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Neue Solidarität
Nr. 30, 25. Juli 2012

Eine Reise nach Tschernobyl

Christopher Lewis berichtet von einer Reise zum Kernkraftwerk Tschernobyl im Norden der Ukraine.

Das (nach der nächstgelegenen Kreisstadt benannte) Kernkraftwerk Tschernobyl liegt etwa 120 km entfernt von der ukrainischen Hauptstadt Kiew.

Auf der zweistündigen Busfahrt von Kiew nach Tschernobyl ist man beeindruckt, wie dünn das Land besiedelt ist. Die Ukraine ist etwa zweimal so groß wie die Bundesrepublik, die Bevölkerung ist aber nur halb so groß, also etwa 45 Millionen.

30 Kilometer vor dem Kraftwerk ist der erste Kontrollpunkt. Hier muß man den Paß vorzeigen, den man zuvor schon bei der Behörde registrieren lassen mußte. Die Hintergrundstrahlung an dieser Stelle entspricht der Hälfte des in Deutschland üblichen Durchschnittswerts. Es ist erlaubt, innerhalb dieser Zone zu wohnen und zu arbeiten, und einige Menschen tun das.

Der nächste Kontrollpunkt ist 10 Kilometer vor dem Kraftwerk. Die Stadt Tschernobyl, die im 12. Jahrhundert gegründet wurde, liegt knapp vor dieser Zone und ist heute nur dünn besiedelt. Die Straßen wirken normal und sehr ordentlich, sind aber weitgehend leer.

Der nächste Kontrollpunkt kommt nach weiteren zehn Kilometern. Hier beginnt ein Abschnitt, in dem niemand leben darf; aber 3000 Arbeiter arbeiten hier seit 22 Jahren, ohne daß ihre Gesundheit darunter gelitten hätte. In drei Kilometern Abstand vom Reaktor liegt die Stadt Prypjat, benannt nach dem nahe gelegenen Fluß. Auch hier ist die Strahlungsstärke nicht höher als im weltweiten Durchschnitt.

Zur Zeit des Unfalls lebten in der Stadt 45.000 Menschen mit einem Durchschnittsalter von 26 Jahren und mit 1000 Geburten pro Jahr. Von diesen 45.000 Bewohnern arbeiteten 3000 auf dem Gelände des Reaktors. Viele von ihnen arbeiten auch heute noch dort. Sie leben heute in der neu gegründeten Stadt, die außerhalb der 30-Kilometer-Zone errichtet wurde. Die Arbeiter fahren täglich mit der Bahn.

Wenn man durch das verlassene Prypjat geht, hat man das Gefühl, in einer Geisterstadt zu sein. Am Tag nach dem Unfall wurde die Stadt evakuiert, aber nicht aus Furcht vor der Strahlung, sondern aus Angst vor einer weiteren Explosion, die durch erhitztes Wasser hätte verursacht werden können (Wasser, das zum Löschen des Feuers benutzt worden war). Das Abschalten der drei anderen Reaktoren und ein Baustop von zwei weiteren Reaktoren und das Verlassen der Stadt wären nicht nötig gewesen. Es geschah trotzdem, unter dem Druck von Westeuropa und besonders von Deutschland.

Wenn man an dem Kraftwerk selbst ankommt, hat man den überwältigenden Eindruck einer gigantischen Einrichtung. Auf dem Gelände stehen vier 1000-Megawatt-Reaktoren, von denen Nummer 4 durch den Unfall zerstört wurde. Zwei weitere Reaktoren sind riesige Bauruinen. (Zum Vergleich: Auf dem Gelände von Biblis am Rhein stehen zwei 1200 MW Reaktoren.)

Es muß betont werden, daß die Ukraine ein sehr unterentwickeltes Land ist, vor allem in der nördlichen Hälfte. Deshalb war dieses große Infrastrukturprojekt extrem wichtig für die Entwicklung des Landes.

Die Anstrengungen, das Desaster des Reaktorunfalls in den Griff zu bekommen, waren heroisch und ganz enorm. 3000 Bergleute gruben innerhalb eines Monats mit Schaufeln einen Tunnel unter den Reaktor, um dadurch sicherzustellen, daß das Grundwasser vor der Verseuchung durch den Reaktor geschützt war. 300.000 Soldaten übernahmen unter extrem schwierigen Bedingungen die Reinigung. Wegen der hohen radioaktiven Strahlung waren einige, die besonders nah am Zentrum waren, jeweils nur wenige Minuten im Einsatz. Weitere 300.000 Zivilisten waren ebenfalls an den Anstrengungen beteiligt, und natürlich waren auch die Arbeiter des Kernkraftwerks während der gesamten Zeit im Einsatz.

Im Gegensatz zu den wilden Behauptungen von Greenpeace gibt es keine Beweise für irgendwelche Gesundheitsprobleme dieser 600.000 Menschen. Von den 134 Feuerwehrleuten, die der höchsten Dosis an Radioaktivität ausgesetzt waren, starben 50 (und nicht mehr, wie vielfach behauptet wird). Von Gesundheitsproblemen ist festzustellen, daß 6000 Fälle von Schilddrüsenkrebs festgestellt wurden, von denen 15 Fälle tödlich verliefen. Dies sind Zahlen, die vom Wissenschaftlichen Ausschuß der Vereinten Nationen für die Strahlenschäden erarbeitet wurden, und das sind die einzigen zuverlässigen wissenschaftlichen Zahlen.

Das vorrangige gesundheitliche Problem sind psychosomatische Krankheiten, Drogen und Alkoholismus.

Ein anderes Problem sind die Milliarden von Dollar, die für unsinnige und unnötige Projekte und Maßnahmen gespendet wurden. Es gibt wahrscheinlich keinen guten Grund, warum die Reaktoren heute keine Energie produzieren sollten. Die Ukraine ist kein reiches Land, und nur durch preiswerte und zuverlässige Energie kann es sich entwickeln.

Christopher Lewis