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Von Dmitri Trenin
Dmitri Trenin ist Direktor des Instituts für Militärische Weltwirtschaft und Strategie an der Higher School of Economics (HSE) der Universität Moskau. In der internationalen Konferenz „Der Mensch ist nicht des Menschen Wolf!“ sagte er am 12. Juli folgendes. (Übersetzung aus dem Englischen.)
Zunächst möchte ich dem Schiller-Institut und Dr. Zepp-LaRouche herzlich für die Einladung zu dieser Konferenz danken. Ich würde gerne über Frieden und Entwicklung und viele andere erbauliche Themen sprechen, aber in den letzten Wochen hat die Welt Krisen erlebt – von denen eine noch andauert –, an denen Atommächte beteiligt waren. Eine in Südasien, eine im Nahen Osten und die dritte in Europa in der Ukraine, aber nicht im Wesentlichen wegen der Ukraine.
Eine der auffälligsten Offenbarungen des Jahres 2025, nicht nur für mich, sondern für viele meiner Kollegen hier in Moskau, ist, daß Europa sich an der vordersten Front des Konflikts in der Ukraine bewegt und sich selbst zum Hauptgegner und Beinahe-Feind auf dem Schlachtfeld für Rußland im Stellvertreterkrieg des Westens gegen Rußland in der Ukraine macht.
Meiner Meinung nach ist dies das Ergebnis von zwei Entwicklungen. Die eine ist, daß Rußland beginnt, den Krieg in der Ukraine zu gewinnen. Die andere ist, daß die Vereinigten Staaten unter der Trump-Administration Europa weniger Priorität einräumen und sich mehr auf Asien – im Wesentlichen auf China – konzentrieren.
In diesem neuen Umfeld, so die Analyse von mir und meinen Kollegen, hielten es die führenden Politiker Europas für sinnvoll, Rußland in die Rolle des Feindes vor den eigenen Toren zu drängen, um Europa weiter zu einem Machtzentrum und strategischen Akteur zu machen. Rußland die Stirn zu bieten, wurde zur fast neuen vereinigenden Idee für Europa erhoben. Nach dem Frieden zwischen den europäischen Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg, nach der Einigung Europas oder besser gesagt der Aufnahme Osteuropas in eine größere Europäische Union, scheint die aktuelle große Idee der europäischen Integration darin zu bestehen, den Barbaren im Osten die Stirn zu bieten.
Diese Vorstellung beruht auf der meiner Meinung nach lächerlichen Annahme, Rußland sei bereit, Europa mittelfristig – in den nächsten drei bis fünf Jahren – anzugreifen. Man darf nicht fragen, woher diese Art von Informationen stammt, denn wenn man diese Frage stellt, fällt man schnell in die Kategorie eines Putin-Agenten. Aber dies wird von den normalerweise kritisch eingestellten Menschen in Europa weitgehend akzeptiert.
Von russischer Seite aus sieht es so aus, als ob Europa nicht nur über eine mögliche russische Aggression in der mittelfristigen Zukunft spricht und sich damit beschäftigt, diese Aggression abzuwehren, sondern sich tatsächlich auf einen Kampf gegen Rußland in den nächsten drei bis fünf Jahren vorbereitet. Das ist etwas anderes als zu Zeiten des Kalten Krieges, als der Schwerpunkt meines Erachtens sehr stark auf der Konfrontation im Kalten Krieg lag. Heute ist die Situation viel dynamischer und damit viel gefährlicher.
Ich denke, daß dies in Rußland mit immer größerer Sorge aufgenommen wird, denn wie ich schon sagte, ist dies eine Offenbarung. Jahrzehntelang, während des Kalten Krieges und sogar nach dem Kalten Krieg, wurde Europa mehr oder weniger als eine Gruppe von Vasallen der Vereinigten Staaten betrachtet. Länder, die völlig pazifistisch oder neo-pazifistisch geworden sind, dienten nur den Interessen der Vereinigten Staaten. Diese Auffassung wird in Rußland gerade auf breiter Front revidiert.
Wie ich bereits sagte, befindet sich Europa jetzt in der vordersten Reihe und leider in der historischen Position einer Gruppe von Ländern, die sich auf ein militärisches Engagement mit Rußland vorbereiten. Die Beteiligung Europas an diesem Krieg nimmt also weiter zu. Europa löst die Vereinigten Staaten als Hauptlieferant von Waffen und Munition für Kiew ab. Es rüstet die Systeme auf, die nach Kiew geliefert wurden. Dazu gehören auch Langstreckenraketen aus Deutschland.
Europa rückt also immer näher an eine direkte Beteiligung an einem Krieg mit Rußland heran. Es wird auch über die mögliche Entsendung europäischer Truppen in die Ukraine gesprochen, trotz der vielen Proteste und Warnungen Rußlands, daß dies nicht hinnehmbar sei und einen sehr gefährlichen Akt darstellen würde.
Wir sind also zutiefst betroffen – auch ich, denn ich habe in den 1970er und 80er Jahren viel Zeit in Deutschland verbracht und habe das Land oft besucht. Ich habe viele gute Kollegen und viele Freunde in Deutschland. Das schmerzt mich sehr, denn die deutsch-russische Aussöhnung war fast wie ein Wunder, da sie außerhalb jeglicher Bündnisse oder Wirtschaftsunionen erreicht wurde. Sie begann im Wesentlichen, als Westdeutschland und die Sowjetunion auf den entgegengesetzten Seiten des Kalten Krieges standen. Diese Versöhnung wurde durch Moskaus Akzeptanz und tatsächliche Unterstützung der deutschen Wiedervereinigung vor 35 Jahren zementiert.
Doch sie gibt es nicht mehr. Sie liegt in Trümmern, und das ist meiner Meinung nach eine Tragödie. Ich habe dies persönlich als ein Wunder gefeiert, das völlig unglaublich war; eines der Dinge, die man nicht erwarten konnte, aber sie sind passiert. Aber dann wurde es in den letzten 20 Jahren immer mehr untergraben und ist dann vor unseren Augen untergegangen.
Lassen Sie mich abschließend sagen, daß wir uns in einer sehr schwierigen Situation befinden. Europas Anführer, wenn ich sie so nennen darf, geben sich der Illusion hin, Rußland werde nicht reagieren oder zumindest keine Vergeltung an den europäischen Mächten üben für das, was sie in der Ukraine tun, und für die Waffen, die sie in die Ukraine schicken, um Rußland zu treffen.
Lassen Sie mich auch sagen, daß der Punkt, an dem wir uns befinden, gefährlicher ist als fast alles andere, was wir während des Kalten Krieges erlebt haben. Ich würde sagen, die Lage ist gefährlicher als die Kubakrise von 1962. Das ist eine der Vorhersagen, die wir hoffentlich noch abwenden können. Ich hoffe, wir können noch dafür sorgen, daß es nicht dazu kommt. Die gegenwärtige Krise wird hoffentlich aufhören, bevor wir in den Abgrund blicken, wie es 1962 der Fall war.
Aber anders als 1962 wird die neue nukleare Krise, die den Fortbestand eines Großteils der Welt, wenn nicht der ganzen Welt, in Frage stellen könnte, nicht dort drüben stattfinden. Sie wird nicht in der Karibik oder irgendwo anders stattfinden. Es sieht so aus, als würde sie stattfinden, es sei denn, wir unternehmen in dieser 11. Stunde eine gemeinsame Anstrengung, um ein Abkommen zu erzielen, das Bestand hat; ein Abkommen, das die Lage im Osten Europas stabilisieren wird.
Lassen Sie mich abschließend sagen, daß die Dinge hätten verhindert werden können. Diese Krise wäre nie entstanden, wenn die NATO-Erweiterung nicht die Ukraine erreicht hätte, und ich würde sagen, zunächst auch Georgien. Die Vorstellung, daß die Ukraine Mitglied der NATO wird, war die eigentliche rote Linie, die zu diesem Krieg führte.
Die Krise in der Ukraine hätte in ihrem Verlauf gestoppt werden können; die Situation hätte stabilisiert werden können, wenn das Minsker Abkommen von 2015, also vor zehn Jahren, von allen Parteien eingehalten worden wäre. Aber dieses Abkommen wurde, wie Frau Merkel vor einiger Zeit zugab, lediglich als Mittel gesehen, um Zeit zu gewinnen, damit die Ukrainer wieder aufrüsten können.
Wir hätten den Krieg, der 2022 in großem Stil begann, stoppen können, wenn der Istanbuler Vertragsentwurf unterzeichnet worden wäre. Tatsächlich wurde er aber durch die gemeinsamen Bemühungen der Vereinigten Staaten und Großbritanniens torpediert.
Wir haben die drei Chancen nicht genutzt, also kann es sein, daß Gott uns keine weitere Chance mehr gibt; aber ich hoffe immer noch, daß wir das Schlimmste verhindern können. Diese Hoffnung möchte ich Ihnen lassen, aber die Lage ist wirklich ernst. Vielen Dank und entschuldigen Sie, daß ich viele dunkle Wolken am Horizont der Schiller-Konferenz aufziehen lasse. Ich danke Ihnen.
An dieser stelle wurde ursprünglich das vor der Konferenz von Herrn Trenin
eingereichte Manuskript veröffentlicht. Seine Ausführungen im Rahmen der
Konferenz waren jedoch ausführlicher und z.T. deutlich schärfer, weshalb wir
hier nachträglich die Übersetzung des tatsächlich gehaltenen Vortrags
veröffentlichen. Wir bitten um Entschuldigung für das Versehen.
– die Redaktion.
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