Aus der Neuen Solidarität Nr. 51/1998:


Was geschah in Nowosibirsk?

Präsident Jiang Zemins Rede vom 27. November 1998 in Nowosibirsk hat allerhöchste strategische Bedeutung

Von Lyndon LaRouche

Seit Beginn der von mir vorausgesagten Endphase der weltweiten Finanzkrise im Oktober 1997 bis Ende November 1998 bestand die Antwort der sog. G-7-Länder praktisch in kollektivem Wahnsinn. Abgesehen von einigen wenigen interessanten Äußerungen seitens US-Präsident Bill Clintons war alles, was die G-7-Länder unternahmen, schlimmer, als wenn sie gar nichts unternommen hätten. Etwa Mitte 1998 dämmerte es immer mehr führenden Kreisen in Asien, daß nicht nur der IWF mit seinem kläglichen Direktor Camdessus das "Mandat des Himmels" verloren hatte, sondern auch die Regierungen Westeuropas, der USA und Kanadas. Einige einflußreiche Passagiere der sinkenden Titanic der Weltwirtschaft verloren das Vertrauen in die Fähigkeiten ihres Kapitäns. Mit jedem Tag deuten mehr Regierungen an, daß sie vom Schiff abspringen möchten, und die hyperinflationäre Charade der letzten Wochen empört sogar einige jener Zentralbankiers, die sich diesen dummen Streich selbst mit ausgedacht hatten.

Es wurde also im Laufe der letzten Wochen deutlich, daß die Führungsrolle von der G-7 in vernünftigere Hände übergehen muß - wahrscheinlich an eine Gruppe eurasischer Nationen, die sich um Initiativen scharen, die von der gegenwärtigen chinesischen Regierung ausgehen. Entsprechend ist das politische Erdbeben mit der größten Tragweite des letzten halben Jahrhunderts, die historische Rede des chinesischen Präsidenten Jiang Zemin in der berühmten russischen Wissenschaftsstadt Nowosibirsk, in den Medien des selbstzerstörerischen Westens nahezu unerwähnt geblieben. Schon die Tatsache, daß der chinesische Präsident dorthin fuhr, um eine größere Ansprache zu halten, war von historischer Bedeutung; und der Inhalt der Rede "ließ den Himmel erzittern". Die mürrischen Massenmedien Westeuropas und Amerikas - die sonst für ihr gewohnheitsmäßiges Lügen bekannt sind - murmelten einige ärgerliche geopolitische Drohungen vor sich hin, hielten sich sonst aber an das Diktum: "Sprich nicht vom Strick im Hause des Gehängten!"

Mehrere Jahrhunderte lang, seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, hat die neuzeitliche westeuropäische Zivilisation auf der Welt dominiert, bis vor etwas mehr als einem Vierteljahrhundert, in der ersten Hälfte der 70er Jahre ein Prozeß des Niedergangs der Volkswirtschaften dieser Länder einsetzte. Das anglo-amerikanische transatlantische Establishment hat die Welt zwar weiter beherrscht, aber etwa seit dem Amtsantritt von US-Präsident Jimmy Carter sorgte der Rückgang der Nettoproduktivkraft pro Kopf dafür, daß die "westliche Zivilisation" immer mehr den Eindruck eines untergehenden Imperiums machte, wie einst die untergegangenen Reiche in Mesopotamien, Rom, Byzanz und die Habsburger.

Nach dem abrupten Zusammenbruch der sowjetischen Macht 1989-91 schien es oberflächlichen Beobachtern, als wären Premierministerin Margaret Thatcher und ihr folgsamer US-Präsident George Bush den Ruinen Panamas und Iraks derart gestärkt entstiegen, daß sie für eine sehr lange Zeit die unbestrittenen Herrscher dieses Planeten sein würden. Aber mit den Entwicklungen auf den Weltfinanzmärkten seit Oktober 1997 hat sich dieses Trugbild unanfechtbarer anglo-amerikanischer Macht zunehmend aufgelöst; das ewige Grinsen der Tony Blairs steht kurz davor, für immer zu verschwinden. Das Zaudern und Scheitern der G-7-Regierungen seit Mitte September führte jetzt zu einer Lage, in der selbst die kindischsten Träume von einem raschen Aufschwung der amerikanischen und westeuropäischen Finanzmärkte sehr bald für immer verschwunden sein werden, wenn in den kommenden acht Wochen die nächste Kollaps-Phase mit voller Wucht schrecklich zuschlägt.

Der psychologische Wendepunkt lag zwischen der mutigen Rede Präsident Clintons am 14. September vor dem New Yorker Council on Foreign Relations und der ängstlichen Reaktion auf genau die gleichen Fragen nach dem Sieg der "rot-grünen" Regierung in Deutschland am 27. September. Dazwischen lagen der Kollaps der Spekulationsblase des Fonds Long-Term Capital Management (LTCM) am 23. September und die akuten Befürchtungen einer Brasilien-Krise, und dies hat offenbar Clintons Willen zu ernsthaften Initiativen hinsichtlich der Ursachen der globalen Krise gebrochen. Unter dem deutlich sichtbaren, hysterischen Druck des Blair-Fans und US-Vizepräsidenten Al Gore ließ sich Clinton zu einem - wahrscheinlich vorübergehenden - Bündnis mit seinem Feind, dem jetzt sehr wackeligen britischen Premier Tony Blair, hinreißen.

Was Präsident Clinton auch als nächstes tun wird, es hat seinem Einfluß sehr geschadet, daß er sich seit der katastrophalen Sitzung der G-7 in Washington im Oktober vor der wahren Natur der gegenwärtigen Weltkrise "gedrückt" hat. Bei diesem Treffen wurde der "europäische" Weg supranationaler Regierung Clinton sozusagen in den Mund gelegt. In solchen Fällen ist der Präsident ein Opfer von Wunden, die er sich selbst zufügt; manchmal kann sich Nicht-Handeln als eine solche, politisch tödliche Wunde erweisen. Welche Ängste ihn auch vor einem wirksamen Handeln zurückschrecken ließen, er hätte die Folgen seines Nachgebens gegenüber diesen Ängsten weit mehr fürchten müssen als irgendeine andere Bedrohung für sein Amt, sein Land oder die Menschheit.

Wie dem auch sei, weil er nicht rechtzeitig und angemessen gehandelt hat, fragt sich nun die Welt: "Wenn der amerikanische Präsident sich weigert, verantwortlich zu handeln und das System beendet, das die Welt zerstört, wer wird es dann tun?"

Meine Mitarbeiter und ich standen viele Male vor dieser Frage, als der Präsident in den letzten Jahren - besonders seit Frühjahr 1996 - wieder und wieder in unaufschiebbaren, überlebenswichtigen Fragen gezögert und gezaudert hat. Meine Antwort war schließlich: Die einzige Alternative ist, daß eine Gruppe miteinander zusammenarbeitender asiatischer Nationen um China, Rußland hoffentlich eingeschlossen, die Führung übernimmt.

In den letzten Wochen haben nicht nur China und Malaysia, sondern auch andere wichtige Nationen außerhalb Westeuropas und der USA eine hoffnungsvolle und ernsthafte Haltung zur neuen Lage in Eurasien eingenommen. Entscheidend war dabei die Rolle der chinesischen Regierung, die andere zu einem solchen unabhängigeren und optimistischeren Geist inspirierte. In diesem Kontext hat Präsident Jiang Zemins Rede vom 27. November 1998 in Nowosibirsk allerhöchste strategische Bedeutung für diejenigen, welche die kurzfristige Alternative zur weltweiten Zusammenbruchskrise suchen, die Präsident Clinton bisher nicht bieten will.

Die jüngsten und die bald bevorstehenden Treffen verschiedener Nationen - China mit Rußland, China mit Japan und Rußland mit Indien - spiegeln das Auftauchen eines wesentlichen neuen Potentials für die ganze Erde wider. Rußland, China und Indien sind die relativ stärksten Nationen unter jenen, die lange Zeit als "Außenseiter" gegenüber der transatlantischen Achse der Weltmacht und dem anglo-amerikanisch beherrschten "G-7-Club" galten. Man behandelte diese Außenseiter - entweder als "kommunistische Länder" oder als "Entwicklungsländer" - als den führenden Mächten der angeblichen "westlichen Zivilisation" moralisch und kulturell "unterlegen". Mit dem Kollaps der Sowjetunion verbreitete sich der Mythos, dies habe zweifelsfrei "bewiesen", daß der "Freihandel" dem "Dirigismus" überlegen sei; gleichzeitig glaubte man, daß kein potentieller Gegner stark genug wäre, die praktisch diktatorische Autorität in Frage zu stellen, welche die anglo-amerikanischen Weltmächte unter Thatcher-Bush mit den Ereignissen von 1990-91 vermeintlich errungen hätten.

Vor allem nach 1989-91 waren sowohl die früheren Verbündeten der Sowjetunion als auch die sog. "Entwicklungsländer" von der Angst vor der Unbesiegbarkeit der Anglo-Amerikaner so sehr beherrscht, daß sie von dem tatsächlich immer stärkeren Hinschwinden dieser Unbesiegbarkeit lieber erst gar nichts bemerken wollten. Der frühere indische Ministerpräsident Jawaharlal Nehru hat in seiner Autobiographie treffend darauf hingewiesen, daß die britischen Radschas die Herrschaft in ihrer indischen Kolonie weniger auf die verfügbaren eigenen Streitkräfte stützten als auf ihre Fähigkeit, in den Beherrschten und Ausgeplünderten ein Gefühl der Unterlegenheit zu verbreiten. Mit dem Ausbruch der jetzigen Endphase der Weltfinanzkrise im Oktober 1997 hat sich dann die Lage fundamental verändert. Das schmachvolle Versagen der westlichen Regierungen angesichts der Entwicklungen von August bis Oktober 1998 zeigte dann der ganzen Welt, daß der vermeintliche Riese der atlantischen Allianz zwar noch eine garstige Faust hatte, aber auf tönernen Füßen stand. Das wachsende Gefühl der politischen Unfähigkeit der Regierungen der transatlantischen Mächte hat einen Wandel ausgelöst, der zwar teilweise rein psychologisch ist, aber dennoch tiefgreifende, epochale Dimensionen hat.

Das Wesentliche an diesem Wandel ermißt man an dem Inhalt und den Implikationen von Präsident Jiang Zemins Nowosibirsker Rede. Weder Präsident Clinton noch irgendein anderer Staats- oder Regierungschef oder auch nur wichtiger Parteichef in Westeuropa oder den USA wäre emotional oder intellektuell fähig gewesen, auch nur die Implikationen einer solchen Rede zu begreifen. Die Reaktion der Presse und anderer führender Stellen der transatlantischen Mächte bot ein Schauspiel schlechtgelaunter und sehr kleingeistiger Liliputaner, die den Riesen Lemuel Gulliver anspucken und beschimpfen. Welch ein Kontrast: ein China, das erwacht ist und sich wie ein Riese vorwärtsbewegt, und auf der anderen Seite eine dekadente Ansammlung von Relikten sterbender transatlantischer Macht, die mit sich selbst zugefügten, vermutlich tödlichen Wunden darniederliegen. Die Gefahr für diese dekadenten transatlantischen Mächte geht nicht von Asien aus - sie geht aus von der tödlichen Korruption, die in den letzten 30 Jahren immer mehr die politischen Parteien und das finanzielle Establishment in diesen Ländern selbst ergriffen hat.

In diesen Kontext muß man die strategischen Probleme stellen; in diesem Licht sollte man die Implikationen von Jiang Zemins Rede nochmals studieren.

Hören Sie sich die Reden der angeblich führenden Sprecher der verrottenden transatlantischen Mächte, z.B. der G-7, an. Achten Sie auf die hysterischen Obertöne. Im Chor sagen sie, sinngemäß: "Ihr glaubt vielleicht, Ihr könnt uns vom Gegenteil überzeugen. Aber wir sind fest entschlossen, die nachindustrielle Weltordnung zu konsolidieren. Ihr werdet niemals unsere Politik von ,Freihandel' und ,Globalisierung' ändern. Wir haben diese Trends durchgesetzt, und jetzt sind sie unumkehrbar." Genauso hat vielleicht der persische Großkönig seine gräßliche Drohung gegen Alexander den Großen ausgestoßen: "Wir treffen uns bei Arbela!" Derlei Reden - und sie sind derzeit in den entsprechenden Kreisen Routine - erinnern an den alten König Canute, der Wind und Wellen befehlen wollte, stille zu stehen, oder an Belsazar. Diese Regierungen und großen Parteien des Westens haben schlichtweg den Verstand verloren!

China zielt nicht darauf, "den Westen" zu erobern. Chinas Bemühungen zielen schlicht und einfach darauf, zu überleben, auch wenn die transatlantischen Mächte gegenwärtig ganz offensichtlich fest zum ökonomischen und kulturellen Massenselbstmord entschlossen sind. Die Presse des Hollinger-Konzerns und der anderen westlichen Medien droht Ländern wie China, Malaysia, Rußland usw.: "Schließt euch unserem Massenselbstmord an, sonst bringen wir euch um!"

Die Politik, die Präsident Jiang Zemin kürzlich gegenüber Rußland und Japan bekräftigt hat, zielt darauf, daß China und so viele andere Nationen wie möglich zusammenarbeiten können, damit die Welt den kurz bevorstehenden Kollaps des Finanzsystems, aber auch der Realwirtschaft der meisten, vielleicht aller Länder, überlebt. Die entsprechende Außenpolitik der Chinesen, wie sie sie ausdrücklich formuliert haben und auch praktizieren, orientiert sich an drei Hauptpunkten, die durch eine entsprechende Innenpolitik für die interne Entwicklung ergänzt werden.

Von Ost nach West gesehen, vom östlichen Endpunkt Lianyungang in China nach Rotterdam, ist die Politik die, eine trans-eurasische Landbrücke zu entwickeln, eine Verbindung von Eisenbahnnetzen und damit zusammenhängenden anderen Infrastrukturverbindungen, welche die Regionen im Inneren Eurasiens für eine wirtschaftliche Entwicklung öffnen, deren ökonomische Auswirkungen auf ganz Eurasien revolutionär sein werden. Damit wird der ursprünglich von dem deutsch-amerikanischen Ökonomen Friedrich List entwickelte Vorschlag wiederbelebt. Dies bildet das Rückgrat der Eurasischen Landbrücke.

Dies soll durch den Aufbau einer Partnerschaft der vom Landbrücken-Programm unmittelbar betroffenen Nationen ergänzt werden - von Japan bis Rotterdam, einschließlich der meisten Länder Asiens und Kontinentaleuropas; im Zentrum soll dabei die Zusammenarbeit der wichtigsten Volkswirtschaften Asiens stehen - Japan, China, Indien und Rußland, aber auch mit einem besonderen Gewicht auf den südostasiatischen Nationen.

Und schließlich will China seine Bevölkerung schon bald Anfang des neuen Jahrhunderts hinsichtlich Bildung und Ausbildung auf Weltniveau bringen.

Ob Chinas Politik der Wirtschaftskooperation mit den zukünftigen Landbrücken-Partnern erfolgreich verwirklicht werden kann, hängt davon ab, ob in großem Umfang Technologieprogramme im Werkzeugmaschinenbau und verwandten Bereichen in Angriff genommen werden, die als "Wissenschaftsmotor" dienen können. Angesichts des enormen Bedarfs Chinas in diesem Bereich und in anderen Ländern Asiens brauchen wir für den Erfolg dieser Wirtschaftspolitik eine Mobilisierung von Werkzeugmaschinen- und Wissenschaftsprogrammen, wie sie die Erde an Umfang und Intensität noch nie gesehen hat. Der frühere wissenschaftlich-militärisch-industrielle Komplex der Sowjetunion, für den Nowosibirsk beispielhaft steht, ist dafür unverzichtbar.

Diese Politik ist für Rußland die einzige Hoffnung, und auch für Indien definiert sie ein unverzichtbares Umfeld. Gleichzeitig ist sie gegenwärtig die alleinige Quelle der Hoffnung für die beinahe zerstörte Wirtschaft in Westeuropa. Die ganze Welt braucht diese Politik dringend. Nur eine solche Zusammenarbeit in diesem großen Umfang kann den Lauf in den Untergang umkehren, den uns die transatlantischen Mächte mit ihren törichten politischen Entscheidungen der letzten 30 Jahre aufgezwungen haben.