|
|
Ludwigsburg, 9. September 1962
Sie alle beglückwünsche ich! Ich beglückwünsche Sie zunächst, jung zu sein. Man braucht ja nur die Flamme in Ihren Augen zu beobachten, die Kraft Ihrer Kundgebungen zu hören, bei einem jeden von Ihnen die persönliche Leidenschaftlichkeit und in Ihrer Gruppe den gemeinsamen Aufschwung mitzuerleben, um überzeugt zu sein, daß diese Begeisterung Sie zu den Meistern des Lebens und der Zukunft auserkoren hat.
Ich beglückwünsche Sie ferner, junge Deutsche zu sein, das heißt, Kinder eines großen Volkes. Jawohl! eines großen Volkes!, das manchmal im Laufe seiner Geschichte große Fehler begangen hat. Ein Volk, das aber auch der Welt fruchtbare geistige wissenschaftliche, künstlerische und philosophische Wellen beschert hat, das die Welt um zahlreiche Erzeugnisse seiner Erfindungskraft, seiner Technik und seiner Arbeit bereichert hat; ein Volk, das in seinem friedlichen Werk, wie auch in den Leiden des Krieges, wahre Schätze an Mut, Disziplin und Organisation entfaltet hat.
Das französische Volk weiß das voll zu würdigen, da es auch weiß, was es heißt, unternehmens- und schaffensfreudig zu sein, zu geben und zu leiden.
Schließlich beglückwünsche ich Sie, die Jugend von heute zu sein. Im Augenblick, wo Sie in das Berufsleben treten, beginnt für die Menschheit ein neues Leben. Angetrieben von einer dunklen Kraft, auf Grund eines unbekannten Gesetzes, unterliegen die materiellen Dinge dieses Lebens einer immer rascheren Umwandlung. Ihre Generation erlebt es und wird es noch weiter erleben, wie die Gesamtergebnisse der wissenschaftlichen Entdeckungen und der maschinellen Entwicklung die physischen Lebensbedingungen der Menschen tief umwälzen.
Dieses wunderbare Gebiet, das Ihnen offen steht, soll durch diejenigen, die heute in Ihrem Alter stehen, nicht einigen Auserwählten vorbehalten bleiben, sondern für alle unsere Mitmenschen erschlossen werden. Sie sollen danach streben, daß der Fortschritt ein gemeinsames Gut wird, sodaß er zur Förderung des Schönen, des Gerechten und des Guten beitragt, überall und insbesondere in Ländern wie den unseren, welche die Zivilisation ausmachen; somit soll den Milliarden der in den Entwicklungsländern Lebenden dazu verholfen werden, Hunger, Not und Unwissenheit zu besiegen und ihre volle Menschenwürde zu erlangen.
Das Leben in dieser Welt birgt jedoch Gefahren. Sie sind umso größer, als der Einsatz stets ethisch und sozial ist. Es geht darum zu wissen, ob im Laufe der Umwälzungen der Mensch zu einem Sklaven in der Kollektivität wird oder nicht; ob es sein Los ist, in dem riesigen Ameisenhaufen angetrieben zu werden oder nicht; oder ob er die materiellen Fortschritte völlig beherrschen kann und will, um damit freier, würdiger und besser zu werden.
Darum geht es bei der großen Auseinandersetzung in der Welt, die sie in zwei getrennte Lager aufspaltet und die von den Völkern Deutschlands und Frankreichs erheischt, daß sie ihrem Ideal die Treue halten, es mit ihrer Politik unterstützen und es, gegebenenfalls, verteidigen und ihm kämpfend zum Sieg verhelfen.
Diese jetzt ganz natürliche Solidarität müssen wir selbstverständlich organisieren. Es ist die Aufgabe der Regierungen. Vor allem müssen wir ihr aber einen lebensfähigen Inhalt geben, und das soll insbesondere das Werk der Jugend sein. Während es die Aufgabe unserer beiden Staaten bleibt, die wirtschaftliche, politische und kulturelle Zusammenarbeit zu fördern, sollte es Ihnen und der französischen Jugend obliegen, alle Kreise bei Ihnen und bei uns dazu zu bewegen, einander immer näher zu kommen, sich besser kennen zu lernen und engere Bande zu schließen.
Die Zukunft unserer beiden Länder, der Grundstein, auf dem die Einheit Europas gebaut werden kann und muß, und der höchste Trumpf für die Freiheit der Welt bleiben die gegenseitige Achtung, das Vertrauen und die Freundschaft zwischen dem französischen und dem deutschen Volk.
Anmerkung
Quelle: De Gaulle, Charles: „Rede an die deutsche Jugend“, in: Deutsch-Franzosisches Institut (Hrsg.): Über die Freundschaft hinaus. Deutsch-französische Beziehungen ohne Illusionen, Stuttgart 1988, S 64-66.