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Neue Solidarität
Nr. 22, 2. Juni 2016

Das Radio Research Project

Der Feldzug zur Ausrottung der klassischen Musik in Amerika eskalierte in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts dramatisch. Das von der Rockefeller-Stiftung finanzierte „Radioforschungsprojekt“ (Radio Research Project) an der Universität Princeton untersuchte ab 1937 die Wirkung der „Massenmedien“, wie man sie später nennen sollte, und ein wichtiges Ergebnis davon war das Radioformat der „Hitparade“, der sogenannten „Top 40“. Das Interesse an den propagandistischen Möglichkeiten des Radios nahm noch massiv zu, nachdem bei der Ausstrahlung von Orson Welles’ Hörspiel Krieg der Welten am Vorabend von Halloween 1938 ein Viertel aller Zuhörer überzeugt war, New Jersey würde tatsächlich von Außerirdischen vom Mars oder von den Deutschen angegriffen.

Die Hitparade „Top 40“ war eine „quantitative Beliebtheitsumfrage“, auf der Grundlage von Theorien der Projektleiter Paul Lazarsfeld und T.W. Adorno, wie man die Bevölkerung am leichtesten glauben machen könnte, daß sie unabhängig und rein „auf vielfachen Wunsch“ entscheiden, was sie mehrmals am Tag in ihren Radiogeräten hören wollten. Für die „Top-40“-Radioprogramme der 50er und 60er Jahre galt eine eiserne Regel: Mit ganz wenigen Ausnahmen durfte kein Musiktitel länger als vier Minuten sein. Damit wurde praktisch sämtliche klassische Musik aus den Radioprogrammen verbannt, ausgenommen die Sonntagsübertragungen aus der Metropolitan-Oper oder andere „Sondersendungen“.

Verbrämt als theoretisch unbegrenzte Vielfalt wurden auf diese Weise die Zuhörer jahrzehntelang einem strengen, willkürlichen Formalismus unterworfen, dessen Hauptzweck war, die Konzentrationsspanne aufmerksamer Hörer zu verkürzen. Das änderte sich erst Ende der 60er Jahre, als die in den unmittelbaren Nachkriegsjahren geborene Generation der „Babyboomer“, deren Musikgeschmack während ihrer gesamten Kindheit und Jugend schon wesentlich durch das Projekt beeinflußt worden war, den größten Umsatz im Schallplattengeschäft machte. (Schallplatten ersetzten nach und nach die Hausmusik, die vorher weitverbreitet gewesen war, als noch in vielen Häusern Klaviere standen.)

Was als „demokratischer Ausdruck des Zeitgeschmacks“ daherkam, diente letztlich dem gleichen Ziel wie die Tätigkeit des Propagandaministers Joseph Goebbels im Dritten Reich: sich das einflußreiche, noch neue Medium des Radios für propagandistische Zwecke zunutze zu machen. Auf diese Weise wurde durch „klammheimliches Ermuntern“ verrücktes und unmoralisches Verhalten als vermeintlich „in“ gefördert - ganz ähnlich wie heute im Internet.

Zu den Mitgliedern des Radio Research Project gehörten:

Das Projekt beruhte auf früheren theoretischen Arbeiten bei der Untersuchung von Kriegspropaganda und -psychosen und den Arbeiten Walter Benjamins und Theodor Adornos von der Frankfurter Schule. Diese früheren Arbeiten liefen auf die These hinaus, daß die Massenmedien dazu benutzt werden könnten, regressive Geisteszustände zu induzieren, die Individuen zu „atomisieren“ und eine erhöhte Labilität zu erzeugen. Dieser von außen induzierte Geisteszustand wurde später von der darauf spezialisierten britischen Tavistock-Klinik als „gehirngewaschen“ bezeichnet.

1938 schrieb Theodor W. Adorno als Leiter der Musikabteilung des Projekts, die Hörer von Radioprogrammen „wechseln ab zwischen umfassendem Vergessen und plötzlichem Eintauchen in Erkenntnis. Sie hören atomistisch und dissoziieren, was sie hören... Sie sind nicht wie Kinder, aber sie sind kindisch; ihr Primitivismus liegt nicht darin, daß sie unentwickelt sind, sondern daß sie zwangsweise retardiert sind.“

Das Ziel war die Schaffung einer neuen Form der autoritären Gesellschaft - nicht der „Große Bruder“ aus George Orwells 1984, sondern Millionen „Kleine Brüder“, eine Diktatur wie in Herr der Fliegen: die Diktatur der Konformität. Adorno schrieb (hier bezogen auf die Musik des Modernisten Igor Strawinsky) in seinem Buch Die Philosophie der Neuen Musik: „Sind die autoritären Charaktere von heutzutage ausnahmslos Konformisten, so wird der autoritäre Anspruch von Strawinskys Musik ganz und gar auf den Konformismus übertragen... Schließlich will sie ein Stil für alle sein, weil sie mit dem Allerweltsstil zusammenfällt, an den sie ohnehin glauben und den sie ihnen nochmals aufredet.“ Die durchgängige Verwendung von starken Rhythmen als eine Art „militaristische“ Konstante in allen Formen der „Popmusik“ - im Schlagzeug, in den Baßlinien oder im rhythmischen „Hip-Hop“-Geschrei - ist das beste Beispiel für die Vorherrschaft dieses diktatorischen, autoritären Prozesses.

dhs/lw