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Von Helga Zepp-LaRouche
Das amerikanische Schiller Institute und die New Yorker Foundation for the Revival of Classical Culture veranstalteten am 13. und 14. April in New York eine Konferenz zum Thema „Kooperation USA-China in der Gürtel- und Straßen-Initiative und korrespondierende Ideen in der chinesischen und der westlichen Philosophie“. Dennis Speed, der Moderator der Sitzung, erklärte den Zweck der Konferenz folgendermaßen:
„Diese Konferenz geht auf ein Gespräch zwischen zweien der Redner anläßlich einer früheren Konferenz von uns zurück. Es gab den begeisterten Vorschlag, daß man eine Konferenz veranstalten sollte, die die Initiative ,Gürtel und Straße’ aufgreift, aber gleichzeitig auch einen tiefergehenden Dialog einleiten sollte. Nicht nur über die Fragen von ,Ost contra West’ oder dergleichen, sondern den gemeinsamen Nenner der Menschheit, der im Grunde unseren Vorschlag der Neuen Seidenstraße und die alte Seidenstraße, Chinas Stolz, wesentlich geprägt hat. Man kann das auf vielerlei Weise ausdrücken, aber im Laufe der letzten drei Jahrzehnte hat Helga Zepp-LaRouche immer wieder betont, daß das Hauptproblem der Menschheit ist, daß sie noch nicht erwachsen ist. Aber das heißt nicht, daß es nicht irgendwann Erwachsene gegeben hat oder daß es nie Menschen gab, die Kreativität verkörperten...“
Neben der Gründerin des Schiller-Instituts, Helga Zepp-LaRouche, sprachen u.a. Frau Meifang Zhang, die stellv. Generalkonsulin der Volksrepublik China in New York, Dr. Patrick Ho vom China Energy Fund Commitee in Hong Kong und Petr Iliitschew, der Geschäftsträger der Gesandtschaft der Russischen Föderation bei den Vereinten Nationen. In ihrer Hauptrede gab Helga Zepp-LaRouche einen Einschätzung der derzeitigen Weltlage, am zweiten Konferenztag hielt sie den folgenden Vortrag.
Liebe Freunde der klassischen Musik und klassischen Kultur und des Schiller-Instituts, das Schiller-Institut hatte von Anfang an die Idee, daß man nicht nur eine gerechte neue Weltwirtschaftsordnung braucht, sondern daß das niemals funktionieren würde, wenn man es nicht mit einer Renaissance der klassischen Kultur verbindet. Mein Thema, über das ich sprechen werde, ist die Idee der höchsten Menschheit, die gemeinsame philosophische Grundlage der westlichen und der asiatischen Kultur – Sie werden verstehen, was ich damit meine.
Präsident Xi Jinpings hoffnungsvolle Vision einer „Gemeinschaft einer gemeinsamen Zukunft der Menschheit“, wie er es nennt, die er zusammen mit der „Win-Win-Zusammenarbeit“ der Neuen Seidenstraße konzipiert hat, wurde kürzlich in einer Resolution des UN-Sicherheitsrats angenommen. Das bedeutet, daß das jetzt ganz offiziell – falls es das nicht ohnehin schon war – ein übergreifendes Prinzip ist, das durch diese höhere Perspektive alle Nationen dieser Welt verbindet.
Mit diesem Konzept wurde erstmals eine strategische Initiative auf die Tagesordnung gesetzt, die die Kriege verursachende Geopolitik durch das Ideal einer geeinten Menschheit ablöst. In den dreieinhalb Jahren, seit Xi Jinping diesen Plan im September 2013 in Kasachstan vorgeschlagen hat, hat sich diese Idee schnell verbreitet und immer mehr Nationen inspiriert. Besonders unter den weniger entwickelten Nationen gab sie dem vorher völlig fehlenden Optimismus Auftrieb, daß die Armut in naher Zukunft überwunden werden kann, und daß man menschenwürdige Lebensbedingungen für alle Menschen auf diesem Planeten schaffen kann. Zahllose Menschen aus verschiedenen Nationen und Kulturen spüren, daß wir am Beginn einer neuen Epoche der Universalgeschichte stehen.
Aber warum erkennen so viele Regierungen, Staatschefs und Politiker und aufgeschlossene Menschen sofort das gewaltige Potential, das dies verkörpert, die gemeinsamen Ziele der Menschheit aus Sicht der Zukunft zu definieren – während andere erklären, hinter der Initiative Gürtel und Straße müsse es heimliche Hintergedanken geben, China habe finstere Motive, es wolle einen Imperialismus durch einen anderen ersetzen, diesmal einen chinesischen? Wie ist das möglich, daß die gleiche Tatsache – nämlich daß ein konkretes Entwicklungskonzept für die ganze Menschheit verwirklicht wird – so völlig unterschiedlich interpretiert wird?
Offensichtlich haben diese gegensätzlichen Blickpunkte mit den unterschiedlichen Denkaxiomen zu tun, aus denen heraus diese Fragen betrachtet werden.
Der ehemalige Herausgeber der Londoner Times, eines der maßgeblichen Sprachrohre des Britischen Empire, Lord Rees-Mogg, hat Samuel Huntingtons These, es würde unausweichlich zu einem Zusammenstoß der Kulturen zwischen Christentum, Islam, Hinduismus und Konfuzianismus kommen, einmal kritisiert. Er stellte dem die Ansicht entgegen, der eigentliche Konflikt werde sich zwischen den alten Werten von Christentum, Islam, Hinduismus und Konfuzianismus gegen die neue Werte der neoliberalen Gesellschaft und der Moderne des New Age entfalten.
Der russische Außenminister Sergej Lawrow argumentierte kürzlich in seiner jährlichen großen Pressekonferenz ähnlich hinsichtlich der Werte des „freien Westens“, die dieser unablässig allen nichtwestlichen Ländern aufzuzwingen versucht. „Das sind wahrscheinlich nicht die Werte, denen die Großväter der heutigen Europäer anhingen“, sagte Lawrow, „sondern etwas Neues und Modernisiertes. Eine gesetzesfreie Zone, würde ich sagen. Sie stehen im völligen Widerspruch zu den Werten, die in unserem Land von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden, die wir schätzen und unseren Kindern und Enkeln weitergeben möchten. Wenn wir außenpolitische Kämpfe ausfechten, stehen wir und viele andere vor der Forderung, diese neuen, postchristlichen westlichen Werte zu akzeptieren – darunter Toleranz und Universalität liberaler Haltung gegenüber dem Leben des einzelnen. Ich halte das für unsittlich auf der menschlichen Ebene; aber in Begriffen professioneller Diplomaten ist es ein kolossaler Fehler und eine völlig inakzeptable Überschätzung Ihres [westlichen] Einflusses auf die internationalen Beziehungen“, sagte Lawrow.
Es ist selbstevident, daß die Geopolitik und die Vorstellung einer unipolaren Welt, auch das Erzwingen westlicher Werte überwunden und durch einen echten Dialog der Kulturen abgelöst werden muß. Aber wie sollte ein wahres Verständnis zwischen Philosophien und Kunstformen aus völlig unterschiedlichen Kulturen zustande kommen, die durch verschiedene Sprachen, Traditionen und Gebräuche voneinander getrennt sind? Brauchen wir eine neue Lingua franca oder Popsongs auf Englisch, Hindi, Arabisch oder Chinesisch, um einander zu verstehen? Oder gibt es etwas Tieferes, Universelleres, das allen Kulturen gehört? Und das, ohne sie im geringsten ihrer Einzigartigkeit zu berauben, was sie in die Lage für einen echten Austausch versetzt und eine gegenseitige Bereicherung erlaubt? Eine kulturelle „Win-Win-Harmonie“?
In dieser Frage ist viel Verwirrung entstanden, weil fremde Kulturen oft nicht positiv, nicht einmal objektiv beschrieben worden sind, denn die Historiker und Kulturexperten der Kolonialmächte beanspruchten für sich immer das Recht der Interpretation, nicht nur für ihre eigene Kulturgeschichte, sondern auch für die anderer. Infolgedessen wissen viele Europäer und Amerikaner sehr wenig über das Beste der asiatischen Kultur – während die Asiaten oft nur die britische Interpretation der europäischen Geschichte kennen.
In der europäischen Geistesgeschichte, seit mindestens zweieinhalb Millionen Jahren, stehen zwei fundamental entgegengesetzte Richtungen miteinander im Konflikt; man kann ihn als den Kampf zwischen dem oligarchischen System und dem republikanischen Systems des Gemeinwohls beschreiben.
Das Menschenbild des ersten, das mit Sparta und Lykurg verbunden ist, beansprucht sämtliche Privilegien für die herrschende Elite, und es versagt der breiten Masse das Recht auf geistige und materielle Entwicklung. So bleiben sie leichter beherrschbare Untertanen.
Das zweite betrachtet alle Menschen als zur potentiell endlosen Perfektionierung fähig und betrachtet es als Pflicht des Staates, die kreativen Fähigkeiten seiner Bürger bestmöglich zu fördern.
Die wichtigen unter den verschiedenen westlichen Versionen des oligarchischen Modells stützten sich auf ein mehr oder weniger mechanistisches Verständnis der Welt in der Tradition des Aristoteles, welches keinen wirklichen qualitativen Fortschritt erlaubt.
Das progressive, am Gemeinwohl orientierte Modell, stützt sich auf den weisen Solon von Athen, der den Zweck der Menschheit in ihrem immer weiteren Fortschreiten sah, ganz besonders jedoch auf Platon. Denker dieser Tradition faßten den Menschen anhand seiner schöpferischen Vernunft auf, als fähig, immer wieder adäquate Hypothesen über die Gesetzmäßigkeit des Universums aufzustellen, was potentiell zu einem grenzenlos immer weiter vertieften Wissen und entsprechender Entwicklung der Menschheit führt.
Mit all dem tauchten natürlich auch allerlei Variationen und Neurosen auf, wie die manichäische Ideologie mit ihrer Idee, daß Gut und Böse ewig gleichberechtigt nebeneinander existieren werden. Oder die vorchristliche Vorstellung von Gaia, oder mit einem zyklischen Entwicklungsbegriff. Diese Formen haben in Form des modernen Gaia-Kults und der Grünen bis in die Gegenwart überlebt.
Letztlich jedoch sind alle Erscheinungsformen des ersten Systems – Empirismus, Positivismus, Scholastik, deduktive und induktive Methode, französische und englische Aufklärung, z.B. Locke, Hobbes oder Newton bis zur kritischen Methode der Frankfurter Schule oder dem Dekonstruktivismus heute – nur Variationen der aristotelischen Tradition. Ihnen allen ist die Idee gemeinsam, daß die entscheidende Quelle des Wissens die Erfahrung durch die Sinne ist. Der Mensch sei von Natur aus böse und müsse durch repressive Regierungsformen unter Kontrolle gehalten werden. Und die Welt sei ein geschlossenes, begrenztes System.
Im Gegensatz dazu steht die Tradition, die sich auf Platon stützt, darunter so unterschiedliche Denker wie Augustinus, Bonaventura, Nikolaus von Kues, Johannes Kepler, Gottfried Leibniz, Gotthold Ephraim Lessing, Friedrich Schiller, die Gebrüder Humboldt, aber auch Albert Einstein, Wladimir Wernadskij und Krafft Ehricke, um nur einige bekannte Denker zu nennen. Diesen Denkern gemeinsam ist ein fundamentaler Optimismus in Bezug auf die Rolle des Menschen im Universum: daß die menschliche geistige Schöpferkraft selbst eine Macht für die Weiterentwicklung im physischen Universum ist; und daß ein Zusammenhang besteht zwischen der harmonischen Entwicklung aller menschlichen geistig-spirituellen Fähigkeiten und der positiven Entwicklung des Gemeinwohls des Staates und der Gesetze des Kosmos. Praktisch der gesamte Fortschritt des Wissens in den Naturwissenschaften oder der großen klassischen Kunst und der europäischen Zivilisation ist allein der platonischen Tradition zu verdanken. Er erwächst aus der Fähigkeit des Menschen, gerade nicht von den zufälligen äußeren Einflüssen abhängig zu sein, sondern durch die Macht der Vernunft mit wissenschaftlicher Präzision zu bestimmen, wo der nächste qualitative Durchbruch zur Erweiterung des Wissens stattfinden muß.
Es läßt sich leicht demonstrieren, daß die Sicht der Kritiker, die Chinas Politik der Neuen Seidenstraße Hintergedanken unterstellen, nur eine Projektion ihrer eigenen geopolitischen Motive auf China ist. Sie denken wie der berühmte Kammerdiener, den Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes beschreibt, der sich das welthistorische Individuum nur in seiner Unterwäsche vorstellen konnte, weil er ihm täglich beim An- und Ausziehen assistiert. Sie sind geistige Gefangene der neuen Werte, von denen Rees-Mogg sprach, bzw. den postchristlichen Werten, von denen Lawrow Rußland bedrängt sieht. Sie können sich gar nicht vorstellen, daß es Menschen und sogar Regierungen gibt, die sich nicht nur ganz dem Wohlergehen der eigenen Bevölkerung verschreiben, sondern auch die harmonische Entwicklung der ganzen Menschheit anstreben. Der moralische Anspruch, der aus dieser Einstellung erwächst, ist ihnen verhaßt, weil er ihr vermeintliches Recht auf das Prinzip „Alles ist erlaubt“ in Frage stellt.
Andererseits ist ein gegenseitiges Verständnis leichter zu erreichen, wenn man sich den Philosophen und Dichtern der optimistischen Tradition zuwendet. Denn dann stößt man auf eine auffällige Ähnlichkeit unter den Denkern. Und auch sie kommen aus völlig unterschiedlichen Kulturkreisen. Trotzdem gelangen sie zu den gleichen Einsichten in die Natur des Menschen und seinen Daseinszweck.
Das fruchtbarste Beispiel für diese Übereinstimmung ist diejenige zwischen den philosophischen und ästhetischen Prinzipen des Konfuzius, dessen Einfluß in den letzten 2500 Jahren viele Teile Asiens weit über China hinaus erreicht hat, und denjenigen des großen deutschen Dichters der Freiheit, Friedrich Schiller, die beide ihr Lebenswerk der Veredelung der Menschheit widmeten. Eine wichtige Ähnlichkeit findet man auch in vielen Aspekten bei anderen Denkern wie Menzius, Nikolaus von Kues, Gottfried Leibniz und Wilhelm von Humboldt. Alle diese großen Geister hatten den unermüdlichen Kampf mit der Frage gemeinsam, wie sich das Zusammenleben unter den Menschen so gestalten läßt, daß sich die inhärente schöpferische Fähigkeit in ihnen am besten entfalten kann und so in Übereinstimmung mit der Ordnung der Welt bringen läßt, daß jeder in der Gesellschaft sein natürliches Recht auf Glückseligkeit verwirklichen kann.
Für Konfuzius ist der Mensch von Natur aus gut. Alles Schlechte erwächst aus einem Mangel an Entwicklung. Jeder hat die Freiheit und die moralische Verpflichtung, durch einen Akt des eigenen Willens sich selbst zu verbessern. Alles hängt von dieser inneren Kraft ab, weil ein äußeres Übel keineswegs immer ein Übel ist, sondern im Gegenteil eine Charakterprobe, aus der man gestärkt und mit reinen Prinzipien hervorgehen kann.
Schiller entwickelte die gleichen Gedanken mit seinem Konzept des Erhabenen: einen Geisteszustand, den man erreichen kann, wenn die eigene Identität an universelle Ideen gebunden ist, die über die begrenzte körperliche Existenz hinausgehen, was keine physische, aber dafür, besser, eine moralische Gewißheit einträgt. Schiller betonte auch die Freiheit des Willens: „Alle andern Dinge müssen; der Mensch ist das Wesen, welches will“, heißt es in Schillers Schrift Über das Erhabene. „Der moralisch gebildete Mensch, und nur dieser, ist ganz frei.“ Ein „schöner Charakter“ besitze Tugenden wie „Ausübung der Gerechtigkeit, Wohltätigkeit, Mäßigkeit, Standhaftigkeit und Treue“.
Für Konfuzius wird die persönliche Charakterbildung, zusätzlich zu literarischen Studien, durch die sechs freien Künste erreicht: Erlernen der Rituale, Musik, Bogenschießen, Wagenlenken, Reiten und Mathematik. Poesie und Musik spielen für ihn dabei die wichtigste Rolle, weil sie die Phantasie und Vorstellungskraft erweitern.
Schiller schreibt darüber in seiner Kritik an Bürgers Gedichten:
„Bei der Vereinzelung und getrennten Wirksamkeit unserer Geisteskräfte, die der erweiterte Kreis des Wissens und die Absonderung der Berufsgeschäfte notwendig macht, ist es die Dichtkunst beinahe allein, welche die getrennten Kräfte der Seele wieder in Vereinigung bringt, welche Kopf und Herz, Scharfsinn und Witz, Vernunft und Einbildungskraft in harmonischem Bunde beschäftigt, welche gleichsam den ganzen Menschen in uns wieder herstellt.“
Nach der Überlieferung des Lun Yu („Gespräche“) lenkte Konfuzius die Aufmerksamkeit seine Schüler in dieser Weise auf die Poesie (in der Übersetzung von Richard Wilhelm):
„Der Meister sprach: ,Meine jungen Freunde, warum beschäftigt ihr euch nicht mit der Poesie? Die Poesie ist geeignet, die Phantasie anzuregen, sie hält uns das Leben in einem Spiegel zur Betrachtung vor und reinigt dadurch die Gefühle; sie erweckt soziale Gesinnungen, sie entfacht den Groll gegen Ungerechtigkeit und Falschheit, sie läßt gute Vorsätze zu sittlichem Handeln in Familie und Staat entstehen. Und außerdem erweitert sie unsere Kenntnis der ganzen organisierten Welt.’“
Ähnlich empfahl Konfuzius im Lun Yu:
„Wer ein Gelehrter sein will, sollte Poesie lesen, um in sich eine Seele zu entwickeln, die sich nach der Wahrheit und Schönheit orientiert. Dann lese er die Moralgesetze, um auf dem wahren Weg zu bleiben. Und dann lerne er Musik, um fähig zu sein, sich harmonisch zu beseelen.“ (eig. Übers.)
Zwischen Konfuzius’ höchstem Begriff des intellektuell, moralisch und ästhetisch gebildeten Menschen, dem Chun-tzu, und Schillers Konzept der schönen Seele existiert eine sehr enge innere Verbindung. In Über Anmut und Würde schreibt Schiller:
„Eine schöne Seele nennt man es, wenn sich das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen endlich bis zu dem Grad versichert hat, daß es dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf und nie Gefahr läuft, mit den Entscheidungen desselben im Widerspruch zu stehen. Daher sind bei einer schönen Seele die einzelnen Handlungen eigentlich nicht sittlich, sondern der ganze Charakter ist es.“
Konfuzius wiederum sagt: „Dieser Mensch kann den Wünschen seines Herzens folgen, ohne das Maß zu verletzen.“ (eig. Übers.)
Für Konfuzius war diese Entwicklung des Individuums zum höchsten Ideal des intellektuell, moralisch und ästhetisch gebildeten Menschen, dem Chun-tzu, dem Edlen, die Voraussetzung für einen wohlgeordneten Staat.
„Erst wenn die Persönlichkeit gut gebildet ist, ist das Heim verwaltet. Erst wenn das Heim verwaltet ist, kann der Staat geordnet werden. Erst wenn der Staat geordnet ist, können wir Weltfrieden haben. Wenn die Menschheit einmal in Harmonie sein wird, dann werden auch Himmel und Erde und der ganze Ablauf der Natur geordnet werden. Alle Störungen des Laufes der Natur sind nur die Folge von Unordnung unter den Menschen und der falschen Entwicklung des Charakters des Herrschers.“ (eig. Übers.)
In genau der gleichen Weise zog Schiller die Schlußfolgerung aus dem Scheitern der Französischen Revolution wegen des Jakobinerterrors: Ein großer historischer Augenblick habe ein kleines Menschengeschlecht gefunden, wo zwar das objektive Potential für Veränderung bestand, aber die subjektiven, moralischen Voraussetzungen fehlten. Alle Verbesserung im politischen müsse nun von der Veredlung des Charakters ausgehen, erklärte er.
Auch für ihn ist dies die Voraussetzung für das Wohlergehen des Staates. In seinem 4. Ästhetischen Brief schreibt er:
„Jeder individuelle Mensch, kann man sagen, trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen, idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechselungen übereinzustimmen, die große Aufgabe seines Daseins ist. Dieser reine Mensch, der sich, mehr oder weniger deutlich, in jedem Subjekt zu erkennen gibt, wird repräsentiert durch den Staat, die objektive und gleichsam kanonische Form, in der sich die Mannigfaltigkeit der Subjekte zu vereinigen trachtet.“
Und Schiller fährt fort:
„Nun lassen sich aber zwei verschiedene Arten denken, wie der Mensch in der Zeit mit dem Menschen in der Idee zusammentreffen, mithin eben so viele, wie der Staat in den Individuen sich behaupten kann: entweder dadurch, daß der reine Mensch den empirischen unterdrückt, daß der Staat die Individuen aufhebt, oder dadurch, daß das Individuum Staat wird, daß der Mensch in der Zeit zum Menschen in der Idee sich veredelt.“
Man erkennt auch klar die Idee einer vollkommeneren Zukunft, die das Handeln in der Gegenwart lenkt. Diese klare Voraussicht liefert auch die Kriterien für eine fundierte Prognose der Zukunft. Konfuzius sagt, der Weg zur höchsten Wahrheit liege darin, deutlich die Zukunft zu erkennen. In dem Buch von Maß und Mitte, dem Chung Yung, spricht er so von der Pflicht des Menschen, die Wahrheit zu suchen:
„Wer die Wahrheit sucht, der wählt das Gute und hält es fest.“
„Der Weg der höchsten Wahrheit macht es möglich, daß der Mensch schon im voraus erkennen kann, ob ein Königreich blühen wird – dann gibt es günstige Zeichen –, oder ob ein Königreich vor dem Zusammenbruch steht, dann gibt es unheilvolle Zeichen.“ (eig. Übers.)
Nikolaus von Kues, der mit seiner neuen wissenschaftlichen Methode des Denkens auf der Ebene des Zusammenfalls der Gegensätze (Coincidentia Oppositorum) – dem „Win-Win-Denken“ des 15. Jahrhunderts – die moderne Naturwissenschaft gründete, war auch der Erfinder des präzisen Messens und des entscheidenden Schritts zur Formulierung eines repräsentativen nationalstaatlichen Systems, und er ist vor Schiller der Philosoph mit der engsten Verwandtschaft zu Konfuzius. Er hatte die gleiche Idee, daß der Weise die Zukunft erkennen kann, ausgehend von der Rekapitulierung der Gesamtentwicklung des Universums bis zu seiner Zeit, indem sein Geist ein Vorwissen hat, was er sucht. Ohne Vorauswissen weiß man weder, welches die richtige Frage ist, noch ob das, was man findet, wirklich das Gesuchte ist.
Auch für Schiller ist es das im Innern gebildete Ideal eines besseren Zukunft, welches dem Handeln in der Realität die Richtung zum Guten gibt. Im 9. Ästhetischen Brief fordert er, diese Idee müsse ganz im Herzen ausgebildet sein, bevor es mit der zweifelhaften realen Gesellschaft konfrontiert werden kann. Er sagt:
„Lebe mit deinem Jahrhundert, aber sei nicht sein Geschöpf; leiste deinen Zeitgenossen, aber, was sie bedürfen, nicht, was sie loben.“
Damit fordert Schiller die gleiche innere moralische Unabhängigkeit wie Konfuzius, und diese kann nur durch eine allumfassende menschliche Bildung des Charakters erreicht werden. Der Mensch soll dabei nicht nur in sich selbst die höchsten Ideen verwirklichen, sondern aktiv an der Verbesserung der Gesellschaft mitwirken.
In ähnlicher Weise wird wahres Wissen nicht durch bloße kontemplative Beobachtung, sondern durch die aktive Transformation der Gesellschaft erreicht. Konfuzius sagt in seinem Buch Das Große Lernen (Da Xue):
„Das höchste Wissen ist, daß die Wirklichkeit beeinflußt wird. Erst wenn es sich engagiert, hat die Wirklichkeit ihre Höhe erreicht. Dann werden Ideen wahr. Erst wenn die Ideen wahr sind, ist das Bewußtsein gerecht. Erst wenn das Bewußtsein gerecht ist, wird die Person Mensch gebildet sein. Erst wenn die Person gebildet ist, ist das Heim geordnet und der Staat ist regiert und es herrscht Frieden auf der Welt.“ (eig. Übers.)
Bei Nikolaus von Kues ist die gleiche Idee so ausgedrückt: Erst wenn alle Mikrokosmen sich bestmöglich entwickeln, kann Harmonie im Makrokosmos entstehen. Diese Entwicklung ist jedoch nicht statisch, weil die Weiterentwicklung des einen wie ein zusätzlicher Kontrapunkt der Entwicklung des anderen wirkt und zu einer harmonischen Entwicklung des Ganzen führt.
Ein solches kusanisches Denken, aber auf eine konfuzianische Weise, ist den Worten des chinesischen Außenministers Wang Yi zu entnehmen, wenn er sagt: „Die Gürtel-und-Straßen-Initiative ist kein chinesischer Soloauftritt, sondern eine Symphonie, die von allen Nationen aufgeführt wird.“
Schiller befaßte sich in seinen späteren Jahren mit der Frage, wie sich die Lösung innerer Konflikte, sowohl im einzelnen Individuum als auch in der Gesellschaft, dichterisch darstellen läßt. Die freiwillige Übereinstimmung der Neigung mit dem Gesetz, der Gipfel der moralischen Würde einer verfeinerten Natur, sei nichts weniger als die Idee der Schönheit, auf die reale Welt angewandt.
Er beschreibt hier die Idee, daß man in der Realität danach streben sollte, wie Percy Shelley es formulierte, daß „die Dichter die nicht anerkannten Gesetzgeber der Welt” sind.
Warum soll man sich nicht vorstellen können, daß die Menschheit erwachsen wird? So daß wir damit aufhören, uns wie unerzogene vierjährige Kinder gegenseitig anzugreifen? Oder, um es anders auszudrücken, durch sinnlose geopolitische Konflikte die Entwicklung der Menschheit aufzuhalten. Warum sollte es nicht in unmittelbarer Reichweite sein, die Armut auf dieser Welt zu beseitigen? Eine universelle Bildung für alle Kinder zu realisieren? Und damit die schöne Seele zum Ziel der Bildung zu machen, wie bei Wilhelm von Humboldt, aber auch Konfuzius?
Die wichtigste Frage für Konfuzius und Schiller war die Ausbildung der Liebe zur Menschheit, die für Konfuzius höheren Wert hatte als das Leben selbst – wichtiger als Feuer und Wasser. Und Schiller beschrieb es folgendermaßen:
„Liebe also – das schönste Phänomen in der beseelten Schöpfung, der allmächtige Magnet in der Geisterwelt, die Quelle der Andacht und der erhabensten Tugend – Liebe ist nur der Widerschein dieser einzigen Urkraft, eine Anziehung des Vortrefflichen, gegründet auf einen augenblicklichen Tausch der Persönlichkeit, eine Verwechslung der Wesen... Wenn ich hasse, so nehme ich mir etwas, wenn ich liebe, so werde ich um etwas reicher, was ich liebe.“
Für Konfuzius war die Menschenliebe die höchste Moral. Sie machte alle anderen ethischen Werte möglich, wie Konfuzius im Lun Yu sagt:
„Alle Taten der Menschen müssen darin verkörpert sein – sonst sind sie wertlos.“ (eig. Übers.)
Dazu gehört auch, daß der Mensch Mitleid für den nächsten haben muß. Lessing sagte: „Der mitleidigste Mensch der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmut der aufgelegteste. Wer uns also mitleidig macht, macht uns besser und tugendhafter...“
Es ist überliefert, daß Konfuzius niemals seinen Hunger stillte, wenn ein Mensch in Trauer in der Nähe war, weil er sein Mahl nicht genießen wollte, wenn ein anderer leidet. Ähnlich betont Konfuzius im Lun Yu, wie wichtig es ist, daß ein Staat in seinen Bürgern ständig eine Liebe zur Menschheit fördert, sonst wird er untergehen. Konfuzius sagte:
„Ein ungebildetes Volk in den Krieg führen, heißt seinen Untergang besiegeln.” (eig. Übers.)
Die Analogie zur Gegenwart ist offensichtlich und bedarf keines Kommentars.
Sowohl für Konfuzius als auch für Schiller spielt die Ausbildung des Einzelnen und der Gesellschaft mittels der ästhetischen Erziehung, vor allem durch die Kunst – die ihrerseits den höchsten Standard erreichen muß –, die wichtigste Rolle. Schiller forderte von den Dichtern wie von den Künstlern allgemein, daß er sich erheben muß.
„Diese seine Individualität so sehr als möglich zu veredeln, zur reinsten, herrlichsten Menschheit hinaufzuläutern, ist sein erstes und wichtigstes Geschäft, ehe er es unternehmen darf, die Vortrefflichen zu rühren. Der höchste Werth seines Gedichtes kann kein anderer sein, als daß es der reine vollendete Abdruck einer interessanten Gemütslage eines interessanten vollendeten Geistes ist.“ (Über Bürgers Gedichte)
In seinem Gedicht Die Künstler gibt Schiller den Künstlern die Verantwortung für die Zivilisation:
„Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben,
Bewahret sie!
Sie sinkt mit euch! Mit euch wird sie sich heben!“
Die gleiche Idee findet man bei Konfuzius, besonders in Bezug auf die Musik. Er sagt:
„Musik entspringt dem Herzen... Wenn die Emotionen berührt werden, drücken sie sich in Klang aus. Und wenn Klänge Formen annehmen, erhalten wir Musik. Folglich ist die Musik eines friedlichen und blühenden Landes ruhig und fröhlich, und seine Regierung geordnet. Die Musik eines Landes im Aufruhr zeigt Unzufriedenheit und Wut, seine Regierung liegt im Chaos.“
In einem wunderschönen Aufsatz über Musik schreibt Konfuzius, wenn Neigungen und Abneigungen nicht richtig kontrolliert seien und unser Bewußtsein von der materiellen Welt abgelenkt sei, verlieren wir unser wahres Selbst, das im Vernunftprinzip ruht. Dann werde die Natur zerstört:
„Wird der Mensch entmenschlicht oder materialistisch, so ist das natürliche Ordnungsprinzip vernichtet und der Mensch ertrinkt in seinen eigenen Begierden. Daraus erheben sich Rebellion, Ungehorsam, Durchtriebenheit, Täuschung und ganz allgemein Sittenlosigkeit. Dann haben wir eine Situation, wo die Starken die Schwachen tyrannisieren, die Mehrheit Minderheiten verfolgt, die einfach Gestrickten von den Schlauen übervorteilt werden, die Kräftigen Gewalt anwenden, die Kranken und Behinderten nicht gepflegt und die Alten und Kinder nicht versorgt werden. Das ist der Weg des Chaos’.“
Die Musik, sagt er, hängt also mit den Prinzipien menschlichen Verhaltens zusammen.
„Deshalb kennen Tiere den Klang, aber keine Töne. Wer Musik versteht, kommt dem Verstehen des Li sehr nahe“ – Li bedeutet, seinen angemessenen Platz im Staat und im Universum zu finden. „Wenn ein Mensch das Li und die Musik gemeistert hat, nennen wir ihn tugendhaft, weil die Tugend der Meister der Erfüllung ist. Wirklich große Musik hat das Prinzip der Harmonie mit dem Universum gemeinsam. Wenn die Seele arm ist, wachsen die Dinge nicht. Wenn das Fischen nicht nach den Jahreszeiten reguliert ist, reifen die Fische und Schildkröten nicht. Wenn das Klima sich verschlechtert, verschlechtert sich das Tier- und Pflanzenleben. Wenn die Welt chaotisch ist, werden die Rituale und die Musik lasterhaft. Man findet eine Art von Musik, die kläglich, zügellos und fröhlich ohne Ruhe ist. Deshalb versucht der höhere Mensch, durch Wiederentdeckung der menschlichen Natur Harmonie im menschlichen Herzen zu schaffen, und versucht, Musik als Mittel zur Vervollkommnung der menschlichen Kultur zu fördern. Wenn solche Musik vorherrscht und der Geist der Menschen zu den rechten Idealen und Zielen geführt wird, könnten wir das Auftauchen einer großen Nation sehen. Der Charakter ist das Rückgrat unserer menschlichen Natur, und Musik ist das Blühen des Charakters.“ (eig. Übers.)
Wie kann es sein, daß zwischen einem Philosophen aus China, der vor fast 2500 Jahren lebte, und einem deutschen Dichter, der vor 200 Jahren wirkte, eine solche Ähnlichkeit der Ideen und Methoden sichtbar wird? Natürlich kannte Schiller Konfuzius, er widmete ihm das Gedicht Sprüche des Konfuzius, das mit diesen Zeilen endet:
„Rastlos vorwärts mußt du streben,
Nie ermüdet stillestehn,
Willst du die Vollendung sehn;
Mußt ins Breite dich entfalten,
Soll sich dir die Welt gestalten;
In die Tiefe mußt du steigen,
Soll sich dir das Wesen zeigen.
Nur Beharrung führt zum Ziel,
Nur die Fülle führt zur Klarheit,
Und im Abgrund wohnt die Wahrheit.“
Die innere Ähnlichkeit zwischen Konfuzius und Schiller rührt daher, daß beide von der gleichen Idee erhabener Humanität inspiriert sind, und sie waren zutiefst überzeugt, daß diese trotz zwischenzeitlicher Rückschläge in der Zukunft als die wahre Identität der Menschheit verwirklicht würde. Schon hundert Jahre vor Schiller hatte Leibniz, als er feststellte, daß Kaiser Kung Xi[ph] zu ähnlichen mathematischen Resultaten gelangte, den Schluß gezogen, daß es ein universell wißbares Prinzip geben muß; und allgemeiner erkannte er, daß diese Ähnlichkeit zwischen der chinesischen und der europäischen Kultur existiert. Er schrieb:
„Durch einzigartige Entscheidung des Schicksals, wie ich glaube, ist es dahin gekommen, daß die höchste Kultur und die höchste technische Zivilisation der Menschheit heute gleichsam gesammelt sind an zwei äußersten Enden unseres Kontinents, in Europa und China, das gleichsam wie ein Europa des Ostens das entgegengesetzte Ende der Erde ziert. Vielleicht verfolgt die höchste Vorsehung dabei das Ziel – während die zivilisierten und gleichzeitig am weitesten voneinander entfernten Völker sich die Arme entgegenstrecken - alles, was sich dazwischen befindet, allmählich zu einem vernunftgemäßen Leben zu führen.“
Leider hält Europa heute diesen hohen Werten nicht statt, statt dessen wendet es sich, um Lawrows Formulierung zu verwenden, „postchristlichen Werten“ zu. Im Gegensatz dazu erlebt in China die konfuzianische Tradition jetzt eine große Renaissance – angeführt von Präsident Xi Jinping, der es zur Priorität gemacht hat, daß die konfuzianische Lehre auf allen Ebenen der Gesellschaft gelehrt werden muß. Aber wir könnten zu der hohen europäischen Tradition zurückkehren, wenn wir wollen. Wir können auf Platon und die klassischen Griechen zurückgreifen, auf die italienische Renaissance, die deutsche Klassik.
Dies ist die europäische Kultur, die das Neue Paradigma der Neuen Seidenstraße bildet. Wenn sie, verbunden mit einem Dialog der Kulturen, erneuert wird, dann können wir sie jederzeit wieder zum Leben erwecken, und damit eine neue Renaissance. Wenn jede Nation und jede Kultur ihre höchsten kulturellen Errungenschaften wieder zum Leben erweckt und sich selbst und anderen Nationen ihre besten Aspekte zeigt, dann ist es sicher, daß eine neue Renaissance kommen wird – indem wir von dem Besten aus der Universalgeschichte aus arbeiten, aber darüber hinaus enthusiastische entsprechende neue Konzepte entwickeln, damit die Menschheit erwachsen wird. Wir sollten nicht vergessen, daß es der von Konfuzius’ Morallehre beeinflußte Benjamin Franklin war, der das junge Amerika prägte. Es gibt also definitiv eine Basis für diesen Dialog.
Schiller hat vorausgesehen:
„Keiner sei gleich dem andern, doch gleich sei jeder dem Höchsten.
Wie das zu machen? Es sei jeder vollendet in sich.“