IWF-Direktor Michel Camdessus kam am 1. Dezember nach Moskau, um Rußland die Erfüllung der IWF-Bedingungen aufzuzwingen, bevor der Währungsfonds die nächste Tranche seines Anteils am "Rettungspaket" vom letzten Sommer freigeben würde. Nach zwei Tagen ergebnisloser Gespräche mit Ministerpräsident Jewgenij Primakow, dem Ersten Stellv. Ministerpräsidenten Jurij Masljukow, Zentralbankchef Viktor Geraschtschenko und anderen Spitzenvertretern räumte Camdessus das Feld.
Aber das russische "Njet" war noch der geringste Teil an der Demütigung Camdessus'. Denn die Russen weigerten sich nicht nur, den Forderungen des IWF nachzukommen, sondern stellten sogar selbst noch die Forderung auf, daß der IWF die 5,5 Mrd. Dollar umschuldet, die im Jahr 1999 fällig werden. Das ist das erste Mal in der Geschichte, daß ein Staat den IWF auffordert, die eigenen Schulden beim IWF umzuschulden. Die russische Forderung wurde ziemlich offen durch die Drohung untermauert, an den finanziell ausgebluteten IWF notfalls gar keine Schulden mehr zurückzuzahlen. Insgesamt sind ein Fünftel der ausstehenden IWF-Kredite von etwa 100 Mrd. Dollar weltweit, nämlich 19,58Mrd. Dollar, Kredite an Rußland.
Camdessus' Debakel zeichnete sich schon drei Tage vor seinem Eintreffen in Rußland ab: Am 28. November nannte Primakow die IWF-Experten "Kinder, die so gut wie nichts im Leben gesehen haben". Und der Ministerpräsident machte deutlich, daß es zu keiner Vereinbarung kommen würde: "Messen Sie die Bedeutung von Camdessus' Besuch nicht daran, wieviel Geld er mitbrachte. Er kam mit einer Tasche voll Dokumenten, nicht voll Bargeld. Denken Sie nicht, daß die Frage der Geldvergabe an Rußland jetzt gelöst wird."
Sein Stellvertreter Jurij Masljukow sagte am 2. Dezember vor dem Föderationsrat nur Stunden vor seinem Treffen mit Camdessus: "Das Ziel des russischen Staates und der Regierung ist eine soziale Neuorientierung der Marktwirtschaft... Das macht den IWF-Vertretern wirklich Angst, und auch einigen Teilen unserer Gesellschaft. Das Instrument der Neuorientierung wird eine zivilisierte staatliche Regulierung des Marktes sein, die auf den Erfahrungen entwickelter Länder gründet."
Am gleichen Tag stellte Rußland auch noch die Barzahlungen auf alte Schulden der Sowjetära ein und zahlte statt dessen nur in neuen Anleihen.
Den Höhepunkt einer ganzen Woche voller "Breitseiten" gegen den IWF bildete die Forderung von Duma-Sprecher Gennadij Selesnjow am 4. Dezember, Rußland solle die Beziehungen zum IWF abbrechen. Der IWF habe das Land gefesselt: "Wir müssen diese Fesseln von Rußlands Beinen lösen." Wolle Rußland den IWF-Forderungen nachkommen, so müsse es "erst eine Diktatur einrichten", sagte Selesnjow, weil "sonst die folgenden sozialen Unruhen nicht kontrolliert werden können".
Aber nicht nur die westliche Finanzoligarchie wurde hart getroffen, sondern auch ihr russischer Gegenpart. Präsident Boris Jelzin, der seit dem 22. November im Krankenhaus behandelt wird, kehrte am Morgen des 7. Dezember für kurze drei Stunden in den Kreml zurück. Diese Zeit nutzte er, um seinen Stab zusammenzurufen und zu maßregeln, und er beendete das Treffen, indem er seinen Büroleiter Valentin Jumaschew sowie drei weitere Mitarbeiter seines Präsidialstabes entließ: Jurij Jarow, Michail Kommissar und Jewgenij Sawostinow.
Jarow (56) wurde "nur" degradiert - Jelzin ernannte ihn zu seinem Repräsentanten beim Föderationsrat. Stabsleiter Jumaschew (der erst 40 Jahre alt ist) wurde durch Generaloberst Nikolaj Bordjuscha ersetzt, einen 49jährigen Veteranen des KGB, der zunächst in der Gegenspionage und später in der Personalabteilung diente. Im Januar 1998 war er zum Kommandeur der Grenztruppen ernannt worden.
Nach diesen Säuberungen kehrte Jelzin in die Klinik zurück.
Mit einem Schlag waren damit die Verbindungen eines der größten Finanzoligarchen Rußlands, Boris Beresowskij, in den Kreml gekappt. Zugleich wurde die Position des Ministerpräsidenten Primakow gefestigt, denn Bordjuscha kommt aus den KGB-Kreisen, die mit Primakow alliiert sind. Der ehemalige Grenztruppenkommandeur war erst vor sehr kurzer Zeit ins Moskauer Machtzentrum geholt worden: Nachdem Primakow Ministerpräsident geworden war, machte er ihn am 14. September zum Sekretär des Sicherheitsrates. Wichtig ist, daß Bordjuscha beide Posten behält - also sowohl Leiter des Präsidenten-Stabes sein wird als auch Sekretär des Sicherheitsrates.
Der (zumindest nominelle) Milliardär Beresowskij war und ist einer der Hauptakteure bei den Versuchen, die Regierung Primakow zu schwächen. Und es darf kein Zweifel bestehen: Wenn diese Versuche wirken, hat Rußland seine letzte Chance verspielt, dem Chaos zu entgehen. Der geschaßte Präsidialamtschef Jumaschew, Beresowskijs Mann im Kreml, hatte sich praktisch offen gegen die Regierung gewandt, als er den ehemaligen Ministerpräsidenten Viktor Tschernomyrdin öffentlich als "nächsten Präsidenten" unterstützte.
Jumaschew und die anderen Entlassenen waren es auch gewesen, die immer wieder Gerüchte in Umlauf setzten, Jelzin werde bald aus Gesundheitsgründen zurücktreten, worauf Neuwahlen folgten. Natürlich ist Jelzins Gesundheitszustand alles andere als rosig, aber der Wunsch nach Neuwahlen hat einen anderen Grund: Er zielt auf den Sturz der Regierung Primakow, weil man darauf setzt, daß es zu früh für Primakow wäre, eine eigene erfolgreiche Präsidentschaftskampagne auf die Beine zu stellen. Insofern war es wichtig, Beresowskijs Netzwerk aus dem Kreml zu entfernen, weil eine derartige politische Sabotage in der jetzigen Notlage nicht geduldet werden kann.
Eine gewisse Rolle spielte daneben ein Fraktionskampf innerhalb des aus dem KGB hervorgegangenen Russischen Sicherheitsdienstes FSB. Dies betrifft neben der Ernennung Bordjuschas auch die Entlassung Jewgenij Sawostjanows, der früher Chef des KGB und dann des FSB für die Stadt Moskau gewesen war und im Präsidialamt für Personalfragen und die Beziehungen zu den Sicherheitsorganen verantwortlich war. Er wurde durch General Wladimir Makarow ersetzt, der in der Gegenspionage des KGB Kariere gemacht hatte.
In Jelzins Dekret wird weiterhin bestimmt, daß neben den "Gewaltministerien" (FSB, Verteidigungs- und Innenministerium) auch die Steuerbehörde und das Justizministerium dem Präsidenten unterstellt werden. Jelzin will damit in den Worten seines Sprechers Dimitrij Jakuschkin "separatistischen Tendenzen" vorgreifen und die "Korruption bekämpfen". Gen. Bordjuscha erklärte dazu: "In einer Situation, wo Spitzenpolitiker und Geschäftsleute ermordet werden... und sich einige Leute erlauben, sich den Anordnungen des Präsidenten und der Regierung zu widersetzen..., müssen die Machtstrukturen eine größere Rolle in der staatlichen Führung übernehmen."
Ein breites Spektrum politischer Kräfte außerhalb des Lagers der mit dem IWF verbündeten Monetaristen und Finanzhaie unterstützt die Entlassung von Jumaschew und Co. Der Moskauer Bürgermeister Jurij Luschkow, ein führender Bewerber um die Präsidentschaft im Jahr 2000, sprach am 8. Dezember während eines Besuchs in Bonn dieses Thema an. Luschkow sagte, er begrüße die Entlassungen, weil die Betreffenden "nicht effektiv gearbeitet haben, zu politisch waren und manchmal ziemlich chaotisch agierten". Er fügte hinzu, durch die Entlassungen -werde Beresowskijs Einfluß im Kreml "sehr wahrscheinlich" stark reduziert: "Die vorherige Verwaltung war politisch - und nicht nur politisch - mit Beresowskij sehr eng verbündet. Ich denke, in diesem Sinne ist es eine nützliche Entscheidung des Präsidenten." Auch der Duma-Präsident Gennadij Selesnjow und der Parteichef der Kommunisten Gennadij Sjuganow begrüßten die Entlassungen.
Allerdings helfen Entlassungen allein dem Land nicht aus der Krise. Wirtschaftspolitische Weichenstellungen sind gefragt. Kurz nach Camdessus' Abreise sprach Ministerpräsident Primakow am 4. Dezember in Moskau auf einer Konferenz des Schweizer Weltwirtschaftsforums (bekannt durch die Jahrestagungen in Davos). Primakow faßte das Versagen der IWF-Reformpolitik zusammen: "Erfolglose Reformen trugen dazu bei, daß in Rußland eine Wirtschaft des Mißtrauens entstand... Die schlimmste Folge der Krise - und die ernste Lehre, die wir daraus ziehen müssen - ist nicht die sinkende Produktion oder der fallende Rubelkurs, sondern der völlige Glaubwürdigkeitsverlust, die Vertrauenskrise."
Primakow betonte, Rußland dürfe kein reiner Rohstoffexporteur sein, und wandte sich scharf gegen die "Finanzpyramide", die frühere Regierungen auftürmten. Man denke auch an eine Amnestie für Kapitalflucht-Vergehen. Derzeit flössen schätzungsweise 15 Mrd. Dollar jährlich aus dem Land: Es sei ein Paradox, wenn Rußland nicht die Mittel habe, sich selbst zu entwickeln, aber andere finanziere.
Konstantin George