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Neue Solidarität
Nr. 26, 25. Juni 2014

Unterhausmitglied stellt Anklageantrag gegen Tony Blair

Kriegsverbrechen. Angesichts der Eskalation im Irak rückt die verantwortliche Rolle des früheren britischen Premierministers Blair immer mehr in den Vordergrund.

Während US-Präsident Obama in der vergangenen Woche führenden Kongreßmitgliedern erklärte, er brauche den US-Kongreß nicht zu konsultieren, bevor er im Irak erneut militärische Maßnahmen ergreife, und diese klar verfassungswidrige Linie von einigen seiner Parteifreunde im Kongreß sogar noch untertänigst nachgebetet wird, zeigen deren Kollegen im britischen Unterhaus, wie man mit solchen Bestrebungen umgehen muß: Dort droht Obamas Berater und Freund Tony Blair eine Ministeranklage, die ihn ins Gefängnis bringen könnte. Ein Impeachment gegen Blair wegen der Lügen, die zum Irakkrieg führten, war zwar schon 2004 von dem Abgeordneten Adam Price erstmals vorgeschlagen worden, aber bis jetzt hatte es niemand formell beantragt. Das änderte sich in der vergangenen Woche.

Den Anfang machte die Zeitung Daily Mail. Am 17. Juni forderte deren einflußreicher Chefkorrespondent Simon Heffer das Parlament auf, Blair unter Anklage zu stellen, weil dieser Großbritannien mit illegalen Mitteln in den Krieg gegen den Irak getrieben habe. Eigentlich habe es Blair verdient, daß man ihn als Kriegsverbrecher vor Gericht stellt, aber das sei nicht sehr wahrscheinlich. Daher solle nun das Unterhaus ein Impeachment gegen ihn einleiten.

Dazu muß ein Parlamentsausschuß die notwendigen Beweise sammeln und Anklagevertreter stellen, die den Fall den Lords vorlegen. Seit 1806 hat es kein solches Impeachment-Verfahren mehr gegeben. Aber obwohl ein Unterhausausschuß 1999 erklärt hatte, dieses Verfahren sei inzwischen obsolet und in einer modernen parlamentarischen Demokratie nicht mehr notwendig, wurde kein Gesetz beschlossen, um das Impeachment abzuschaffen, und damit gibt es auch keine Möglichkeit, es auf gesetzliche Weise zu blockieren. Eine Verurteilung kann mit einfacher Mehrheit erfolgen und zu einem Urteil führen, was, wie Heffer schreibt, „bedeuten kann, daß Tony Blair ins Gefängnis geschickt wird“.

Die Vorwürfe seien eindeutig:

Heffer schloß seinen Kommentar: „Ich vermute, wenn die Dinge im Irak sich verschlimmern - und das werden sie -, könnte es nicht unmöglich sein, eine Mehrheit im Unterhaus für eine Anklage gegen Herrn Blair zustandezubringen. Zu welchem Ergebnis die Lords kommen würden, wenn sie über seine Schuld oder Unschuld befinden, wird von der Beweislage abhängen. Die Öffentlichkeit schreit danach, daß diese Beweise geprüft werden. Und eine Anklage ist das angemessene verfassungsmäßige Instrument für einen ehemaligen Premierminister, dem ein solches Verhalten vorgeworfen wird.“

Den Worten folgen Taten

Am folgenden Tag erhob sich dann Sir Peter Tapsell, als dienstältestes Mitglied des Unterhauses „Vater des Hauses“, in der Fragestunde des Premierministers und fragte David Cameron:

„Weiß der Premierminister, daß [im Parlament] zunehmend das Gefühl herrscht - weil die Veröffentlichung des Chilcot-Berichtes so lange verzögert wurde -, daß man die alte, aber immer noch bestehende Macht der Hinterbänkler aktivieren sollte, ein Impeachment-Verfahren einzuleiten, um Mister Tony Blair zur Verantwortung zu ziehen, weil er mutmaßlich das Haus in Bezug auf die Notwendigkeit der Invasion des Irak belogen hat?“

Tapsell hatte schon im vorigen Jahr entscheidend dazu beigetragen, das Votum des Unterhauses gegen einen Militärschlag gegen Syrien zustandezubringen. Seine neue Intervention schlug gleich gewaltige Wellen. Das jahrhundertealte konservative Magazin The Spectator nannte es eine „Bombe“. Blairs Freunde beim New Statesman, der der Fabian Society nahesteht, versuchten die Debatte zu unterdrücken, indem sie das ganze als „Kampf gegen Windmühlen“ verspotteten, aber ConservativeHome.com wies darauf hin, daß auch viele Labour-Mitglieder Blair verabscheuen: „Sie stimmen Sir Peter zu, daß ihr früherer Anführer das Haus irregeführt hat, als er sich für den Krieg gegen den Irak einsetzte.“ ConservativeHome mutmaßt, daß ein solcher Vorstoß der Konservativen gegen Blair ihnen zu einem Wahlsieg verhelfen könnte.

Tatsächlich gestellt wurde der Impeachment-Antrag vom früheren linken Labour-Abgeordneten George Galloway, den Blair 2003 aus der Labour-Partei ausgestoßen hatte, weil er gegen den Irakkrieg opponierte. Heute vertritt Galloway im Unterhaus die „Respekt-Partei“. Aber wie der Londoner Guardian anmerkt, hat Galloway seinen Anklageantrag wohl nicht im Alleingang gestellt:

Banquos Geist

Galloway selbst erklärte hochzufrieden gegenüber Voice of Russia, Blair „schwebte heute im Gebälk des Unterhauses. Nicht zuletzt, als die hocherhabene Figur des Vaters des Hauses, Sir Peter Tapsell, der selbst in den 1950er und 1960er Jahren als Soldat gedient hat, ein Impeachment gegen Blair forderte - etwas, was ich selbst gestern eingeleitet habe, aber Sir Peter gerne überlassen werde, wenn er es leiten will. Blairs Präsenz war spürbar wie Banquos Geist [in Shakespeares Macbeth], aber ich denke, der Tag der Abrechnung für Tony Blair wird bald kommen. Schneller, als ich selbst zu hoffen gewagt hatte…

Wir haben immer noch die Macht, ihn zu inhaftieren, und ich werde das Parlament zwingen, eine Entscheidung darüber zu fällen, ob es das will oder nicht... Jeder Abgeordnete wird gezwungen sein, für oder gegen meinen Antrag, ihn anzuklagen, zu stimmen... Vergessen Sie nicht, daß bald eine Parlamentswahl stattfindet. Der Prozeß hat begonnen, die Lunte brennt. Sir Peter Tapsell hat ihm mit seiner Frage an den Premierminister einen kräftigen Schub gegeben. Ich denke, die Zeit ist gekommen.“

Der wahre Anlaß ist die Lage im Irak

Der Anlaß für die plötzliche Empörung gegen Blair sind natürlich die jüngsten Entwicklungen im Irak, wo aufgrund der Offensive der Al-Kaida-nahen Terroristen des Islamistischen Staats im Irak und Syrien (ISIS) eine Spaltung des Landes, ein Religionskrieg und neuerliche militärische Verwicklungen für den Westen drohen. Blair selbst versucht verzweifelt, sich zu verteidigen und behauptet, die heutige Lage sei nicht die Folge der Invasion 2003. Es sei „grotesk“, die Intervention von 2003 für den Aufstieg von ISIS verantwortlich zu machen, schrieb Blair auf seiner Internetseite. „Wir müssen uns von der Vorstellung befreien, daß ,wir’ das verursacht haben. Das haben wir nicht… Die fundamentale Ursache der Krise liegt in der Region, nicht außerhalb.“

Aber damit überzeugt er niemanden. Professor George Joffe von der Universität Cambridge, der Blair 2002 im Vorfeld des Irakkrieges beraten hatte, erklärte in einem Interview mit der Huffington Post, zwischen der Invasion des Irak und dem Aufkommen der Terrorgruppe bestehe „absolut“ ein Zusammenhang - und dafür trage Blair die „volle Verantwortung“. Joffe berichtete über seine damalige Beratertätigkeit: „Wir durften nicht darüber sprechen, ob es eine gute Idee sei, einzumarschieren, oder nicht, sondern nur darüber, was die Folgen wären. Es war klar, daß die Entscheidung bereits gefallen war.“

Joffe sagte weiter, Blair habe seine Warnungen vor Chaos und religiösen Streitigkeiten im Irak nicht ernst nehmen wollen, sondern darauf nur geantwortet: „Aber dieser Mann [Saddam Hussein] ist schlimm, nicht wahr?“ Blair habe alles ganz auf die Person Saddam Husseins zugespitzt, „deshalb war die ganze Struktur des Irak vollkommen irrelevant... Es war sehr zweidimensional.“ Und Blairs jüngste Äußerungen „belegen eine Unfähigkeit, Politik und Geopolitik zu verstehen. Sie sind schändlich.“

Natürlich bleibt in dieser Diskussion vieles ungesagt, was eigentlich gesagt werden müßte - z.B. über die direkte Rolle westlicher und arabischer Regierungen beim Aufbau der islamistischen Terrorgruppen, mit denen „Regimewechsel“ gegen mißliebige Regierungen in der Region herbeigeführt werden sollen. Aber viel wichtiger ist, daß mit den Schritten gegen Blair demonstriert wird, daß auch die Kriegstreiber im Westen für ihre Politik zur Verantwortung gezogen werden können.

Eines dürfte allerdings nach diesen Vorgängen vollkommen klar sein: Toni Blairs Versuch, sich als Kandidat für die EU-Präsidentschaft ins Gespräch zu bringen und als „Retter Europas“ eine zweite Karriere zu beginnen, dürfte wohl im Sande der irakischen Wüste verlaufen. Und das ist gut so.

Alexander Hartmann