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Neue Solidarität
Nr. 41, 7. Oktober 2015

In den Krisen unserer Zeit

Der frühere Diplomat Frank Elbe, der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr Harald Kujat, der frühere außenpolitische Berater von Bundeskanzler Kohl, Horst Teltschik, und der Vorstand der Carl-Friedrich-von-Weizsäcker-Stiftung, Bruno Redecker, veröffentlichten die folgende gemeinsame Denkschrift, die wir hier mit freundlicher Genehmigung der Autoren abdrucken. (Auszüge erschienen am 23. September in der Tageszeitung Die Welt).

Die Probleme des internationalen Terrorismus und Fundamentalismus, der dramatischen Flüchtlingswelle, der Finanzkrise dieses Jahrhunderts, der weltweit ungleichen Verteilung der Güter und der Gefährdung unserer natürlichen Ressourcen sind nicht nur nicht gelöst; sie verschärfen sich: lokal, regional und global. Die Chance zu einer „Friedens- und Sicherheitsordnung von Vancouver bis Wladiwostok“, wie sie in der „Pariser Charta für ein neues Europa“ angelegt ist, scheint weitgehend vertan. Nicht nur werden Kriege geführt wie eh und je. Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt, vornehmlich getrieben vom Konflikt zwischen Rußland und seinen Nachbarstaaten sowie den Spannungen mit den westlichen Demokratien. Die Ukraine gibt diesem Konflikt derzeit seinen geographischen Namen und seinen sichtbarsten Ausdruck.

Angesichts der Krisen unserer Zeit erinnern die Unterzeichner an das Jahr 1967, in dem der Harmel-Bericht die Grundlage für die Doppelstrategie der Nordatlantischen Allianz legte. Sicherheit und Entspannung sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Gemeinsames Ziel war „eine dauerhafte und gerechte Friedensordnung in Europa“. Sie erinnern an das Jahr 1989, an jenes denkwürdige Jahr, in dem fünf Staaten des östlichen Europa mit wissender Duldung der sowjetischen Führung den Weg in die Freiheit gingen: Bulgarien, die Deutsche Demokratische Republik, Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei. Nur in Rumänien gelang der Weg erst über die blutige Gegenwehr des Herrschers. Und sie erinnern an die Rede von Präsident George Bush sen. am 31. Mai desselben Jahres in Mainz: „Die Sowjets sollen wissen, dass unser Ziel nicht darin besteht, ihre legitimen Sicherheitsinteressen zu untergraben“.

Staatspräsident Michail S. Gorbatschow versuchte das Notwendige und historisch Einmalige: die gleichzeitige Änderung des politischen wie des ökonomischen Systems. Er rettete nicht das kontinentale Imperium und auch nicht ein reformiertes Sowjetsystem. Als aber die Sowjetunion zu ihrem Ende kam, gelang ihm das historisch Beispiellose: das Konfliktpotential zwischen West und Ost, zwischen der zerbrechenden Sowjetunion und den USA zusammen mit führenden westlichen Politikern auf dem Weg der Entspannung zu halten, sodaß der kalte Krieg nicht heiß wurde.

In tiefer Sorge erinnern die Unterzeichner aber auch an die nuklearen Waffen und Waffensysteme dieser Welt, über die Rußland und die Vereinigten Staaten zu ca. 90 % verfügen. Und die Gravur ihres politischen Konfliktes nimmt zurzeit nicht ab, sondern zu. Zwar sind nach Hiroshima und Nagasaki in den militärischen Auseinandersetzungen keine atomaren Waffen mehr zum Einsatz gekommen. Doch sehen wir keinen zwingenden Grund, daß das auf immer auch so bleibt.

Krieg und Kriegsverhütung

Zu allen Zeiten seiner Hochkultur hat der Mensch einen Kampf gegen die Barbarei des Krieges geführt, wenngleich mit wechselndem Erfolg. Die Neuzeit verfolgt zwei Ziele: Humanisierung des Krieges und Verhütung von Kriegen.

Zur Humanisierung des Krieges zählen zum Beispiel die Ächtung bestimmter Waffen, das Rote Kreuz und die Entwicklung des Völkerrechts. Doch gehen kriegführende Parteien vielfach über bestehende völkerrechtliche Standards oder Vereinbarungen hinweg, wenn sie sich davon den angestrebten Erfolg versprechen. Die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten scheint in den Kriegen dieses und des letzten ausgehenden Jahrhunderts weitgehend aufgehoben. Das gilt insbesondere für die asymmetrischen Kriege an der Peripherie Europas, die – u. a. religiös und ethnisch motiviert – die Lebensgrundlagen der Menschen vernichten, den größten Flüchtlingsstrom seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ausgelöst haben und bewußt die Zerstörung kulturell-geschichtlicher Zeugnisse in ihre terroristisch geprägte Kriegsführung einbeziehen.

Eine Humanisierung des Krieges jedoch führt so wenig zur Verhütung von Kriegen wie eine technisch gesicherte nukleare Zweitschlagskapazität. Eine Technik in ständiger Weiterentwicklung kann keine Garantie gegen technisches Versagen bieten, nicht gegen die Eskalation regionaler Konflikte, nicht gegen die Proliferation nuklearer Waffen und Technologien, schließlich auch nicht gegen den Irrtum und den menschlichen Wahn. Kriegsverhütung kann letztlich überhaupt nicht technisch, sondern nur politisch gesichert werden.

Verträge haben seit je der Verhütung von Kriegen gedient. Die Gefahr der heutigen Situation besteht vor allem darin, daß sich die beiden Großmächte nicht mehr als stabilisierende Führungsmacht übergreifender, wenngleich entgegengesetzter Systeme oder auch Ideologien, aber doch gegenseitig respektierter strategischer Interessen wahrnehmen, sondern vor allem als Vertreter nationaler Interessen. In der Konsequenz und im Hinblick auf die Ukraine schließt die „Arbeitsteilung“ zwischen den Vereinigten Staaten und Europa – finanzielle und militärische Unterstützung einerseits, diplomatische Vermittlung und Sanktion andererseits – nicht aus, daß aus dem Krieg in der Ukraine ein Krieg um die Ukraine werden kann. Keiner der strukturellen Gründe, die zum Ersten Weltkrieg geführt haben, scheint wirklich überwunden.

Hinzu tritt ein prägender Unterschied in der geschichtlichen Erfahrung beider Länder, die beide aus der Besiedlung eines nach westeuropäischen Begriffen fast endlosen Raumes hervorgegangen sind.

Durch zwei Weltmeere isoliert, wird Nordamerika im Laufe von etwa drei Jahrhunderten ohne gleichwertigen Gegner im wesentlichen von Europäern erobert und besiedelt, die ihre Freiheit suchten oder ihrer ökonomischen Not entkommen wollten. Die Weite des Landes und die Freiheit des Marktes machen die USA zur größten Wirtschaftsmacht der Erde, die Selbstzerfleischung Europas im vorigen Jahrhundert zu einer hegemonialen Macht.

Rußland dagegen befindet sich historisch und geographisch in einer entgegengesetzten Lage. In der von Natur aus nahezu grenzenlosen Ebene konnte sich das Land seit seiner Gründung vor über 1000 Jahren – im Westen begrenzt von überlegener Zivilisation, im Osten durch Nomaden auf schnellen Pferden, im Innern feudal-absolutistisch ohne Gelegenheit zur Erfahrung bürgerlich-demokratischer Freiheit –, nur durch militärische Stärke behaupten.

Renaissance

Erst militärische Stärke gibt Rußland jene gefühlte Sicherheit, zu der seine Geschichte drängt. In der Phase der Entspannung und unter dem Schirm einer garantierten nuklearen Zweitschlagskapazität stimmt Rußland in den Abrüstungsverhandlungen gleichwohl dem Umbau seiner konventionellen Streitkräfte in Quantität und Qualität nach dem Prinzip zu: Streitkräfte dürfen zur Verteidigung, nicht aber zum Angriff fähig sein. Der Waffenstillstand, der seit über 60 Jahren zwischen den beiden Großmächten besteht, schützt uns jedoch nicht vor dem Einsatz nuklearer Waffen und nicht vor einem dritten Weltkrieg.

„Wir stehen an einer Wegscheide der Beziehung zwischen Amerika und Rußland“ mahnt Gorbatschow eindringlich in einem kürzlich geführten Interview. Das „Vertrauen“, so Gorbatschow, „daß wir so mühevoll aufgebaut haben“, steht auf dem Spiel, u. a. auch das Vertrauen, mit der Abschreckung durch ein unkalkulierbares nukleares Risiko nicht wirklich und im Ernst rechnen zu müssen.

Das Gleichgewicht des Schreckens durch die gesicherte nukleare Zweitschlagskapazität der beiden Großmächte mag heute noch oder vielleicht wieder das stärkste Argument der Friedenssicherung sein. Aber dieses Gleichgewicht ist hochgradig instabil. Und die Kubakrise lehrt: Ein Versagen genügt. Das zwingt uns, neue Wege zu gehen. Neue Wege aber liegen zumeist in einer Renaissance, hier in einer Renaissance der Verhandlungen und Verträge, der gegenseitigen Berechenbarkeit und des gegenseitigen Vertrauens. Die Alternative ist weder rational noch moralisch zu verantworten – sie ist schlicht nicht zuzulassen.

Die Konferenzen seit Helsinki 1973, die bilateralen Verträge zur Reduzierung und Kontrolle nuklearer Waffen und Waffensysteme, der Vertrag zur Reduzierung konventioneller Streitkräfte in Europa, die Zwei-plus-vier-Verhandlungen zur Wiedervereinigung Deutschlands, schließlich die Charta von Paris dokumentieren den unbedingten Willen beider Seiten, seinerzeit ohne „Einmischung“ militärischer Mittel zu einem „Ausgleich unterschiedlicher Interessen“ (v. Clausewitz) zu kommen, im Sinne einer „Friedens- und Sicherheitsordnung von Vancouver bis Wladiwostok“.

Dieser Wille scheint heute auf beiden Seiten nahezu erloschen und ist wohl auch nicht so ohne weiteres wiederzubeleben. Doch kann seine Spur wieder aufgenommen werden, im New-Start-Abkommen 2010 zwischen Rußland und den Vereinigten Staaten beispielsweise, das den Start-1-Vertrag von 1991 weiterführt und zeitweise eine neue Dynamik in die Beziehungen zwischen den beiden Staaten bringt; seine Spur kann wieder aufgenommen werden in erneuten Verhandlungen über die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen, schließlich und nicht zuletzt auch in gemeinsamen Interessen, etwa die weitere Verbreitung von nuklearen Waffen, Waffensystemen und Technologien zu verhindern oder Krisenherde wie den Nahen Osten einzudämmen und nach Möglichkeit gemeinsam zu befrieden.

Europa

„Keine Sicherheit ohne Rußland“ ist inzwischen eine stehende Redewendung. In Erinnerung des Spannungsgefüges von Vielfalt und Einheit europäischer Geschichte, der Irrwege, Fehler und Irrtümer, ebenso aber auch der Glanzstücke ihrer Hochkultur, wächst Europa die Herausforderung und Anstrengung zu, als Anwalt „gemeinsam angewandter Vernunft“ (Carl Friedrich v. Weizsäcker) das große Ziel zu verwirklichen, das die Charta von Paris entwirft: eine umfassende Friedens- und Sicherheitsordnung mit dem „Gemeinsamen Haus Europa“ als gleichsam harten Kern.

Die Unterzeichner sehen auf diesem Weg drei zwar nicht hinreichende, aber zunächst doch notwendige, ineinander verschränkte Schritte:

Mit Nachdruck merkt C. F. v. Weizsäcker zum Umgang mit Krisen und Verwerfungen in unserer Zeit an: „Eine komplizierte Gesellschaft in raschem Wandel wie die unsere kann nicht überleben, geschweige denn die besten Wege finden ohne Einsicht. Einsicht aber wird uns nicht ohne vorherige äußerste Anstrengung der Wahrheitssuche gegeben“, wenngleich sie als gesuchte und nicht diktierte Wahrheit „stets nur partiell gefundene Wahrheit“ sein kann.

Keine Sicherheit ohne Rußland, aber ebenso „Keine Sicherheit ohne Amerika“. Was also sollte Europa tun? Als Anwalt gemeinsam angewandter Vernunft sollte Europa den amerikanischen und den russischen Präsidenten mit dem Ziel einer politischen Lösung des Syrien- wie des Ukrainekonfliktes durch den Ausgleich unterschiedlicher Interessen an einen Tisch bringen. Doch sollte Europa sein Schicksal nicht allein in die Hände der beiden Großmächte legen, sondern in seinem ureigensten Interesse nach allen Kräften dazu beitragen, den Antagonismus zwischen Ost und West, die Spirale von Drohung und Gegendrohung, von Fehleinschätzung und Überreaktion zu überwinden. So könnte Europa mit einer belastbaren Antwort auf die Krise um die Ukraine und Syriens zugleich die Chance bewahren, auf weitere Herausforderungen unserer Zeit ebenfalls in gemeinsam angewandter Vernunft zu antworten, hinsichtlich der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen beispielsweise oder des barbarischen Terrors an seiner Peripherie.

So versteht sich diese Denkschrift als Appell an Politiker, Regierungen und Staatsoberhäupter. Die Zeit drängt, im Sinne gemeinsam gesuchter Wahrheit und gemeinsam angewandter Vernunft in den Krisen unserer Zeit Wege zu einer Friedens- und Sicherheitsordnung von Vancouver bis Wladiwostok zu ebnen und zu gehen.

Frank Elbe Botschafter a. D.
Harald Kujat General a. D.
Dr. Bruno Redeker, Vorstand C. F. v. Weizsäcker-Stiftung u. d. C. F. v. Weizsäcker-Gesellschaften
Prof. Dr. h.c. Horst M. Teltschik, ehem. stv. Leiter Bundeskanzleramt