Aus der Neuen Solidarität Nr. 51/1998:


Keine "Reform", sondern eine Tragödie


Das Versagen der "Reform"
Die neue Wirtschaftspolitik unter Primakow

Positive Beispiele

"An Rußland muß man glauben - es geht weiter", so äußerte sich ein deutscher Wirtschaftsvertreter auf dem Rußlandtag, zu dem Dienstag letzter Woche die Industrie- und Handelskammer Düsseldorf und der Verband der Deutschen Wirtschaft in der Russischen Föderation in das Kongreßzentrum der Düsseldorfer Messe eingeladen hatten. Unterstützt wurde die Konferenz u.a. vom Handelsblatt und der Westdeutschen Landesbank. Unter den etwa 300 Gästen waren alle wichtigen deutschen Firmen vertreten, die im Rußlandgeschäft engagiert sind, ebenso Wirtschaftsverbände und Wirtschaftsministerien des Bundes und diverser Bundesländer. Die über zwanzigköpfige hochrangige russische Delegation wurde angeführt vom Moskauer Oberbürgermeister und Präsidentschaftsaspiranten Jurij Luschkow.

Die Konferenz wurde vom Vorsitzenden des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft und Präsidenten des Verbandes der Deutschen Wirtschaft in der Russischen Föderation (RF), Otto Wolff von Amerongen, eröffnet und sehr sicher und sachkundig von der Delegierten der Deutschen Wirtschaft in der Russischen Föderation, Dr. Andrea von Knoop geleitet.

Es tat der Konferenz gut, daß niemand von der derzeitigen "politischen Bühne" in Bonn oder Düsseldorf vertreten war. So dachte niemand daran, den Russen in diesem besonders kalten Winter das Solarzeitalter zu verkaufen oder das "niederländische Modell" oder den "Dritten Weg" anzubieten. Der einzige Politiker war Luschkow.

Das Versagen der "Reform"

Jurij Luschkow geißelte in seiner Rede die "Reformpolitik". Als 1992 auf Betreiben ausländischer Berater die Preise freigegeben wurden, habe das ein "wildes Treiben" ausgelöst. Auf die radikalliberale Finanzpolitik, die nicht mit der Fürsorgepflicht für die Bevölkerung verbunden ist, sei die Gesellschaft nicht vorbereitet gewesen.

Bei der Privatisierung seien große Werte verloren gegangen. Die ausgegebenen Vouchers (Privatisierungs-Gutscheine für die Bevölkerung) hätten eine gewaltige Inflation ausgelöst, durch die der Wert dieser Papiere auf Null sank. Nicht wer produzieren wollte, hätte ein Unternehmen bekommen, sondern Spekulanten. So wurden unter Tschubajs Firmen, die eine Million DM wert waren, für ganze 1000 DM verscherbelt.

Diese Art von "Reform" sei eine "Tragödie", sagte Luschkow. Durch eine verfehlte Zoll- und Abgabenpolitik habe der Staat sehr schnell vor leeren Kassen gestanden. Da habe man vermehrt Kredite aufgenommen und so die Verschuldung in die Höhe getrieben. Ganz schlimm sei es dann in diesem Jahr geworden, als man begann, "mit dem Geld zu spielen". Luschkow verwies auf die Staatsanleihen mit kurzen Laufzeiten (GKOs), die dem Anleger Renditen von 60-100% versprachen. Diese Politik nannte er Hochstapelei auf Regierungsebene: "Ich habe selber früher eine große Firma geleitet. Das gibt es bei keinem normalen Unternehmen, daß man, wenn man eine Million investiert, am Ende des Jahres zwei Millionen Profit herausziehen kann."

Die Regierung habe gewußt, daß sie das Geld nicht zurückzahlen konnte, aber dennoch weiter gemacht. Diese Politik sei unmoralisch. Verantwortlich für diese Entwicklung sei auch der Internationale Währungsfonds (IWF) gewesen, sagte Luschkow. Man habe die Kredite vergeben, ohne danach zu fragen wofür. Vielleicht sei sogar die Absicht gewesen, Rußland bewußt "in ein Schuldenloch zu setzen, aus dem es nicht wieder herauskommt". Diesen Punkt wolle er aber nicht weiter vertiefen. Jedenfalls habe die Hochstapelei am 17. August mit einem "Scherbenhaufen" geendet, als die Pyramide einstürzte.

Die neue Wirtschaftspolitik unter Primakow

Die Frage, wie man mit dieser verheerenden Lage umgehen soll, brannte natürlich den Zuhörern auf den Nägeln. Kann man wieder Vertrauen fassen, oder soll man sich aus dem russischen Markt zurückziehen? Kann die neue Regierung mit der schwierigen Lage fertigwerden?

Erfreulicherweise wurde ernsthaft darüber diskutiert, wie man den realen Sektor der russischen Wirtschaft wieder "flott machen" kann.

Luschkow unterstützte in seinem Beitrag die Bemühungen von Ministerpräsident Primakow, eine sozial orientierte und an realer Produktion ausgerichteten Wirtschaftsstruktur zu schaffen. Russische wie deutsche Vertreter betonten die Notwendigkeit protektionistischer Maßnahmen, um die einheimische Produktion zu schützen und wieder aufbauen zu können.

"Auch wenn das Wort Protektionismus nicht im Lehrbuch des Liberalismus steht, ist Protektionismus günstig für Investitionen", sagte der Vorsitzende des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik, Sergej Karaganow. "In einigen Jahren werden wir die Wende sehen", sagte er. Eine zentrale Rolle beim Wiederaufbau der Wirtschaft muß nach Ansicht von Karaganow und Anatolij Dolgolaptjew, dem Präsidenten der Liga zur Unterstützung der Verteidigungsindustrie und Vorstandsmitglied der Union der Wissenschaftsstädte, der Maschinenbau spielen.

Auch Stanislaw Polownikow, der einem Konzern vorsteht, dessen Produktpalette vom U-Boot bis zur Rakete reicht, betonte die Notwendigkeit von Investitionen in Forschung und Entwicklung. Joint ventures könnten dabei Zeit sparen helfen. Flugzeugbau, Elektrotechnik, Medizintechnik und die Raumfahrt sahen alle Vertreter als Bereiche an, denen die Zukunft gehört. Auch die deutschen Unternehmensvertreter begrüßten diese an industrieller Produktion ausgerichteten Perspektiven.

Der Vizepräsident des Energiekonzerns Gasprom, Sergej Swerjew, sagte außerdem, man werde sich jetzt ein anderes Standbein schaffen: die Lieferung von Erdgas nach Südostasien und insbesondere nach China. Das große Potential Rußlands, das betonte auch Luschkow, liege in den gutausgebildeten Arbeitskräften. Die Facharbeiter, Ingenieure und Wissenschaftler müßten wieder eine Chance bekommen.

Positive Beispiele

Wie man mit Rußland erfolgreich wirtschaftlich verkehren kann, stellte der Bevollmächtigte des Vorstands der Firma Philips, Rosenbauer, dar. Philips hat vor vielen Jahren gegen den Rat der Bundesregierung und der Banken eine Kooperation mit russischen Firmen geschlossen. So errichtete man Produktionsstätten für Ultraschall- und Röntgengeräte für die Krebsfürsorge. Statt in Rußland Auslaufmodelle zu verscherbeln wie andere, holte man die modernste Technik und produziert dort bis heute erfolgreich für den einheimischen Markt.

Nicht alles liegt derzeit in Rußland im Argen; so verwies Luschkow darauf, daß zwölf russische Regionen von staatlichen Zuschüssen unabhängig sind. Man habe eine Basis für den Wiederaufbau.

Ein Hauptproblem stellt natürlich die Verschuldung dar. Vor dem 17. August machten die Schulden 30% des Inlandsproduktes aus, danach waren es 75%. Man muß sich Gedanken machen, wie die Schulden in Kredite umgewandelt werden können, um projektbezogen die reale Wirtschaft wieder in Gang zu setzen. Luschkow forderte, nur gebundene Kredite zu vergeben, statt damit ausstehende Löhne und Renten zu zahlen oder den Konsum zu steigern.

In vielen Gesprächen am Rande der Konferenz fand man Übereinstimmung, daß die Politik jetzt handeln muß, um das weltweite bankrotte Finanzsystem neu zu strukturieren. Das Finanzsystem muß wieder der realen Wirtschaft und damit dem Menschen dienen.

Von der Konferenz ging die Zuversicht aus, daß es Rußland schaffen wird, aus dem "Loch" wieder herauszukommen. So konnte Frau von Knoop mitteilen, daß im Gegensatz zu einigen Unternehmen aus Übersee deutsche Firmen Rußland nicht verlassen haben.

Michael Vitt