich bloß die statistische, lineare Verbindungen zwischen scheinbaren Punkten sieht?

So versetzte Schiller mit Don Carlos, der Wallenstein-Trilogie und seiner Studie des Abfalls der Niederlande die Menschen in die Lage, die Tragödie Europas von 1511 bis 1648, die die von Venedig gelenkten spanischen und österreichischen Habsburger nach der Renaissance entfesselten, selbst nachzuerleben. Man kann nachvollziehen, wie verzweifelt sich die Menschen wünschten, daß irgendjemand in einer entsprechenden Machtposition die Habsburger bei entsprechender Gelegenheit verrät. Diese Habsburger, die auf der Bühne in den Köpfen des Publikums entstehen, waren aber zugegebenermaßen nur die größten unter vielen Übeltätern der Geschichte, die damals die neuzeitliche Zivilisation verrieten.

Das klassische Drama erfüllt vor allem die Aufgabe, den Menschen die Geschichte nahezubringen. Aber nicht die Geschichte der Jahreszahlen, Namen und Orte als solcher. Es versetzt das Publikum, insbesondere die einfachen Bürger, in eine geistige Umgebung, in der sie Zeuge werden, wie sich die Torheiten von Monarchen und Völkern leidenschaftlich entfalten. Das Drama verhilft zu diesem Überblick und löst leidenschaftliche Einsicht im Publikum aus, aber nicht auf der Bühne des Theaters, sondern im Geist der Zuschauer. Die gleiche Wirkung hat echte Ironie in klassischen Gedichten, wenn der Leser oder Sprecher sie in dieser Absicht nachvollzieht.

Der entscheidende "Trick", der eine gute Darbietung klassischer Dichtung, Theater oder Musik von der gut gemeinten, aber gescheiterten Darbietung des Künstlers oder Regisseurs unterscheidet, ist: Man muß vom allerersten Augenblick an die geistige Aufmerksamkeit des Publikums auf die Bühne seiner inneren Erkenntnis locken. Dann muß man die so gefesselte Aufmerksamkeit auf dieser Ebene der Einbildungskraft halten, bis erst nach dem Fallen des echten oder imaginären Vorhangs und einem Augenblick tiefer Stille der Applaus losbricht, falls dies der Gelegenheit angemessen ist.

Bei der Aufführung eines klassischen Dramas oder klassischer Gedichte darf man auf keinen Fall bloß zwischenmenschliche Beziehungen darstellen. Man muß es schaffen, die Menschen im Publikum über die kleingeistige Unmoral sogenannter "moralisierender Stücke" zu erheben, damit sie statt sozialer Beziehungen im kleinen über die leidenschaftliche Entfaltung geschichtlicher Prozesse ganzer Gesellschaften urteilen. Man lenkt die Konzentration des Publikums weg von der seifenoperartigen, morbiden Faszination mit mehr oder weniger anekdotenhaften Schilderungen sozialer Beziehungen im engen persönlichen Bereich, hin auf die großen Wirkkräfte der Menschheitsgeschichte, die sich unserer Erkenntnis nur in ihrem gesellschaftlichen Ausdruck in den Bildern des komplexen Bereichs erschließen.

Daher müssen wir beispielsweise den genannten Shakespeare-Zitaten die folgende Anmerkung beifügen.

Der Übergang von Ciceros Wertschätzung des klassischen Griechisch Platons zur relativen Bestialität der römischen Kultur, vermittelt durch die dümmliche Äußerung des armen hirnlosen Casca - eines nur zu typischen Römers seiner Zeit - , warnt den empfindsamen Zuhörer: Das ganze Stück spielt ironischerweise in einer Kultur, die sich selbst zum Untergang verurteilt. Man ist gezwungen, an den längeren Gang der Geschichte zu denken; so zeigt sich in Shakespeare die gleiche Universalität wie in Schillers Dramen und Betrachtungen über die Geschichte der europäischen Zivilisation seit Solon.

Ähnlich wirkt das "sind wir Schwächlinge". Cäsars Wirken verändert die Geschichte; Brutus und Cassius reagieren nur im kleinen, persönlichen Bereich, während der unsichtbare Cicero wie die Königin in Schillers Don Carlos prophetisch, fast wie von außerhalb der Bühne, über das Prinzip hinter der Universalität der Zeit spricht, dessen Verletzung die Tragödie ausmacht.

Heute haben wir alberne Präsidentschaftskandidaten von eigenen Gnaden, oft scheinbar mit der Moral und dem Geist einer Mücke, die keine Ahnung haben, welche Gefahr unserer Republik droht, und die überhaupt nicht darüber nachdenken, was unsere Nation in den Ruin getrieben hat oder was darüber entscheidet, was in naher Zukunft aus Amerika und aus der ganzen Welt wird. Deshalb übt Schiller auch strenge Kritik an seinem Marquis Posa, weil Posa weiß, welches Prinzip er mit seinem Handeln verletzt - wogegen der durchaus reale spanische König Philip II. des Schillerschen Dramas, der Spanien praktisch in den Untergang führt, im wesentlichen ein bedauernswerter, dummer Tölpel ist. Dieser arme Tölpel fürchtet das reine Böse, in der Person des Großinquisitors, ähnlich wie sich Isabella I. von ihrem Inquisitor zu dem Verbrechen verleiten ließ, die Juden aus Spanien zu vertreiben. Dieser König, der sein wahres Wesen schlecht verbirgt, ist nur ein bauernschlauer Tölpel, der seine eigene Angst hinter falschem königlichen Pomp verbirgt.

Das dritte der angeführten Shakespeare-Zitate, "So macht Gewissen Feige aus uns allen", zielt auf das Wesen jeder kompetenten Geschichtsschreibung, Staatskunst und großen klassischen Bühnendichtung: der Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier, der im komplexen Bereich angesiedelt ist.

Ich werde dieses allgemeine Thema in anderen Schriften ausführlich behandeln, weil hier behandelt wird, wie vernünftige Menschen Gegenstände von Wissenschaft und Kunst, Geschichte und Staatskunst von einem gemeinsamen Ausgangspunkt aus betrachten. An dieser Stelle beschränke ich mich auf einen politisch bedeutsamen Aspekt eines strategischen Problems des heutigen politischen Lebens.

Der eher offensichtliche Unterschied zwischen dem menschlichen Geistes und dem Tier ist, daß jeder Mensch das Potential hat, experimentell beweisbare Prinzipien unseres Universums zu entdecken - Prinzipien, die man wie sokratische Hypothesen nicht unmittelbar mit den Sinnen erfahren kann. Diese Hypothesen entstehen in der menschlichen Erkenntnis, sie werden leidenschaftlich als Antwort auf Paradoxe der sinnlichen Erfahrung entwickelt. In diesem Fall - d.h. in der praktischen Physik - handelt der einzelne menschliche Geist mit seinen einzigartigen konzeptionellen Fähigkeiten in direkter Beziehung zu dem, was wir "Natur" nennen.

Im Falle klassischer Kunst und ihrer kompetenten Wiedergabe sucht der Geist Hypothesen über die Prinzipien, die es ermöglichen, daß die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft so zusammenarbeiten, daß man die entdeckten physikalischen Prinzipien so anwenden kann, daß die Gesellschaft über aufeinanderfolgende Generationen die Natur immer mehr beherrscht.

Im ersten Fall konzentriert sich der Geist auf die Reihe der entdeckbaren universellen physikalischen Prinzipien für den Bereich der toten Materie und den Bereich der lebenden Prozesse im allgemeinen. Im zweiten Fall - der klassischen Kunst und dem damit zusammenhängenden wissenschaftlichen Verständnis der Geschichte und der Prinzipien der politischen Organisation der Gesellschaft - ist es die Beziehung des Menschen zur Natur über die Vermittlung der speziellen Prinzipien der sozialen Prozesse, die unmittelbar im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit unserer Erkenntniskraft steht. Der Schlüssel zu allen wesentlichen Problemen dieses zweiten Forschungsgebiets ist das Prinzip der klassischen Ironie in der Kunst.

Über Ironie

Das Wichtigste an der aus den sozialen Beziehungen stammenden Hochsprache ist die Ironie, d.h. eine Bedeutung, die sich nicht aus dem wortwörtlichen Verständnis eines Textes oder der Noten eines Musikstücks erschließt. Die Funktion der Ironie in Prosa oder Dichtung ist ein Ausdruck des gleichen Kommunikationsprinzips wie Carl Gauß' Aufdeckung der vorsätzlichen Irrtümer von Euler und Lagrange 1799 bei seiner ersten formalen Definition des komplexen Bereichs der mathematischen Physik.

Der wörtliche Aspekt der Sprache spiegelt größtenteils nur unmittelbare Sinneserfahrung wider. Genauso wie experimentell bestätigte Entdeckungen universeller Prinzipien der Physik - etwa Keplers Entdeckung der Schwerkraft - die wirksame, aber unsichtbare Absicht widerspiegeln, die in anders nicht lösbaren Paradoxen der Sinneswahrnehmung zum Ausdruck kommt, so drückt die klassische Kunst - in diesem Falle nichtplastische Kunst - die Prinzipien sozialer Beziehungen in der provozierenden Form der Paradoxe aus, die sich aus dem Gebrauch der Hochsprache ergeben.

In der nichtplastischen Kunst, wie den Dramen Shakespeares oder Schillers, gibt es zwei explizit ausgedrückte Wirkungsformen: erstens die Hochsprache und zweitens die natürliche Musikalität, wie z.B. in der in Florenz entwickelten Belcanto-Stimmbildung, aus deren Grundlage Johann Sebastian Bach das wohltemperierte System entwickelte. Nur in seltenen Fällen - Beethoven erwähnt die außergewöhnliche Musikalität von Schillers Gedichten - werden Gedichte nicht verbessert, wenn man sie mit wohltemperiertem Kontrapunkt bearbeitet; das zeigen die Liedvertonungen von Mozart, Beethoven, Schubert, Schumann und Brahms. So gesehen besteht eine gegenseitige Wechselwirkung zwischen dramatischem Sprechen und Musikalität im klassischen Theater. Die Anwendung dieses Prinzips der Musikalität, das uns die großen Sänger in klassischen deutschen oder italienischen Liedern und Opern vorführen, ist der Schlüssel dazu, die gleiche Leidenschaft, die man von guten Aufführungen großer Instrumentalmusik her kennt, auch im Theater auszudrücken.

Diese Kommunikationsmethoden sind am besten geeignet, dem Publikum des klassischen Dramas ein Verständnis der Triebkräfte der Geschichte zu vermitteln. Spannung und Gefühl (Emotion) sind dafür austauschbare Begriffe.

Eine so erzeugte Spannung dient dazu, den Zuschauer zu zwingen, die Paradoxe hinter der scheinbaren wörtlichen Bedeutung der Worte zu suchen. Auf diese Weise vermittelt man die Beweggründe hinter dem dargestellten Verhalten.

Dieses Gefühl des Paradoxen neckt den Geist des Zuschauers, es regt ihn an, seine Fähigkeit zur Hypothesenbildung anzuwenden, um die "versteckte Bedeutung" hinter den Paradoxen zu entdecken. Diese versteckten Bedeutungen entsprechen den Beweggründen, welche die Punkte der dargestellten Veränderungen miteinander verbinden - die Wirkungen, die scheinbar diese Punkte miteinander verbinden: die "Absicht", die auch Kepler darin erkannte, wie die Schwerkraft einen Planeten entlang der astronomisch beobachteten Punkte einer Umlaufbahn bewegt. Diese Absicht erklärt uns, was die Tränen für Hekuba auslöst.

Haben wir die Funktion derartiger klassischer Kunstmittel verstanden, so bleibt im wesentlichen die Frage: Inwieweit ist der abgeleitete Beweggrund ein wahrhafter Grund für die dargestellten geschichtlichen Abläufe? Diese Frage ist allgemein ebenso bedeutsam wie der experimentelle Beweis einer Hypothese in der Physik. Welche Arten von abgeleiteten Prinzipien entsprechen in welchen Situationen den unsichtbaren Beweggründen, die geschichtliche Prozesse in die eine oder andere Richtung lenken?

Der gängigste Irrtum bei der Kritik an einem solchen Kunstwerk besteht an dem Punkt darin, daß jemand nicht zwischen Beweggründen von Menschen und Tieren - wie z.B. Thomas Hobbes oder John Locke sich selbst bezeichnen - unterscheiden kann. Es gibt also eine wechselseitige Beziehung zwischen dem Verständnis klassischer Ironie und dem Verständnis des Unterschieds zwischen Mensch und Tier. Welcher gesetzmäßige menschliche Beweggrund löst die Handlung aus? Oder wie ist das Wesen des Menschen beschaffen, daß er von solchen Beweggründen angetrieben werden sollte?

Deshalb sehnt sich große klassische Kunst immer nach dem Erhabenen.

In der Physik zeigt sich dieses Prinzip des Erhabenen in der Entdeckung universeller physikalischer Prinzipien - wie etwa Keplers Entdeckung der Schwerkraft, Fermats Entdeckung des Prinzips des schnellsten Weges oder Leibniz' Entdeckung des Prinzips der kleinsten Wirkung. Lösungen von Paradoxen der Sinneswahrnehmung, die implizit die Herrschaft der Menschheit im und über das Universum steigern, bilden den Prototyp der erhabenen Lösung für das Problem der Menschheit, das diese Entdeckung behebt. Das gleiche Verständnis des Erhabenen gilt für soziale Vorgänge - beispielsweise wies die Entdeckung des Prinzips der modernen, nationalstaatlich verfaßten Republik im 15. Jahrhundert den dringend notwendigen Ausweg aus den imperialen Traditionen Roms und dessen Nachfolgern, die eine große Mehrheit der Menschen zu einem Dasein als bloßem "Menschenvieh" verurteilten.

Heute droht die Gefahr, daß die Welt in ein langes neues finsteres Zeitalter der ganzen Menschheit stürzt. Der typische Grund dafür sind die Folgen der Ideologie des sog. "Freihandels" und entsprechender verwandter Vorstellungen. Das notwendige Erhabene besteht in diesem Augenblick in der Notwendigkeit, die Menschheit vor den Folgen des unausweichlichen Zusammenbruchs des bankrotten IWF-Weltfinanzsystems zu bewahren. Versuche, innerhalb der engen Spielregeln einer Unterordnung unter das derzeitige "Freihandelssystem" eine konsensfähigere Lösung zu finden, werden immer nur in den Ruin führen. Deshalb kritisiere ich, daß Ex-Präsident Bill Clinton einen potentiell fatalen Hang hat, sich an die derzeit vorherrschenden Zustände in den USA, wie er meint, "praktisch-politisch anzupassen".

Der Wunsch der großen Mehrheit der Menschheit, sich zu einer höheren Ordnung der nationalen und internationalen Angelegenheiten hinaufzuretten und so der Unterdrückung in einer Fortsetzung des derzeitigen weltweiten "Freihandelssystems" zu entgehen, bildet den Antrieb, die Leidenschaft für das Erhabene. Dagegen steht die offensichtliche Habgier der Finanziers und verwandten Interessen, die ihre Macht über die Menschheit bewahren wollen, egal welchen Preis die Menschheit dafür zahlen muß.

Solche Konflikte zwischen einer tödlichen alten Tradition und der Notwendigkeit des Erhabenen bestimmen die Leidenschaften wahrer Geschichte auf elementare Weise. Es gibt diese Leidenschaft in der Bevölkerung - die Aufgabe ernsthafter Politik besteht darin, die einzelnen Menschen zu veredeln, indem sie ihn von den Fesseln überkommener Traditionen befreit, die sich in ihren Folgen als bösartig erwiesen haben. Die Regel muß sein, daß man dem wahren Wesen des Menschen als höherer Gattung dient.

Das war Shakespeares ebenso wie Schillers Leidenschaft. Es ist auch die meinige. Sie sollte auch die Ihre werden, solange man die Menschheit noch vom Abgrund eines neuen weltweiten finsteren Zeitalters zurückziehen kann.

Durch solche Dramen und Gedichte lehren die großen Dichter und die Schauspieler, die deren Absichten treu sind, die breite Bevölkerung wahre Geschichte und wahre Politik.

Man kennt die Geschichte nur in dem Maße, wie sie als leidenschaftliche Wirklichkeit, als wahre Geschichte auf der Bühne der lebendigen Einbildungskraft des Zuschauers neugeschaffen wird. Was ist er für Hekuba, daß er um sie weinen kann?

 

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