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Der Geiger Yehudi Menuhin, der vor hundert Jahren, im April 1916, in New York geboren wurde, war ein einzigartiger Zeuge eines entscheidenden Augenblicks des Niedergang der westlichen Kultur und speziell der klassischen Musik in 20. Jahrhundert. Zu seiner ewigen Ehre verweigerte Menuhin seine Beteiligung an der von den Nazis organisierten Verleumdungskampagne gegen den Dirigenten Wilhelm Furtwängler, die 1936 begann und noch lange nach Furtwänglers Tod 1953 weiterlief. Menuhin berichtet in seiner Autobiographie:
„Furtwänglers Fehler, und vielleicht auch meiner, lag darin, die Macht der Musik etwas zu überschätzen. Wenn er auch nicht erwartete, daß sie uns von den Sünden freisprechen könne, glaubte er doch daran, daß sie Vergiftungen werde heilen helfen. Noch kurz nach dem Reichstagsbrand 1933 hatte Furtwängler Artur Schnabel, Bronislaw Huberman und mich eingeladen, als Solisten in der Berliner Philharmonie aufzutreten. Wir alle sagten ab. Als Direktor der Berliner Staatsoper entschloß er sich 1934, Hindemiths Oper Mathis der Maler herauszubringen, obwohl er wußte, daß dieser ,dekadente’ Komponist offiziell gar nicht existierte; als Göring die Vorstellung unterband, reichte er seinen Rücktritt ein...
Richard Wagners Enkelin Friedelind, die 1939 aus Nazideutschland emigrierte, hat von einem Treffen zwischen Hitler und Furtwängler im Bayreuther Haus ihrer Mutter 1936 berichtet.
,Ich erinnere mich, daß Hitler sich Furtwängler zuwandte und ihm mitteilte, er müsse es sich gefallenlassen, von der Partei zu Propagandazwecken eingesetzt zu werden, und ich weiß genau, daß Furtwängler ablehnte. Hitler wurde ganz ärgerlich und ließ Furtwängler wissen, in diesem Falle wäre ihm ein Platz in einem Konzentrationslager sicher. Furtwängler hielt einen Augenblick inne und sagte dann: >Herr Reichskanzler, dann werde ich in guter Gesellschaft sein.< Offensichtlich war Hitler von dieser Abfuhr so überrascht, daß er nicht eine seiner langen Tiraden begann, sondern einfach wegging.’“
Hermann Göring, die Nummer Zwei in der Hierarchie des Dritten Reichs, organisierte persönlich eine Kampagne, um zu verhindern, daß Furtwängler 1936 Nachfolger von Arturo Toscanini bei den New Yorker Philharmonikern wurde. Göring setzte eine riesige Welle von Verleumdungen und Einschüchterungen in Gang, manipulierte die internationalen Medien und Eliten, darunter sogar mehrere jüdische Einrichtungen und Organisationen in New York, damit Furtwängler diese Position nicht erhielt. Die Kampagne hatte Erfolg, Furtwängler mußte 1937 auf die Ernennung verzichten.
Ähnlich wie ein neues Beispiel für Mut im Widerstand gegen die Barbarei - der Pionier der syrischen Archäologie im 20. Jahrhundert, Chaled Al-Asaad, der von der Terrorgruppe Islamischer Staat ermordet wurde - wagte es Furtwängler, sich Hitler zu widersetzen und dabei sogar seinen Tod zu riskieren, als kein anderer dies tun konnte - und dies tat er gerade deswegen, weil keiner seiner Zeitgenossen die erhabene Macht des inneren Lebens der Musik so gut verstand wie Furtwängler.
Ähnlich wie die Naturwissenschaft unter der Diktatur Bertrand Russells wurde die Musik zu Beginn des 20. Jahrhunderts umgebracht. Furtwänglers Entscheidungen beruhten nicht auf Naivität, sondern auf einem höheren Ideal der Gesellschaft, Kultur und Musik, das im abgetöteten Deutschland nicht existierte, aber das Furtwängler für eine spätere Wiedergeburt bewahrte, indem er statt einer entwürdigten Kultur die wahre klassische Kultur verkörperte, wozu er wie kein zweiter ausgerüstet war. Nachdem ihm wegen der erfolgreichen Aktion der Nazi-Geheimdienste die Position in Amerika verwehrt worden war, blieb er in Deutschland, aus dem gleichen Grund, aus dem Sokrates in Athen und Thomas Morus in England blieben, auch wenn es unter Lebensgefahr war - beide verloren ihr Leben, Furtwängler konnte es retten. Es war die richtige Entscheidung.
Der verstorbene Yehudi Menuhin kann sich sicher sein: Weder er noch Furtwängler hat die Macht der Musik jemals überbewertet. Man muß nur - rücksichtlos - die „Barbaren vor dem Tor“ richtig beurteilen, die die Menschheit durch „Verrat, Räuberei und Tücken“ (Shakespeare, Kaufmann von Venedig) unterwerfen wollen, indem sie Kindern wie dem Wunderkind Menuhin die Musik vorenthalten, die sie dafür rüstet, die Menschheit von der ständigen Gefahr eines Absturzes in ein finsteres Zeitalter - so wie heute - zu befreien.
Dennis Speed