Das Weltfinanzsystem ist aus den Fugen geraten. Wirtschaftliche Daten wie Währungskurse, die einst einen Maßstab für die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft darstellten, spielen total verrückt. Beispiel Indonesien: Im Juli 1997 bekam man für 2400 Rupien einen US-Dollar. Zum Jahresende 1997 mußten für einen Dollar schon 5500 Rupien aufgebracht werden. Am 3. Januar waren es bereits 6000 Rupien, am 5. Januar 6700 Rupien, am 7. Januar 8200 Rupien, und am 8. Januar wurde gar die Marke von 10000 Rupien durchbrochen. Dagegen sind die Preise indonesischer Waren, in Landeswährung ausgedrückt, weitgehend stabil. Die Folge: Für die Rückzahlung eines Dollar-Kredits, den ein indonesisches Unternehmen im Juli 1997 aufgenommen hat, muß es heute, ganz abgesehen von den Zinsraten, die vierfache Menge an Gütern produzieren, als bei Aushandlung des Kredits abzusehen war.
In rasendem Tempo machen die Unternehmen bankrott und wachsen die Berge fauler Schulden in den Bankensystemen. Die berüchtigten Auflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF) tun ihr übriges. Nach jüngsten Schätzungen wird die Finanzkrise in Indonesien rund zehn Millionen Arbeitsplätze vernichten. In Thailand wird mit dem Verlust von mindestens zwei Millionen Arbeitsplätzen gerechnet. Trotz insgesamt 120 Mrd. Dollar schwerer Rettungspakete für Thailand, Indonesien und Südkorea droht jetzt die Zahlungsunfähigkeit ganzer Volkswirtschaften. Schon in den Weihnachtstagen stand Südkorea unmittelbar vor dem Staatsbankrott, mit unabsehbaren Konsequenzen für das weltweite Finanzsystem.
Während in Südkorea durch eine Initiative des US-Finanzministers das Schlimmste in letzter Minute noch einmal um 30 Tage hinausgeschoben wurde, schrillen nun auch für Indonesien und Thailand erneut sämtliche Alarmsirenen. Derweil stemmen sich die großen japanischen Banken gegen eine längerfristige Umschuldung der südkoreanischen Verbindlichkeiten, weil ihnen selbst das Wasser bis zum Hals steht. Und mit jedem neuen Tag fallen die Aktienmärkte in Asien weiter in den Keller und stürzen die Währungen auf immer neue, noch wenige Tage zuvor kaum für möglich gehaltene, historische Tiefstände.
Einmal abgesehen von der Frankfurter Börse, haben die Ereignisse der vergangenen Monate einen kräftigen Schub Realitätssinn in die politischen und journalistischen Betrachtungen der Finanzwelt hineingeblasen. Fundamentale Kritik am IWF kommt in Mode. Die Heilsbotschaften der Globalisierer fallen der Lächerlichkeit preis. Und auch das liberale Dogma, nachdem nur das auf schnellen, spekulativen Profit ausgerichtete Treiben der international operierenden Investmentfonds den richtigen Wert von Währungskursen oder anderen Wirtschaftsindikatoren auf dem freien Markt ermitteln könne, gerät ins Wanken.
Beispielsweise war im Düsseldorfer Handelsblatt zu Beginn des Jahres ein erfrischender Kommentar zu den systemischen Verwerfungen in der Weltwirtschaft und der geradezu verblüffenden Naivität der "Kathederliberalen" zu lesen. Hans Mundorfs Beschreibung der "Virtualität von spekulativen Märkten" gipfelt in der Metapher von einer Milliarde nur in den Computern der Spekulanten existierender Schweinebäuche, die den Preis von einer Million tatsä chlich erzeugten Schweinebäuchen bestimmen. Mundorfs Belege für das Auseinanderdriften von Finanztiteln einerseits und realwirtschaftlichen Kennziffern andererseits sind für den Leser dieser Zeitung natürlich keine Überraschung.
Nach den im Dezember 1995 von der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel veröffentlichten Schätzungen wurden bereits zum damaligen Zeitpunkt rund 3000 Mrd. Dollar an Finanztransaktionen, inklusive der Derivate genannten Wettgeschäfte, auf täglicher Basis abgewickelt. Wenn man davon allein nur die gewöhnlichen Devisengeschäfte betrachtet, so hatte der weltweite Handel mit Gütern und Dienstleistungen daran in den 60er Jahren noch einen Anteil von rund 70%. Inzwischen ist dieser Anteil auf weniger als 1% abgefallen. Das heißt, die übrigen mehr als 99% an Finanztransaktionen sind rein spekulativ.
Bei den Finanzderivaten wächst das abseits der Börsen und
Aufsichtsbehörden betriebene Geschäft, die sogenannten
OTC-Derivate, nach wie vor explosionsartig an. Laut BIZ
betrug Ende März 1995 das weltweite Nominalvolumen der
offenen Derivatkontrakte 55,7 Billionen DM (die von Mundorf
genannten Zahlen entsprechen den Angaben der
BIZ-Jahresberichte, die aber nur einen Teil des
OTC-Geschäftes umfassen). Bereits zum Jahresende 1996 dürfte
die Schallmauer von 100 Bio. Dollar durchbrochen worden sein.
Damit übertreffen allein die aus Derivaten stammenden
kurzfristigen Verbindlichkeiten innerhalb des globalen
Finanzsystems die Summe der Jahres-Bruttoinlandsprodukte
aller Staaten der Welt.
Gerade die deutschen Banken gehen in jüngster Zeit mit besonders
schlechtem Beispiel voran, wie aus dem im Oktober 1997
veröffentlichten Sonderbericht der Bundesbank
Bilanzunwirksame Geschäfte deutscher Banken
hervorgeht. Mit einer jährlichen Wachstumsrate von 61% waren
die Derivatverpflichtungen deutscher Banken Ende 1996 auf
16,8 Bio. DM angestiegen. Zur Jahresmitte 1997 waren es
bereits 21,7 Bio. DM, d.h. mehr als sechsmal so viel wie das
bundesdeutsche Bruttoinlandsprodukt eines ganzen Jahres.
Man vergleiche hierzu etwa den Kreditbestand der deutschen
Banken gegenüber dem hiesigen Verarbeitenden Gewerbe, der seit
Jahren bei etwa 0,3 Bio. DM eingefroren ist.
Erstens ist der gewaltige Überhang an fiktiven, nicht durch
realwirtschaftliche Werte gedeckten Finanztiteln zu
bereinigen. Vielmehr ist ein globales Bankrottverfahren
notwendig, bei dem ein erheblicher Teil insbesondere der
kurzfristigen und spekulativen Verbindlichkeiten
abgeschrieben wird. Dabei würden dann auch die 999 Millionen nur
im Computer existierenden Schweinebäuche verschwinden.
Zweitens müssen Institutionen entstehen, die nach dem Vorbild
der ersten amerikanischen Nationalbank oder der deutschen
Kreditanstalt für Wiederaufbau den finanziellen Rahmen des
produktiven Neuaufbaus garantieren.
Schließlich muß dafür Sorge getragen werden, daß die Gier und
der Herdentrieb der Finanzspekulanten nicht wieder zum
Schiedsrichter der Wirtschaftspolitik gemacht werden
können. Nach naiv-liberaler Vorstellung macht sich der
Devisenhändler mit den "Fundamentaldaten" einer
Volkswirtschaft vertraut und schätzt auf dieser Grundlage die
zukünftige Entwicklung des Währungskurses ab, und in der
Masse führen die Geschäfte der Devisenhändler sodann den
angemessenen Währungskurs herbei. Wer kann aber an derlei
Zauber glauben, wenn die gleichen Devisenspekulanten, die
noch vor einer Woche die indonesische Rupie bei 5500 zum Dollar
taxierten, heute bereits 10000 Rupien gegen einen Dollar
tauschen!
Als der malaysische Premierminister Mahathir am 4. Dezember 1997
erklärte, daß er den Bau einer 95 km langen Brücke über die
Straße von Malakka der Finanzkrise zum Trotz "in vollem Umfang"
realisieren wolle, stürzte der malaysische Ringgit am folgenden
Tag auf ein Rekordtief ab. Keiner der an den
Computerbildschirmen sitzenden Devisenhändler dürfte dabei
intensivere Überlegungen angestellt haben, welchen Beitrag
der Bau dieser Brücke für den Aufbau der produktiven Kräfte
Malaysias und damit auch für die Stabilität der Landeswährung
in der Zukunft leisten könnte. Das muß ihn auch gar nicht
interessieren. Denn sein spekulativer Profit hängt allein
davon ab, daß er in Sekundenschnelle errät, wie die übrigen
Spekulanten reagieren, wenn der "reuters-wire" mit der
Nachricht über Mahathirs Rede auf dem Bildschirm erscheint.
Mit flankierenden Maßnahmen wie Devisenkontrollen, wie sie
in höchster Not jetzt von Thailand in Erwägung gezogen werden,
sowie einer nur teilweisen Konvertierbarkeit der Währungen
kann man den Anfängen der Spekulation in einem reformierten
Weltfinanzsystem wehren.
Man stelle sich vor, der Wiederaufbau der Bundesrepublik
nach dem Krieg hätte unter den Rahmenbedingungen des heutigen
Finanzsystems stattfinden müssen. Noch im Jahre 1950 galt die
Deutsche Mark, trotz der 1948 erfolgten Währungsunion, als
die schwächste Währung Europas. Die Handelsbilanz war stark
negativ. Wäre die DM damals voll konvertibel gewesen und hätten
die Finanzspekulanten bereits über derart gigantische
Kriegskassen verfügt wie heute, so hätte die deutsche Währung
wohl ein ähnliches Schicksal erlitten wie heute die
indonesische Rupie, der malaysische Ringgit, der thailändische
Baht oder der südkoreanische Won. Statt dessen konnte die
Bundesrepublik mit gewaltigen Investitionen in neueste
Produktionstechnologien das Arbeitskräftepotential
mobilisieren und zwischen 1950 und 1958 jedes Jahr eine halbe
Million zusätzliche Arbeitsplätze schaffen. Erst 1958, als trotz
des Zuzugs vieler Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen die
Vollbeschäftigung erreicht war, wurde die DM voll
konvertibel gemacht.
Lothar Komp
Die Lösung
Die Analyse ist aber nur der erste Schritt. Die entscheidende
Frage besteht darin, wie die zerstörerische Wirkung der heutigen
Finanzmärkte beseitigt und der Rahmen für einen weltweiten
Wiederaufbau der physischen Wirtschaft geschaffen werden kann.
Vorschläge für eine bloße Anbindung der drei wichtigsten
Weltwährungen Dollar, Yen und DM bzw. Euro, wie sie
hierzulande in einigen sozialdemokratischen Kreisen
kursieren, greifen zu kurz. Dafür ist es bereits zu spät. Ein
System fester Wechselkurse, wie es bis in die frühen 70er
Jahren hinein nach den Absprachen von Bretton Woods Bestand
hatte, ist zwar wünschenswert. Es müssen aber drei weitere
Bedingungen erfüllt sein, damit ein Schuh daraus wird.