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Von Claudio Celani
Wenn heute von einem „Marshallplan“ für Südeuropa die Rede ist, denkt man sofort an den ursprünglichen Marshallplan der Nachkriegszeit, über den die dringend benötigten Kredite für den Wiederaufbau Europas beschafft wurden, obwohl er nur ein schwacher Abglanz von US-Präsident Franklin Roosevelts tatsächlichen Wiederaufbauplänen war. Italien verdankt seinen Neuanfang diesen Geldern, aber auch der Umsicht seiner damaligen herrschenden Klasse, die eine Politik in der besten Tradition von Roosevelts New Deal betrieb.
Der 1950 eingerichtete Fonds für die Entwicklung Süditaliens (Cassa per il Mezzogiorno) war auf europäischer Ebene wahrscheinlich die Einrichtung, die dem New Deal am nächsten kam. Die Cassa ist noch heute das Vorbild für die Entwicklung Süditaliens und anderer unterentwickelter Gegenden des Mittelmeerraums.
Italiens Mezzogiorno mit einer Bevölkerung von 20 Mio. Menschen umfaßt die Regionen Molise, Kampanien, Basilikata, Apulien, Kalabrien sowie die Inseln Sizilien und Sardinien.
Zwischen 1950 und 1965 gab es dort eine anhaltend starke Wirtschaftsentwicklung, die im weiteren Verlauf bis 1975 immer mehr nachließ und dann ganz abbrach. Eigentlich könnte Italien heute die höchste Produktivität in Europa haben, denn der Norden Italiens ist genauso produktiv wie Deutschland, aber der Süden ist genau um ein Viertel weniger produktiv als der Norden. Entsprechend liegt die Arbeitslosigkeit im Norden bei über 10%, im Mezzogiorno aber bei mehr als 25%. Die Wiedergeburt des Mezzogiorno wäre deshalb gleichbedeutend mit einer Wiedergeburt Italiens.
Die historischen Gründe für die Rückständigkeit des Mezzogiorno liegen in den vielen Jahrhunderten der Fremdherrschaft, angefangen mit Byzanz und dann der normannischen, der französischen und zuletzt der schrecklichen spanischen Besatzung. Die spanischen Habsburger und ihre bourbonischen Nachfolger waren die schlimmsten Kolonialherren in der Geschichte; sie plünderten und beuteten alles rücksichtslos aus und hielten die Bevölkerung in einem Zustand der Knechtschaft.
Die Herrschaft der Bourbonen und der britische Einfluß in der nachnapoleonischen Zeit begünstigten den Aufstieg der Mafia, zunächst als eine Art Privatpolizei des Landadels und später als Werkzeug terroristischer Destabilisierung. (Heute ist die Mafia ein gewaltiges Hindernis für die Entwicklung Süditaliens, aber die EU-Marionettenregierung von Mario Monti tut genau das Falsche. Monti kürzt die Gelder für die Strafverfolgungsbehörden, obwohl sie in Süditalien eigentlich verdoppelt werden müßten.)
Dank der Cassa begann im Mezzogiorno ein beispielloser Aufschwung, so daß in dem Jahrzehnt von 1950 bis 1960 das Einkommen der Haushalte im Süden zum ersten Mal genauso schnell stieg wie das der Haushalte im Norden.
Privaten Landbesitz von unabhängigen landwirtschaftlichen Familienbetrieben gab es in Süditalien erst seit 1950, im Zuge von De Gasparis1 Landreform, in der 30% des Großgrundbesitzes an die Bauern verteilt wurde. Die Cassa war ausschlaggebend dafür, daß diese neuen Bauern Kredite für Ertragssteigerung, Bewässerung, Saatgut, Landmaschinen, Viehzucht usw. bekamen.
Ergänzt wurde diese Rolle der Cassa in dem Jahrzehnt von 1950-60 durch den staatlichen Mischkonzern IRI beim Bau von Infrastruktur und Industrieanlagen in ganz Italien, sowie die staatliche Ölgesellschaft ENI (Ente Nazionale Idrocarburi) bei der Bereitstellung billiger Energie, nachdem man in der nördlichen Po-Ebene große Gaslager entdeckt hatte. Das stetige Wachstum von 7% jährlich nannte man genauso wie in Deutschland das „Wirtschaftswunder“; die Inflation wurde abgebaut und war kurzzeitig sogar negativ. Die Lira war für ihre Stabilität bekannt. 1959 wurde die Vollbeschäftigung erreicht.
Als sich die Funktion der Cassa 1975 abrupt verminderte, weil dezentrale Regionalregierungen eingeführt wurden, denen man die Zuständigkeit für langfristige Investitionen übertrug, hatte die Cassa per il Mezzogiorno 2 Mio. Hektar bewässertes Land geschaffen, 62 Staudämme, 52 Hauptwasserleitungen und zahllose Klärwerke gebaut, 20.000 km Straße erneuert, 6000 km neue Straßen gebaut, Bahnstrecken elektrifiziert und zahlreiche Industriezentren gegründet. Dennoch war die Arbeit erst zur Hälfte getan.
Nach dem Vorbild der berühmten Tennessee Valley Authority (TVA) und den New-Deal-Projekten für das ganze Appalachengebiet in den USA wurde die Cassa mit beispielloser technischer Kompetenz und außergewöhnlichen Befugnissen ausgestattet. Sie erhielt die Mittel zur Finanzierung eines Zehnjahresplans, der nach Zustimmung eines besonderen Regierungsausschusses - bestehend aus dem Minister für das Mezzogiorno und den Ministern für Finanzen, Wirtschaft, öffentliche Bauten und Arbeit - von der Cassa selbst entworfen und ausgeführt wurde.
Über die langfristigen Projekte hinaus, die die Cassa-Verantwortlichen in einer integrierten Vorgehensweise planten, konnten entsprechend der sich verändernden Lage jährlich weitere Projekte hinzugenommen werden. Die Struktur der Cassa ermöglichte es, für ein bestimmtes Projekt vorgesehene Gelder auf ein anderes Projekt zu übertragen, wenn sich die Prioritäten im weiteren Verlauf änderten. Die örtlichen Behörden mußten mit der Cassa zusammenarbeiten und ihren Sachverstand einbringen. Wie der langjährige Cassa-Präsident Gabriele Pescatore häufig sagte, war es das Ziel der Cassa „ein sich selbsttragender Prozeß der Kapitalakkumulation“.
Die von oben verfügte Regionalisierung bedeutete dann die Verlagerung weg von der einheitlichen, integrierten Vorgehensweise bei der Infrastrukturentwicklung hin zu lokalen Zuständigkeiten und Ansichten. Die Vision für den gesamten Mezzogiorno verschwand, und der frühere zentral gesteuerte Entwicklungsprozeß verkam zu Lokalismus und Klüngelwirtschaft.
Wenn wir eine Wiedergeburt des südlichen Italiens und einen Motor für die gesamte italienische Wirtschaft und für den gesamten Mittelmeerraum wollen, muß der ursprüngliche Ansatz der Cassa per il Mezzogiorno heute wieder aufgegriffen werden,
Um eine Renaissance für den Mezzogiorno zu entwerfen, muß man sich dessen geographische Lage im Zentrum des Mittelmeerraums vor Augen führen und an eine mögliche Landverbindung von Mitteleuropa durch die italienische Halbinsel bis nach Afrika denken.
Italien erstreckt sich vom Nordosten bis zu seinem südlichsten Punkt, der Insel Lampedusa, über 1291 km wie eine natürliche „Brücke“ zwischen Nordafrika und Mitteleuropa. Zur Küste Tunesiens sind es 140 km und zur Küste Albaniens nur 40 km Entfernung. Es gibt Projekte, zumindest eine dieser beiden Strecken durch einen Tunnel miteinander zu verbinden.2
Italien ist das einzige Land in „Südeuropa“, das über eigene Industriekapazitäten verfügt, mit denen Kapitalgüter nicht nur für den eigenen Bedarf, sondern auch für andere Länder hergestellt werden können. Italien hat nach Deutschland den zweitgrößten produzierenden Industriesektor Europas. Die Schwierigkeit liegt darin, daß fast die gesamte Industrie im Norditalien, teilweise noch in Mittelitalien konzentriert ist, der Süden aber unterentwickelt ist.
Italiens Industriepotential wird dadurch blockiert, daß das Land seine Souveränität verloren hat. Das Eurosystem untersagt die Vergabe von Krediten für Entwicklung und zwingt die Industrie, die Produktion ins Ausland zu verlagern. Diese beiden Probleme müssen durch die Wiederherstellung der Souveränität über Geld und Kredit sowie durch Maßnahmen zum Schutz des Handels überwunden werden.
Dann kann Italien zu den Rooseveltschen Methoden des Wiederaufbaus nach dem Krieg zurückkehren und sein ungeheures wissenschaftliches und industrielles Potential einsetzen, um die südliche Landeshälfte zu entwickeln und auch seine Nachbarn in Griechenland, Spanien, Portugal und Nordafrika entwickeln zu helfen.
Wenn sie ihre Kapazitäten in den Mezzogiorno ausdehnt, wird die norditalienische Industrie den besonderen Vorzug genießen, näher als alle ihre Konkurrenten an ihren Exportmärkten zu sein. Italiens Mezzogiorno muß zum Produktionsstandort von Kapitalgütern für den Eigenbedarf und für den gesamten Mittelmeerraum werden.
Als in den fünfziger Jahren in Nordafrika und dem Nahen Osten noch die Kolonialinteressen Großbritanniens, Frankreichs und Belgiens herrschten, entwickelte Italien mit den Ländern in diesem Teil der Welt eine unabhängige Politik freundschaftlicher Zusammenarbeit, und dazu trug vor allem die Arbeit des großen Industriellen und Politikers Enrico Mattei bei. Während die anglo-französischen Kolonialherren nur die Rohstoffe ausbeuteten und wenig an Gegenleistung anboten, ließ Mattei den Entwicklungsländern nicht nur das größte Stück vom Kuchen, sondern setzte sich auch für die Ausbildung der Arbeitskräfte vor Ort ein, damit sie an dem Industrialisierungsprozeß teilhaben könnten.
Als Führer des antifaschistischen Widerstands wurde Mattei nach dem Krieg die Aufgabe zugewiesen, den staatlichen Ölkonzern Agip zu liquidieren. Mattei erkannte jedoch, daß Italien, ein Land mit wenig Rohstoffen, mit Hilfe von Agip energieunabhängig werden könnte. Er mißachtete deshalb die Anweisungen, und anstatt Agip zu liquidieren, gab er vor, in der nördlichen Po-Ebene große Ölvorkommen entdeckt zu haben, und er setzte mit Rückendeckung von Ministerpräsident Alcide De Gaspari durch, daß aus Agip ein mächtiges Werkzeug für Entwicklung wurde.
Mattei drängte die Regierung, Agip landesweite Konzessionen zu gewähren und alle ausländischen Ölkonzerne aus Italien fernzuhalten. Er fand zwar kein Öl, aber genügend Erdgas, das den industriellen Aufschwung mit billiger Energie unterstützte. Innerhalb weniger Monate baute Agips Schwesterfirma Snam in Norditalien ein dichtes Netz von Gasleitungen, um alle Haushalte mit Erdgas zu versorgen.
Als er erkannte, daß die hohen Düngemittelpreise, die auf einer Kartellabsprache zwischen privaten Produzenten basierten, die Entwicklung der italienischen Landwirtschaft behinderten, errichtete Mattei in Ravenna kurzerhand eine große Anlage zur Produktion von Düngemitteln, verkaufte diese billig und zwang so das Kartell, ebenfalls die Preise zu senken.
1953 formte Mattei den Mischkonzern ENI (Ente Nazionale Idrocarburi) und begann eine internationale Offensive gegen die „Sieben Schwestern“ - so nannte er die sieben Konzerne des mächtigen internationalen Ölkartells. Abgesehen von Esso, das Öl in Saudi-Arabien förderte, waren diese Sieben Schwestern die britischen, französischen und holländischen Konzerne, die im Zuge des berühmten „Red Line Agreement“ von 1928, das im wesentlichen der Aufteilung des Sykes-Picot-Abkommens3 folgte, unter sich die Kontrolle über die ölproduzierenden Länder aufgeteilt hatten.
Die Sieben Schwestern förderten Öl nach der 75:25-Formel: 75% gehörten dem Konzern und nur 25% dem Erzeugerland. Amerikanische Firmen waren großzügiger: 50:50. Mattei seinerseits bot eine 25:75-Formel an: 25% für ENI und 75% für das Erzeugerland. Außerdem stellte Mattei ein Entwicklungspaket in Aussicht: Beschäftigung der einheimischen Arbeitskräfte, Weiterbildung und Infrastruktureinrichtungen.
Matteis erster Vertrag mit Persien (Iran) war eher symbolisch, signalisierte aber eine Wende. Er schloß dann Abkommen mit Libyen, Tunesien, Libanon und Marokko. Wirtschaftlich waren sie für die Partnerländer natürlich bei weitem am attraktivsten, die Gegenseite konnte sie höchstens politisch stoppen. So wurden in mehreren Fällen die Verträge annulliert, nachdem Regierungen gestürzt worden waren. Mattei schloß umfangreiche Handelsverträge mit Rußland sowie mit Ägypten unter Gamal Abdul Nasser; auch mit China kam er ins Gespräch. Unter der Präsidentschaft J.F. Kennedys ermöglichte die neue Lage in den USA 1962 ein Abkommen mit den amerikanischen Ölgesellschaften, außerdem unterzeichnete Mattei einen Geheimvertrag mit der neuen irakischen Regierung, wodurch er der Hauptpartner des staatlichen Ölkonsortiums mit Konzessionen für die größten Ölfelder wurde. Das britische Außenministerium erachtete dies zum „Casus belli“.
Kurz bevor er in die USA reisen und mit Präsident Kennedy zusammentreffen wollte, wurde Mattei umgebracht, als eine im Fahrwerk seines Privatjets plazierte Bombe explodierte. Seine Nachfolger und weitgehend auch die späteren italienischen Regierungen führten jedoch seine Politik fort, bis 1992 das gesamte politische System durch den Putsch zur Vorbereitung der Euro-Politik aus den Angeln gehoben wurde.
Mattei hat ein Bild des modernen Italiens geschaffen, das noch heute in vielen afrikanischen und asiatischen Ländern nachklingt. Seine Politik fand nachdrückliche Unterstützung bei Staatspräsident Giovanni Gronchi und bei Ministerpräsidenten wie Amintore Fanfani und Aldo Moro. ENI war die Visitenkarte eines modernen, antikolonialistischen Italiens und war der Wegbereiter des mächtigen Staatskonzerns IRI, der in der ganzen Welt Staudämme, Straßen und Schienenwege baute. Eine Ingenieurfirma der IRI-Gruppe, Bonifica, entwickelte den ambitionierten Plan für die Entwicklung Zentralafrikas, der unter dem Namen „Transaqua“ bekannt wurde.
Dieses von Mattei geschaffene Bild des modernen Italiens ist nicht tot, obwohl die Regierungen seit Anfang dieses Jahrhunderts fast alle seine Konzepte aufgegeben, nationale Schwergewichte wie ENI verkauft und sich die vom Britischen Empire diktierte neokolonialistische Politik des „Regimewechsels“ zueigen gemacht haben. Dieser Kurs muß zugunsten einer neuen Matteischen Politik für die Entwicklung Nordafrikas und des Nahen Ostens aufgegeben werden: Man muß diesen Ländern Kredite geben, damit sie Kapitalgüter kaufen können - und zwar im Mezzogiorno produzierte.
Wenn Italien zu einer Entwicklungsorientierung zurückfinden soll, muß das Land mit einer Besatzungsmacht fertigwerden: der Umweltbewegung. Seit 1987 haben Umweltschützer mehr als zwei Jahrzehnte lang den Bau großer Infrastrukturprojekte verhindert und eine wissenschafts- und technikfeindliche Psychose in der Bevölkerung induziert. Ein Versuch der Zentralregierung, dies 2001 mit einem Gesetz, dem „Legge Obiettivo“, zu umgehen, welches die Zustimmung örtlicher Behörden für verschiedene strategische Infrastrukturprojekte nicht mehr zwingend erfordert, war nur teilweise erfolgreich. Ein wirtschaftliches Wiederaufbauprogramm für Italien erfordert daher einen Feldzug gegen die von London gesteuerte Besatzungsmacht namens Umweltbewegung. Dieser Feldzug muß sowohl auf kultureller Ebene geführt werden, indem in der Bevölkerung wieder ein Kulturoptimismus erweckt wird und die hohen Werte der italienischen Renaissance wiederbelebt werden, als auch auf politischer Ebene, indem die ausländischen Geheimdienstnetzwerke hinter den grünen Aktivisten aufgedeckt und unschädlich gemacht werden.
Die folgenden wichtigen Projekte müssen in Angriff genommen werden.
Energie ist der größte Defizitposten in der italienischen Handelsbilanz. Italien importiert 78% seines Energieverbrauchs, sowohl in Form von Strom als auch von Brennstoff für den industriellen und privaten Bereich. 12% des Stroms (43 TWh) kommen aus Frankreich, der Schweiz und Slowenien ins Land. Erdgas macht 66% (230 TWh) der durch importierte Brennstoffe erzeugten Energie aus, Kohle 18% und Öl 16%.
Das führt dazu, daß die Energiepreise für die Produktion im Schnitt um 30% höher liegen als bei den Konkurrenten im Ausland. Um sich am Markt behaupten zu können, sind die italienischen Produzenten deshalb gezwungen, die Arbeitskosten zu drücken. Aus diesem Grund und wegen der hohen Besteuerung (über 50% des Bruttolohns) gehören die Löhne in Italien zu den niedrigsten in Europa.
Diese Situation ist die Folge des italienischen Ausstiegs aus der Kernenergie - dabei war Italien 1966 sogar noch der drittgrößte Betreiber von Kernkraftwerken hinter den USA und Großbritannien. Als 1987 der Ausstiegsbeschluß erfolgte, war das Land in Europa technologisch an der Spitze. Eine Lösung für Italiens Energieprobleme wird nur über ein massives Comeback der Kernenergie möglich sein.
Italiens Nukleartradition geht auf Enrico Fermi zurück, den Konstrukteur des ersten Kernreaktors in Chicago 1942. Enrico Mattei baute in Italien 1958 den ersten kommerziellen Reaktor. Nach der ersten Ölkrise 1973 wurden in Italien vier Kernkraftwerke betrieben, und die Regierung verfolgte Pläne, sechs weitere zu bauen. In einem massiven britisch gelenkten wirtschaftlichen und politischen Feldzug gegen Italien gelang es dem neu entstandenen Umweltmob, das italienische Atomprogramm erst zu bremsen und dann mit Hilfe eines Referendums 1986 unter dem emotionalen Schock des Tschernobyl-Unfalls völlig einzustellen.
Als die Regierung eine Rückkehr zur Kernenergie plante und acht neue Reaktoren bauen wollte, um einen Kernkraftanteil von 25% zu erreichen, organisierten die gleichen Kräfte 2011 ein weiteres Referendum. Das Schicksal fügte es, daß das Referendum mit dem Unglück im japanischen Fukushima infolge des Tsunami vom Februar 2011 zusammenfiel. Die sofort einsetzende Goebbelsche Medienpropaganda führte zu einem weiteren Votum gegen die Kernenergie, und das Nuklearprogramm wurde endgültig eingestellt.
Häufige Volksabstimmungen als Form der direkten Demokratie sind eines von vielen Elementen, mit denen das italienische Regierungssystem korrumpiert wurde. Dies geht bereits auf die unmittelbare Nachkriegszeit zurück, als die britischen alliierten Kreise darauf bestanden, in das italienische Verfassungssystem Schwachstellen wie die reine parlamentarische Demokratie, Dezentralisierung der Macht und Volksabstimmungen einzubauen. Als Folge davon kann in Italien heute kaum noch irgend etwas gebaut werden, da selbst die kleinste Gemeindeverwaltung ein unverhältnismäßiges Einspruchsrecht hat. Dieses System muß dringend korrigiert werden, indem man nicht nur die Gesetze, sondern vor allem die kulturelle Einstellung ändert: Erforderlich ist eine Rückkehr zu den Prinzipien des Westfälischen Friedens und zu einem klassischen Bildungswesen, das verantwortungsbewußte Bürger heranbildet.
Neue Kernkraftwerke müßten vor allem in Süditalien gebaut werden, und zwar eines in jeder Region: Kampanien, Basilicata, Apulien, Kalabrien, Sizilien und Sardinien. Mit einer Mischung aus EPRs (Europäischen Druckwasserreaktoren) und HTRs (Hochtemperaturreaktoren) ließen sich in einer ersten Runde mindestens 10 Gigawatt erzeugen. Zum Schutz vor Erdbeben und aus anderen Gründen sollten in einigen Fällen die Reaktoren auf schwimmenden Plattformen vor der Küste installiert werden. Gleichzeitig könnten vier Kernkraftwerke in Mittel- und Norditalien entstehen - in Trino Vercellese, Latina, Caorso und Montalto di Castro, den Standorten der alten Anlagen -, mit einer Gesamtkapazität von etwa 16 Gigawatt (16.000 MW). In einer zweiten Phase könnte diese Kapazität verdoppelt werden.
Auch wenn die italienische Industrie seit dem Kernkraftmoratorium 1987 keine nuklearen Anlagen mehr gebaut hat, waren Firmen wie ENEL, ENI und Ansaldo (Finmeccanica Group) an internationalen Konsortien beteiligt, so daß ihr Know-how erhalten geblieben ist. Italien könnte daher wieder mit dem Export von Kerntechnik beginnen, sobald die erste Phase dieses Nuklearprogramms abgeschlossen ist.
Eine Revolution im Frachtverkehr ist für Italien unabdingbar und wird die Produktivität deutlich steigern. Derzeit transportiert man nur 10% der Handelsgüter auf der Schiene, 0,1% auf Lastkähnen und 0,6% auf Küstenschiffen, obwohl Italien eine 7750 km lange Küste hat. Der gesamte Rest wird mit einer riesigen Verschwendung von Benzin und Reifen auf den völlig überlasteten Straßen bewegt. Das produzierende Gewerbe benutzt nicht die Bahn, weil sie langsam und ineffektiv ist. Ein Container braucht weniger Zeit für die Strecke Mailand-Berlin als zwischen Palermo und Rom. Eine erste Anstrengung, dies zu ändern, erfordert einen Ausbau des Schienennetzes, um den Bahntransport schneller und effizienter zu machen.
In Italien werden derzeit drei Transeuropäische Korridore für den Schnellbahnverkehr fertiggestellt, womit die meisten italienischen Großstädte miteinander verbunden werden: Korridor 6 (Lyon-Kiew), Korridor 1 (Berlin-Palermo) und Korridor 24 (Genua-Rotterdam). Der Abschnitt Mailand-Salerno von Korridor 1 (Karte 1), der zwischen Bologna, Florenz und den Apenninen beim Bau von 73 km Tunnel einen großen technischen Aufwand erforderte, ist bereits in Betrieb. Der Abschnitt Turin-Venedig von Korridor 6 ist fertiggestellt. Der Abschnitt Mailand-Genua von Korridor 24 ist im Bau (Karte 2).
Gegen die italienischen Abschnitte der Korridore 6 und 24 leisten Umweltgruppen oftmals gewalttätigen Widerstand und werden dabei von den Medien unterstützt. Die grüne Mobilisierung gegen den Abschnitt Turin-Lyon, der einen neuen, 57 km langen Tunnel unter den Alpen erfordert, ist zu gewalttätigen Anschlägen gegen die Polizei und die Baustrecke eskaliert (Karte 3). Kürzlich hat die Staatsanwaltschaft in Turin 24 Anführer der Unruhen festgenommen, wobei sich herausstellte, daß zwei von ihnen frühere Mitglieder der terroristischen Roten Brigaden waren.
Dieselben Gruppen bekämpfen auch das Schnellbahnprojekt Genua-Mailand.
Doch selbst nach ihrer Fertigstellung werden diese drei Bahnstrecken nicht ausreichen. Italien hat 55,4 km Bahnstrecke pro 1000 km2, nur etwas mehr als die Hälfte der Dichte in Deutschland (94,5 km). Bezogen auf die Bevölkerung hat Italien 238 km Bahnstrecke pro 1 Million Einwohner verglichen mit 481 km in Frankreich und 412 km in Deutschland. Auf Hochgeschwindigkeitsbahnstrecken fallen in Italien derzeit 13 km pro 1 Million Einwohner, verglichen mit 16 in Deutschland, 30 in Frankreich und 35 in Spanien. Bei den konventionellen Strecken sind außerdem nur die Hälfte der insgesamt 22.935 Streckenkilometer elektrifiziert, und 9213 km sind eingleisig, beispielsweise die meisten Strecken auf Sizilien.
Was aus diesen von der staatlichen Bahngesellschaft veröffentlichten Zahlen nicht hervorgeht, ist, daß ein Großteil der Nebenstrecken ziemlich heruntergekommen sind. Das betrifft vor allem Verbindungen zwischen kleineren Regionalzentren sowie Strecken, die vor allem von Pendlern benutzt werden. Um das italienische Bahnnetz zu modernisieren, müssen deshalb die eingleisigen Strecken doppelgleisig ausgebaut, die zweite Hälfte des bestehenden Netzes elektrifiziert und das Gesamtnetz landesweit verdoppelt werden.
Im Mezzogiorno müssen das Bahnnetz in der Länge vervierfacht und die Schnellbahnstrecken über die heutige südliche Endstation Salerno hinaus bis zur „Stiefelspitze“ und über die zukünftige Messinabrücke bis Palermo verlängert werden.
Von Palermo muß die Strecke bis zu der Kleinstadt Pizzolato in der Provinz Trapani ausgebaut werden, von wo ein Unterseetunnel nach Capo Bon in Tunesien führen wird.
Die Brücke über die Straße von Messina ist eine große technische Herausforderung. Mit 3,3 km wird sie die längste Einfeld-Hängebrücke der Welt sein (Karte 4).
Die Brücke wird die beiden Städte Messina und Reggio di Calabria miteinander verbinden, wodurch ein städtischer Ballungsraum von über 2 Mio. Menschen entsteht. Dieses urbane Zentrum wird durch die Schnellbahnstrecke an Mittel- und Norditalien und weiter an Mitteleuropa sowie über die südliche Weiterführung und den Sizilien-Tunesien-Tunnel an Afrika angebunden sein.
Zu diesem Ballungsraum gehört auf kalabrischer Seite der Tiefseehafen Gioia Tauro, der zur Hauptanlaufstelle für Frachtschiffe werden könnte, die aus dem Suezkanal kommen. Derzeit werden jährlich 30 Mio. Container (TEU) durch das Mittelmeer befördert, wobei weniger als 4 Mio. in Italien und davon 3 Mio. in Gioia Tauro umgeschlagen werden. Mindestens 20 Mio. TEU bewegen sich weiter in Richtung Gibraltar, umfahren die Iberische Halbinsel und werden in Rotterdam entladen, um von dort nach Mitteleuropa zu gelangen. Es wäre sehr viel einfacher, die Fracht in Gioia Tauro zu löschen, auf die Bahn umzuladen und nach Norden zu befördern, doch das ist derzeit wegen der Ineffizienz des Bahntransports nicht vorteilhaft.
Sobald Gioia Tauro besser an die Schiene angebunden ist, was sofort durch den Ausbau der bestehenden Bahnverbindung und dann durch den Bau einer Schnellbahntrasse in Angriff genommen werden könnte, würde es nur 30 Stunden oder weniger dauern, um Fracht bis nach Berlin zu transportieren, was derzeit durch den Umweg über Rotterdam etwa eine Woche in Anspruch nimmt.
Die Schnellbahntrasse muß über die Messina-Brücke bis Palermo und darüber hinaus erweitert werden, so daß Korridor 1 bis nach Afrika führen kann.
Diese Verbindung wird über einen Unterseetunnel nach Tunesien hergestellt, ein Projekt, das von der italienischen Technologiebehörde ENEA geplant wird. Die Entfernung zwischen den beiden Küsten von 155 km würde durch fünf Tunnelröhren überwunden, die jeweils zwischen vier künstlichen, mit dem Aushub der Tunnelröhren aufgeschütteten Inseln verlaufen. In jede Richtung sind zwei Tunnel sowie ein Wartungstunnel vorgesehen.
Der Tunnel bietet eine schnelle Bahnverbindung, um nicht nur aus Italien, sondern aus ganz Europa Kapitalgüter für die Entwicklung Nordafrikas zu exportieren.
Die italienische Eisenbahnindustrie hat in den letzten zwei Jahrzehnten unter der mangelnden Nachfrage infolge der langsamen Schienenmodernisierung gelitten. Fiat hat deswegen bereits seine Tochterfirma Fiat Ferroviaria an die französische Alstom verkauft, so daß Ansaldo-Breda (Finmeccanica Group) die einzige italienische Firma ist, die noch moderne Lokomotiven bauen kann. Wegen roter Zahlen der Firma will die derzeitige Regierung jedoch auch Ansaldo-Breda privatisieren. Ansaldo-Breda produziert das neueste Modell des italienischen Hochgeschwindigkeitszuges ETR-500, der in den achtziger Jahren konstruiert wurde. Kürzlich erhielt aber die neue französisch-italienische Privatfirma NTV die Genehmigung, mit der modernsten (von Alstom gebauten!) Version des TGV, die leistungsstärker als der ETR-500 ist, die italienischen Schnellbahnstrecken zu befahren, und das bedeutet nichts Gutes für die italienischen Hersteller.
Italien könnte diese Art Wettbewerb zu seinen Gunsten umgehen, indem es sich wie China für die Magnetbahn entscheidet. Die Chinesen sicherten sich die Lizenz zum Bau des Transrapid von Siemens unter der Bedingung, daß sie diese Technologie nicht ins Ausland weiterverkaufen.
Italien hat ein sehr schlechtes Binnenschiffahrtsnetz. Praktisch ist nur der Po teilweise schiffbar, mit einem Kanalnetz in der Region Veneto-Emilia Romagna, das noch auf die Zeit der Republik Venedig zurückgeht. Allerdings prüft die Region Lombardei derzeit Pläne, den gesamten Po von der Adriaküste bis nach Mailand schiffbar zu machen.
Gleichzeitig könnte eine große Wasserstraße in nordöstlicher Richtung eröffnet werden, welche die Etsch mit dem Inn verbindet. So entstünde ein Wasserweg von Venedig bis Passau, über den Norditalien Anschluß an das mitteleuropäische Wasserstraßennetz fände. (Karte 5)
Das von der Tirol-Adria AG entwickelte Projekt sieht zwischen dem Inn in Österreich und der Etsch in Italien, die sich einander im flachen Abschnitt auf 70 km nähern, einen unterirdischen Schiffsweg vor. Der Kanaltunnel wäre 78 km lang und so groß, daß Lastschiffe der EU-Schiffsklasse 5 mit einer Breite von 11,40 m von der Donau bis zur Adria fahren können. Das Wasser im Kanaltunnel wird durch Wasserstrahlenantrieb in Strömung versetzt, so daß die Schiffe auf dem Fahrwasser förmlich durch den Kanaltunnel getragen werden und keines eigenen Antriebes bedürfen. So ließe sich auch das Problem der Luftverunreinigung im Kanaltunnel durch die Abgase der Antriebsmotoren lösen. Die Energie für die Pumpanlage wird in Wasserkraftwerken entlang des Inn erzeugt.
Italiens bedeutender Raumfahrtsektor und seine fortgeschrittene Erdbebenforschung lassen sich zu einem starken Wissenschaftsmotor für die italienische Wirtschaft kombinieren.
Die Erdbebenforschung ist in Italien wegen der hohen seismischen Aktivität und einer bereits im 19. Jahrhundert führenden Forschungsschule sehr fortgeschritten. Heute sind die italienischen Methoden zur Erfassung von Erdbebenvorläufern zusammen mit der russischen Schule die besten auf der Welt. Mehrere Gruppen von Physikern und Geologen studieren Erdbebenvorboten und sind dabei, diese in ein Multiparameter-Vorhersagesystem zu integrieren. So erklärte beispielsweise Prof. Pier Francesco Biagi von der Universität Bari, daß ein Netzwerk von 50 Empfängern auf dem Boden und 10 geostationären Satelliten ausreichen würde, um ein System einzurichten, mit dem man Erdbeben der Stärke 6 und stärker 10-15 Tage vor dem Eintreten mit 90%iger Wahrscheinlichkeit voraussagen könnte. Biagi hatte bereits mit Hilfe von GPS-Daten eindrucksvolle Beweise für Vorboten des japanischen Supererdbebens von 2011 gesammelt.
Leider erhalten diese Forschungsprojekte kaum staatliche Unterstützung. Prof. Biagi hat sein System mit von ihm selbst organisierten privaten Geldern finanziert. Das muß sich ändern. Die Erforschung von Erdbebenvorläufern muß im Rahmen einer Politik für die Strategische Verteidigung der Erde in die Weltraumforschung integriert werden.
Dank der Arbeit des Wissenschaftlers Luigi Broglio, Gründer des Instituts für Raumfahrttechnik an der Universität Rom 1956 und Autor des „San-Marco-Programms“, baut Italien bereits seit den sechziger Jahren seine eigenen Satelliten. 1964 brachte Italien als drittes Land auf der Welt nach der Sowjetunion und den USA einen eigenen Satelliten in eine Umlaufbahn. Von einer Startplattform, die am Äquator in internationalen Gewässern des Indischen Ozeans errichtet wurde, startete Italien im Rahmen des „San-Marco-Programms“, das teilweise mit amerikanischen Raketenteilen ausgestattet war, fünf Satelliten ins All.
Seither ist in Italien eine eigene Luftfahrtindustrie entstanden, die heute zu der staatseigenen Finmeccanica gehört. Außerdem wurde 1988 die Italienische Raumfahrtagentur (Agenzia Spaziale Italiana, ASI) gegründet, die u.a. wichtige Komponenten zur Internationalen Raumstation beitrug. Italienische Astronauten sind an vielen ESA-Programmen beteiligt und sind auch bei mehreren Missionen auf dem amerikanischen Spaceshuttle mitgeflogen.
Dank der ASI haben italienische Wissenschaftler in den letzten Jahrzehnten wichtige Erfolge in der Astrophysik und Kosmologie erzielt; so gelangen ihnen grundlegende Schritte zum Verständnis des Phänomens von Gammastrahlenausbrüchen und Gammastrahlenquellen. Die ASI lieferte außerdem wichtige Beiträge für die Weltraumforschung; so stammen von ihr wissenschaftliche Instrumente, die auf NASA- und ESA-Sonden montiert waren, um die Geheimnisse von Mars, Jupiter und Saturn zu ergründen. Die ASI ist an allen für die nächsten Jahre geplanten Weltraummissionen beteiligt.
Auch bei Satelliten ist Italien führend vertreten; so mit dem Cosmo Sky-Med, der derzeit für die Umweltüberwachung verwendet wird, der aber auch für die Erdbebenbeobachtung eingesetzt werden kann.
Die ASI ist auch federführend bei dem europäischen Vega-Projekt, einer Trägerrakete, die eine Nutzlast von 1500 kg in eine niedrige Umlaufbahn transportieren kann, womit sie neben der Ariane 5 und der russischen Sojus derzeit eine der drei weltweit zur Verfügung stehenden Trägerraketen ist.
Die Ressourcen der ASI müssen im Rahmen eines Mond-Mars-Programms und dem Projekt zur Strategischen Verteidigung der Erde mobilisiert werden und können so einen wichtigen wissenschaftlichen Anschub für die zivile Wirtschaft bewirken.
Gleichzeitig müssen alle Gebäude in Italien nach modernsten Erkenntnissen der Erdbebensicherung einer allgemeinen Überprüfung unterzogen werden. Seit kurzem ist zwar gesetzlich vorgeschrieben, neue Gebäude nur noch nach diesen Vorgaben zu errichten, aber für ältere Gebäude gilt das nicht. Außerdem ist Italien reich an antiken Gebäuden, Denkmälern, Kirchen und Palästen, die extrem erdbebenanfällig sind. Zumindest müssen Anstrengungen unternommen werden, wichtige Gebäude wie Schulen, Krankenhäuser und öffentliche Verwaltungen zu sichern. Nach Schätzungen sind dafür mindestens 100 Mrd. Euro erforderlich.
Anmerkungen
1. Alcide De Gasperi (1881-1954) war von 1945 bis 1953 Ministerpräsident Italiens.
2. Siehe Dr. Nino Galloni, „Der Sizilien-Tunesien-Tunnel: Europas Verbindung nach Afrika“, in Neue Solidarität Nr. 44/2007.
3. Das Sykes-Picot-Abkommen von 1916 war ein Geheimpakt zwischen Großbritannien und Frankreich, der die jeweiligen Einflußzonen im früheren Osmanischen Reich regelte.