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Neue Solidarität
Nr. 39, 26. September 2012

Nach dem ESM-Urteil: Wie geht es weiter?

Da sich Verfassungsgericht und Bundestag gegenseitig den Schwarzen Peter der Aufsicht über die EU-Politik der Regierung zuschieben, muß sich nun der Bürger selbst engagieren.

Daß die politischen Eliten verpflichtet sind, für das Wohl des Volkes zu wirken, steht zwar im Grundgesetz, aber die Realität, die den Bürgern zunehmend Sorgen macht und Ängste einjagt, ist eine andere: Unter dem Vorwand „Europa“ wird das Wohl der Deutschen (wie übrigens auch der Bürger in den anderen europäischen Ländern) durch die Bundesregierung und die anderen Regierungen stetig vermindert.

Dem Treiben der Exekutive könnte der Bundestag, die Legislative, einen Riegel vorschieben, aber mit Mehrheiten von 85 oder sogar noch mehr Prozent folgen die gewählten Vertreter, einschließlich des allergrößten Teils der Opposition, dem Kurs der Regierung. So bleibt das Verfassungsgericht, die dritte Säule des parlamentarisch-demokratischen Systems, die letzte Instanz für den Bürger - aber die Richter zucken nur mit den Achseln und verweisen darauf, das sei Sache des Bundestags, sie müßten nur prüfen, ob gewisse demokratische und rechtliche Grundbedingungen eingehalten werden.

Ja, allerdings „informiert“ die Regierung den Bundestag, aber wie! Der SPD-Bundestagsabgeordnete Peter Danckert, einer der Kläger in Karlsruhe gegen den ESM, hat ja in der öffentlichen Anhörung im Gericht im Juli sehr anschaulich dargestellt, wie es aussieht mit Informationen und Diskussionen: Diskutiert wird schon, aber ein grundsätzliches Infragestellen des Regierungskurses ist gar nicht möglich, man diskutiert immer nur in den von der EU und der Regierung von vornherein vorgegebenen Grenzen, und am Ende kann man nicht einmal einen einzigen Punkt, ein einziges Komma ändern. Nun ja, wenigstens hat Peter Gauweiler geklagt, mit Teilerfolgen in Karlsruhe, aber alle anderen ESM-Skeptiker im Bundestag und in Bayerns CSU verstecken sich hinter ihm, sympathisieren mit ihm, aber werden selbst ansonsten nicht aktiv.

Dabei könnte der Bundestag einiges bewirken, würde er die ihm von den Richtern wiederholt bekräftigten Rechte, die möglicherweise die weitestgehenden in irgendeinem europäischen Parlament sind, ausschöpfen. So aber stehen die Rechte des Bundestages nur auf dem Papier. Die Tatsache, daß diese Rechte ganz offensichtlich kaum vom Bundestag wahrgenommen werden, der sich nicht einmal die Zeit nimmt, gründlicher in die Vorlagen hineinzuschauen, über die er dann - meist auch noch in größter Eile - abstimmen soll, hätte längst vom Gericht gerügt werden müssen. Eine solche Rüge hätte auch in das Urteil vom 12. September gehört, um die Papiertiger des Bundestags auf Trab zu bringen.

Aber auch die Richter selbst machen sich zu Papiertigern, indem sie Verantwortung für das Wohlergehen der Bürger letztendlich von sich weisen. Zugestanden, die Richter haben angefangen, sich etwas besser auch über wirtschafts- und finanzpolitische Fragen sachkundig zu machen, das zeigte sich in der Anhörung im Juli; aber vor wie Wahl gestellt, für den Bürger gegen die Euro-Politik oder für das geltende Euro-Paradigma zu urteilen, haben sie sich stets für das Paradigma entschieden. Viel darf man von solchen Richtern, die schon 1993 gegen das Maastricht-System, 2009 gegen den Lissabon-Vertrag und 2011 gegen den EFSF hätten entscheiden müssen, daher nicht erwarten. Die Richter, die sich ja immer, wenn sie etwas eigenständiger urteilen, Attacken vonseiten der Medien, Karlsruhe wolle eine „Nebenregierung“ werden, erwehren müssen, ziehen sich in den allermeisten Fällen auf den Gedanken des „Gleichgewichts der öffentlichen Organe“ zurück, also die Balance zwischen Regierung, Bundestag und Verfassungsgericht - das aber führt in der jetzigen Krise zu einem Gleichgewicht der Art, das sich immer mehr vom Bürger und von der staatlichen Souveränität entfernt. Dabei unterliegen alle drei Organe der Verfassung, deren eigentlicher Souverän das Volk, der Wähler ist, denn von ihm geht, so sagt es das Grundgesetz, alle staatliche Gewalt aus.

In der jetzigen, durch eine verantwortungslose Europapolitik, die weder den Deutschen noch Europa nützt, verursachten deutschen Verfassungskrise ist also der Bürger - und zwar nicht nur als Käger in Karlsruhe - gefragt. Die Wiederausrichtung der Organe am Staats- und Verfassungsziel ist eine Aufgabe, aber auch Herausforderung an den Bürger, der schon längst in einem Referendum laut Artikel 146 GG zu Europafragen hätte mitentscheiden müssen. Solch ein Referendum sollte auch endgültig festschreiben, daß ein Austritts- und Widerrufsrecht durch die Bundesregierung in alle Europaverträge als deutscher Vorbehalt ausdrücklich hineingeschrieben gehört - so wie es im internationalen Völkerrecht Standard ist.

Es ist aber auch bei den allermeisten der Kläger so, daß sie im EU/Euro-Paradigma verbleiben. Einige wollen zu strikten Maastricht-Kriterien als dem angeblichen Heilmittel zurück, andere sind gar nicht einmal grundsätzlich gegen den ESM, und eine wirkliche Alternative zum geltenden Paradigma, das ja erheblich ins Wanken gekommen ist und längst hätte ersetzt werden müssen, ist nie in Karlsruhe zur Sprache gekommen - weil die Kläger selbst es nicht angesprochen haben.

So wird den Richtern die Arbeit leicht gemacht, so können sie, obwohl sie anders als die Regierung durchaus Probleme bei der Euro-Politik eingestehen, letztendlich die geltende Politik als angeblich alternativlos interpretieren und damit dem Kurs der Regierung „überwiegend“ folgen und die Beschwerden der Kläger als „überwiegend unbegründet“ verwerfen. Vermutlich hätten die Richter auch ein direkt im Karlsruher Verfahren zur Sprache gekommenes Trennbankensystem verworfen, aber es wäre zumindest ins Protokoll eingegangen und vom Gerichtsaal wiederum in die breitere Öffentlichkeit gegangen, weil die Richter in ihrem Urteil dazu Stellung hätten nehmen müssen.

Nun, der Kampf für ein neues, gerechtes Wirtschafts- und Finanzsystem, das gleichzeitig auch solide Grundlage für eine Weltfriedensordnung sein kann, geht weiter, zunächst einmal außerhalb des Gerichtssaals, aber auch innerhalb, weil das Hauptverfahren über den ESM ja noch läuft und im Herbst noch eine öffentliche Anhörung zur Rolle der EZB stattfinden soll. Die Opposition gegen den ESM und die Euro-Politik muß aber programmatisch aufrüsten, wobei das Arsenal dafür schon bei der BüSo bereitsteht. Statt getrennt zu marschieren, aber ebenso getrennt zu verlieren, muß künftig vereint marschiert und gewonnen werden.

Rainer Apel

Lesen Sie hierzu bitte auch:
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