Aus Ibykus Nr. 69 (4/1999):
"Das Wichtigste ist die Ausbildung der Vernunft!"
In diesem Jahr war das Cello-Festival
in Kronberg, das alle zwei Jahre unter der Schirmherrschaft von
Marta Istom¡n-Casals, der Witwe des legendären spanischen
Cellisten Pablo Casals, durchgeführt wird, dem 75. Geburtstag
des bedeutenden ungarischen Cellisten Janos Starker gewidmet.
Starker, der 1946 aus politischen Gründen über Frankreich in die
USA emigrierte, war zunächst Solocellist (in Dallas unter Antal
Doráti, und an der New Yorker Met sowie in Chicago unter Fritz
Reiner) großer amerikanischer Orchester; seit dem Ende der 50er
Jahre konzentrierte er sich auf eine Solistenkarriere, die ihn
auf alle Konzertpodien der Welt führte und ihm auch viele
renommierte Schallplattenpreise einbrachte. Starker arbeitete
mit allen führenden Orchestern und Dirigenten der Welt zusammen;
seine zahlreichen Sonatenabende bestritt er u.a. mit dem
polnischen Pianisten Mieczyslaw Horszowski, dem Japaner Shigio
Neriki und dem Deutschen Günter Ludwig, der ihn fast 30 Jahre
lang bei seinen Konzerten in Europa "begleitete". Gleichzeitig
widmete Starker sich aber auch mit großem Engagement der
Ausbildung des Nachwuchses, wobei ihm die Professur an der
Musikschule der Universität Indiana in Bloomington, wo er auch
heute noch unterrichtet, die besten Voraussetzungen bot.
Starker, der bereits mit neuneinhalb Jahren an der Budapester
Musikakademie aufgenommen wurde und 1939 als fünfzehnjähriger
mit einer aufsehenerregenden Aufführung der außerordentlich
schwierigen Solosonate von Zoltan Kodály debütierte, gehört zu
den bedeutendsten Cellisten dieses Jahrhunderts und gilt als
großer Lehrer seines Fachs. Seine Meisterklassen in Kronberg
hatten außerordentlichen Zulauf - sowohl von "schockierend
guten" (Starker) Nachwuchscellisten, als auch von interessierten
Zuhörern. Im Anschluß an eine Podiumsdiskussion über die
Probleme bei der Ausbildung junger Musiker am 24. Oktober hatte
Ibykus Gelegenheit, mit Starker ein Gespräch zu führen;
mit ihm unterhielten sich Ortrun und Hartmut Cramer.
Während Ihrer Meisterklasse heute morgen hatten Sie einem
Studenten bei der Einstudierung der Kodály-Solosonate etwas
klargemacht, was uns als Zeitschrift für Poesie, Wissenschaft
und Staatskunst natürlich besonders interessiert: Sie hatten
diesen jungen, ganz ausgezeichneten Cellisten auf die Bedeutung
der Betonung in der ungarischen Sprache hingewiesen -
grundsätzlich wird die erste Silbe betont - , und daß sich
daraus natürlich entsprechende Konsequenzen für die Phrasierung,
d.h. die Interpretation der ungarischen Musik ergeben. Auch
heute Nachmittag bei der Podiumsdiskussion mit Ihren Kollegen
klang das noch einmal in Bezug auf die russische Musik - den
"russischen Akzent" - an. Könnten Sie das näher erläutern?
Starker: Musik ist eine Sprache; wenn z.B. französische
Musik gespielt wird, dann klingt das etwa so ähnlich, wie die
Franzosen sprechen. Allerdings sind die wichtigsten
musikalischen Grundlagen von Bach, Mozart, Beethoven, Brahms und
anderen großen klassischen Komponisten gelegt worden. Was das
Verhältnis von Sprache und Musik betrifft, so ist das für die
ungarischen Musiker sehr einfach zu verstehen, denn wir Ungarn
akzentuieren in der Regel die erste Silbe eines Wortes; auf
dieser Silbe liegt also das Gewicht. Diese Tatsache wird oft als
Beantwortung der Frage angeführt, wieso es möglich ist, daß so
ein kleines Land wie Ungarn mehrere große Komponisten und viele
berühmte ausübende Musiker - meistens Dirigenten, Pianisten,
Geiger und Cellisten - hervorgebracht hat. Ich glaube, das hat
tatsächlich damit zu tun, daß wir viel einfacher die Prinzipien
des Musizierens verstehen können.
Wegen der ungarischen Sprache?
Starker: Ja, wegen der Besonderheiten unserer Sprache.
Und außerdem hatten wir die einmalige Chance, von den größten
Musikern unterrichtet zu werden; von Musikern, die teilweise
noch Brahms persönlich gekannt haben, aber auch Liszt und
andere. Deshalb können wir ungarische Musiker behaupten, daß wir
über diese Komponisten eine direkte Verbindungslinie mit
Beethoven haben.
Wenn wir in Bezug auf die Sprache noch einen Schritt
weitergehen, und uns auf die poetische Sprache, die Poesie,
konzentrieren: Die Musik ist ja eine Form von poetischer
Sprache, nicht der Alltagssprache, wie sie sich vielleicht in
der Rap-Musik äußert...
Starker: ...um den poetischen Inhalt in der Musik
auszudrücken, benutzen wir meistens das, worüber ich gestern bei
meiner Klasse gesprochen habe, die Agogik. Das bedeutet, daß bei
einem gespielten Vierertakt die vier Schläge nicht alle vier
gleich - d.h. gleichwertig - sind, sondern
unterschiedlich betont werden, wenn auch die Gesamtzeit dieses
Taktes genau eingehalten werden muß! Weitet man das Ganze auf
eine längere Phrase aus, nennen wir das Rubato. Das ist
allerdings problematisch, denn wenn der Künstler sich dabei in
einen bestimmten Ton oder Klang "verliebt" und dabei die
Taktwerte - manchmal sogar um einen ganzen Schlag -
verlängert, dann ist das nicht etwa "frei", sondern falsch. Das
hören wir zwar oft, und manchmal ist es für das Publikum auch
sehr ansprechend, aber es ist trotzdem falsch. Natürlich ist das
auch eine Disziplinfrage.
Wir wollten auf den Aspekt hinweisen, daß bei der
poetischen Sprache, bei einem Gedicht, der Sinngehalt nicht in
den Worten liegt, sondern "hinter" den Worten, und daß ein
Musiker - wie Furtwängler es formulierte - nicht die Noten
spielt, sondern "das, was zwischen den Noten liegt".
Starker: Die einzige Art, wie ich das von Ihnen Gesagte
beschreiben kann, ist so: Ein musikalisches Werk ist ein
Entwicklungsprozeß mit einem bzw. mehreren Höhepunkten. Und da
ist es nicht nur wichtig, den Höhepunkt zu erreichen, sondern
auch das nicht auszulassen, was unterwegs passiert. Dabei gibt
es meistens Probleme. Wenn man jung ist, dann will man unbedingt
schnell ankommen; wenn man älter wird, dann ist...
Starker: ...genau. Und außerdem müssen wir, wenn wir
den Höhepunkt erreichen, auch daran denken, was nachher
passiert. Denn wenn wir fortwährend Höhepunkte spielen, dann
haben wir z.B. in einer Tschaikowskij-Sinfonie immer nur
Höhepunkte und sonst nichts.
Wir möchten Sie gerne zu Ihrer persönlichen künstlerischen
und intellektuellen Entwicklung befragen. Sie haben ja des
öfteren beschrieben, daß Ihr wichtigster Lehrer der Komponist
Leó Weiner gewesen ist. Und da gibt es das berühmte Paradox -
das wir Sie bitten möchten für unsere Leser noch einmal zu
beschreiben, da Leó Weiner hier in Deutschland, zumindest heute,
kaum bekannt ist; also das Paradox, daß er einer der
bedeutendsten Lehrer, andererseits eigentlich aber weder
Pianist, noch Cellist, noch Geiger war. Können Sie das
erläutern?
Starker: Leó Weiner war ein musikalisch Großer. Er war
der disziplinierteste Musiker, den wir in Ungarn je gekannt
haben, und zu seinen Schülern gehörten immerhin solch berühmte
Dirigenten wie Solti, Doráti, Ormandy und Fritz Reiner. Ich kann
mich nur immer wiederholen: Weiner hat uns darin unterrichtet,
wie man Musik hören, was man darin suchen und worauf man
dabei achten muß. Viele haben beobachtet und darüber
geschrieben, daß Weiner die verschiedenen Instrumente nur
schlecht bzw. gar nicht spielen konnte. Wenn er uns Schülern
z.B. auf dem Klavier zeigen wollte, wie eine Passage gespielt
werden mußte, dann hat er damit angefangen, in unserem Beisein
diese Stelle zu üben, und erst beim vierten oder fünften Mal war
er zufrieden: "Ja, so müßte das klingen".
Erst dann sagte ihm der Ausdruck zu?
Starker: Ja, auf diese Weise haben wir gelernt, Musik
zu interpretieren. Wir konnten miterleben, wie er durch dieses
oftmalige Probieren den richtigen musikalischen Ausdruck gesucht
und gefunden hat; dabei wurde uns klar, daß man Musik nicht so
spielen darf, daß das Ende einer Phrase oder Note gewissermaßen
mit einem Vokal endet, sondern immer mit einem Konsonanten enden
muß. Quasi wie beim Pedal des Klaviers. Leider haben das die
meisten Menschen nicht gelernt. Deshalb sage ich immer, daß man
zuerst die Buchstaben lernen muß, aus denen dann die Silben
gemacht werden; daraus entstehen dann die Wörter, mit denen
daraufhin Sätze gebildet werden. Erst dann können wir
daran denken, Poesie zu schreiben.
Man kann nicht sofort mit der Poesie anfangen. Das ist nicht
mein Weg. Meist ist es jedoch umgekehrt; da kommt der Lehrer und
sagt dem Musikstudenten: "Denk an einen grünen Baum", oder:
"Denk daran, daß die Sonne scheint". So Musik zu empfinden bzw.
zu unterrichten, ist nicht meine Natur. Mein Zugang ist dagegen:
"Achte darauf, was am Ende der Note bzw. Phrase passiert; was
zwischen den Noten passiert, und wenn Du dabei eine poetische
Idee in Deinem Kopf hast bzw. entwickelst, dann bist Du in der
Lage, den richtigen musikalischen Ausdruck zu finden. Denn dann
kennst Du den Weg, um zu dem von Dir angestrebten Ziel zu
gelangen."
Damit Sie eine Idee von einem Stück bekommen, was hat
Weiner Ihnen im wesentlichen beigebracht?
Starker: Ich kam zu ihm als Cellist, als "Wunderkind".
Das erste Mal, als ich bei ihm Unterricht in Kammermusik hatte
- damals war ich 12 Jahre alt - , spielte ich ihm zusammen mit
einem Klavierstudenten die 2. Cellosonate von Beethoven vor.
Nachdem er sich zuerst eingehend mit dem Pianisten beschäftigt
hatte, forderte er mich auf, das Thema auf der D-Saite zu
spielen. Ich platzte heraus: "Das ist aber sehr schwierig!"
Worauf er mich mit den Worten nach Hause schickte: "Dann übe!"
Das war meine erste Stunde bei Leó Weiner; eine Lektion fürs
Leben! Denn seitdem wähle ich bei musikalischen Problemen nie
eine Lösung, die technisch bequemer ist, sondern immer die
musikalisch notwendige.
Weiner wurde ja vor allem als Vermittler musikalischer
Ideen gerühmt. Schwerpunkt seiner Lehrtätigkeit war die
Kammermusik; er führte die systematische Ausbildung von
Bläserensembles ein und brachte seinen Studenten bei, in einem
Kammerorchester diszipliniert ohne Dirigenten zu spielen.
Seine große Liebe, vor allem in seinen letzten Jahren, war
jedoch das klassische Streichquartett. Haben Sie auch das bei
ihm studiert?
Starker: Ja, jahrelang Streichquartett; dann Trios und
Sonaten.
Was waren Weiners musikalische Vorbilder?
Starker: Die großen klassischen Komponisten. Man könnte
sagen, daß Weiner - musikalisch gesprochen - nie im 20.
Jahrhundert ankommen wollte. Als ihm eine Komposition von
Strawinskij oder einem damals ähnlich "modernen" Komponisten
vorgelegt wurde, warf er nur kurz einen Blick darauf und sagte:
"Nein, Danke! Was habt ihr sonst noch?" Maßstab aller Musik
waren für ihn Mozart, Beethoven, Schubert, Schumann etc.
Wo und wie ist Weiner ausgebildet worden?
Starker: In Budapest, wo er Schüler des berühmten Hans
Koeßler war, der zu Brahms Freundeskreis gehört hatte und
seinerzeit als Professor für Komposition an der Akademie lehrte.
In derselben Klasse wie Weiner saßen übrigens auch Ernst von
Dohnányi, Béla Bartók und Zoltan Kodály. Bei einem
Kompositionswettbewerb, bei dem Werke ohne Namen des Komponisten
eingereicht wurden, hat Weiner den ersten Preis bekommen; seine
Arbeit wurde also besser bewertet, als die der drei anderen.
Aber bei Weiner war es in einem gewissen Sinne wie bei Casals;
als Casals 1915 von Kodály persönlich dessen Solosonate bekommen
hat, sagte er ihm: "Ich bin zu alt dafür!"
Eine ähnliche Haltung hatte auch Weiner, der im klassischen Stil
schrieb. Es hat jahrelang - ich glaube, sechs Jahre -
gedauert, bis seine Werke gedruckt wurden.
Abschließend noch zu einem Problem, das während der
Podiumsdiskussion angesprochen wurde; daß das Entscheidende bei
der Ausbildung der Berufsmusiker darin besteht, sich nicht nur
auf die musikalische Erziehung und Ausbildung der Schüler zu
konzentrieren, sondern ihnen auch ein gutes Fundament in der
Allgemeinbildung zu geben.
Starker: Das wurde leider nur erwähnt, darüber haben
wir viel zu wenig gesprochen. Ich habe des öfteren darauf
hingewiesen, daß die sog. musikalischen "Wunderkinder" meist
auch hervorragende Fähigkeiten auf anderen Gebieten haben; doch
muß man dies Potential auch entwickeln. Das Wichtigste ist
natürlich die Ausbildung der Vernunft; aber auch die Erziehung
in Geschichte - vor allem Kunstgeschichte - , Sprachen etc. Zum
Beispiel ist es nicht genug, wenn ein elfjähriges Mädchen von
Korea nach Bloomington kommt mit der einzigen Qualifikation,
alle 24 Paganini-Etüden spielen zu können. Deshalb mache ich mir
Sorgen, was mit den Kindern passiert, die z.B. hier bei diesem
Festival in Kronberg hervorragen. Als "Slava" [Rostropowitsch]
einem zwölfjährigen koreanischen Kind den ersten Preis gegeben
hat, hat mich das mit Sorge erfüllt. Denn diese Kinder sofort
Konzerte spielen zu lassen, ist nicht richtig. Ich bin gegen
"Wunderkinder", obwohl ich selbst eines war; doch bin ich
niemals als "Wunderkind" ausgebeutet worden.
Noch eine allerletzte Frage: Wie beurteilen Sie heute das
Problem der Akzeptanz großer klassischer Musik? Es wird für die
klassische Musik ja immer schwieriger, sich gegen die
Unterhaltungsmusik zu behaupten, so daß - wie vorhin in der
Diskussion anklang - selbst ernsthafte Pädagogen für das sog.
"Crossover", also die Vermengung von Popmusik und klassischer
Musik, plädieren. Wie stehen Sie dazu?
Starker: Diese Frage zieht sich durch die ganze
Geschichte von Kunst, sowohl der Musik als auch der Malerei. Zu
keiner Zeit hat sich mehr als ein Prozent der Bevölkerung für
klassische Kunst interessiert. Alles, was wir in einem ganzen
langen Künstlerleben versuchen, ist, aus diesem einen Prozent
zwei zu machen; und das ist immerhin eine Steigerung um hundert
Prozent! Es ist ganz egal, wieviele Konzerte wir spielen, wie
engagiert wir argumentieren und was wir als Künstler sonst noch
tun: mehr können wir nicht erreichen! In Deutschland gab es eine
Zeit, wo an einigen ausgewählten Plätzen bis zu fünf Prozent der
Bevölkerung zu Hause musiziert haben oder ins Opernhaus gegangen
sind. Auch in Israel gab es Momente, wo dieser Prozentsatz
ebenfalls fünf, manchmal sogar sechs Prozent erreichte - aber
nur dann, wenn Künstler und Intellektuelle in großen Scharen aus
Europa eingewandert sind. In solchen Fällen mußten dann berühmte
Musiker aus Übersee bis zu sechsmal in großen Sälen das gleiche
Programm spielen.
Doch normalerweise - und das läßt sich leicht nachprüfen -
überstieg der Anteil der Menschen, die sich in einem Land für
klassische Kunst interessieren, nicht die Marke von zwei
Prozent. Aus diesen einen oder zwei Prozent der
Gesamtbevölkerung rekrutiert sich die heutige Zuhörerschaft bei
klassischen Konzerten; allerdings mit dem Unterschied, daß wir
heute - auch relativ - dreimal so viele ausgebildete Musiker
haben wie früher. Da spielt natürlich die soziale Lage eine
große Rolle; die Eltern kümmern sich darum, daß ihre Kinder
Musik lernen, und zwar oft mit dem Ziel, daß sie unbedingt
Berufsmusiker bzw. berühmte Solisten werden. Früher war die
treibende Kraft in diesen Fällen praktisch immer die jüdische
Mutter - jetzt sind es die koreanischen und chinesischen
Mütter. Der Grund ist offensichtlich: Erfolge in Musik und
Wissenschaft ermöglichen diesen Menschen einen sozialen
Aufstieg, der ihnen sonst verwehrt wäre.