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Von Ulrike Lillge
Die spektakuläre Ausstellung „Gesichter der Renaissance“ in Berlin, die Mitte November zuende gegangen ist, lädt geradezu dazu ein, sich erneut mit Schillers Vorstellung von ästhetischer Erziehung zu beschäftigen. Der folgende Artikel basiert auf einem Vortrag, den die Autorin auf einer Konferenz des Schiller-Instituts am 27.11.2011 in Frankfurt gehalten hat.
Die kürzlich zuende gegangene Ausstellung im Berliner Bode-Museum „Gesichter der Renaissance - Meisterwerke italienischer Porträtkunst“ bot eine hervorragende Gelegenheit, sich mit einer der Blütezeiten menschlicher Hochkultur auseinanderzusetzen, ihre herausragenden Künstler kennenzulernen und sich einfach an wunderschönen Darstellungen zu erfreuen. Ein besonders gelungener Aspekt war dabei die Gegenüberstellung der Porträtkunst Venedigs und dem völlig entgegengesetzten Menschenbild dieses Systems.
Es bietet sich geradezu an, hierbei Friedrich Schillers „Gesetzbuch für die ästhetische Welt“ als Maßstab zu nehmen und in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen nachzuvollziehen, worin er die Bedeutung der ästhetischen Kunst für den Menschen und unsere Gesellschaft sieht.
Schiller definiert die Schönheit als notwendige Bedingung der Menschheit.
Sein Menschenbild, das in allen 27 Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen deutlich wird, orientiert sich am christlichen und humanistischen Gedankengut:
Die Freiheit sieht Schiller als eine Wirkung der Natur (=Naturprinzip, Naturgesetz), als ein Geschenk der Natur und als Bedingung der Menschheit.
Die schöne Kunst ist Wissenschaft, und wie diese untersteht sie den Gesetzen der Natur. Deshalb ist ihr Wesen eben diese Freiheit, was nicht Gesetzlosigkeit oder Willkür bedeutet, sondern Harmonie von Gesetzen und höchste innere Notwendigkeit.
Die Schönheit ist das Werk der freien Betrachtung, mit ihr treten wir in die Welt der Ideen ein - ohne aber darum die sinnliche Welt zu verlassen, wie bei Erkenntnis der Wahrheit geschieht.
In der schönen Kunst sieht Schiller das Werkzeug für die Veredlung des Charakters des Menschen, eine Voraussetzung für die Verbesserung im Politischen. Denn die schöne Kunst, die ästhetische Kunst stellt die Totalität der menschlichen Natur, ihren moralischen Adel wieder her. Damit meint Schiller, daß die Schönheit die zwei entgegengesetzten Zustände des Menschen verknüpft: das Empfinden und das Denken. Sie stellt in dem angespannten Menschen die Harmonie, im abgespannten Menschen die Energie wieder her - Sinnlichkeit und Vernunft sind also zugleich tätig.
Den ästhetischen Zustand des Menschen sieht Schiller als den fruchtbarsten in Hinsicht auf Erkenntnis und Moralität. Und: Nur aus dem ästhetischen, nicht aber aus dem physischen Zustand kann sich der moralische entwickeln. Denn er (der ästhetische Zustand) faßt das Ganze der Menschheit in sich, da er alle Bedingungen seines Ursprungs und seiner Fortdauer in sich vereinigt. Hier allein fühlen wir uns wie aus der Zeit gerissen. Dieser Zeitbegriff Schillers erinnert nicht nur an Nikolaus von Kues’ Verständnis der „Gleichzeitigkeit der Ewigkeit“, sondern vor allem an LaRouches Definition der physikalischen Raumzeit im Gegensatz zur linearen einfachen „Uhrzeit“.
Schillers Zielvorstellung ist der ästhetische, der moralische Staat, in dem der Mensch aus seinem beschränkten Dasein zu einem unendlichen findet, sein Urteil und seinen Willen zum Urteil der menschlichen Gattung macht: „Soll der Mensch in jedem einzelnen Fall das Vermögen besitzen, sein Urteil und seinen Willen zum Urteil der Gattung zu machen, soll er aus jedem beschränkten Dasein den Durchgang zu einem unendlichen finden, aus jedem abhängigen Zustande zur Selbständigkeit und Freiheit den Aufschwung nehmen können, so muß dafür gesorgt werden, daß er in keinem Momente bloß Individuum sei und bloß dem Naturgesetze diene.“ ... (23. Brief)
Erinnern wir uns an den Anfang der Briefe und an Schillers Kritik seines Zeitalters, in dem es um die „Wiederherstellung der unverlierbaren Rechte“ des Menschen ging (wie sie die Amerikanische Revolution vorgab): „Eine physische Möglichkeit scheint gegeben, das Gesetz auf den Thron zu stellen, den Menschen endlich als Selbstzweck zu ehren und wahre Freiheit zur Grundlage der politischen Verbindung zu machen. Vergebliche Hoffnung! Die moralische Möglichkeit fehlt, und der freigebige Augenblick findet ein unempfängliches Geschlecht.“
An uns liegt es, sagt Schiller, die Totalität in unsrer Natur, welche die Kunst zerstört hat (und wie viele Beispiele dafür findet man erst in der heutigen Zeit!), durch eine höhere Kunst wiederherzustellen.
Mit einem Zitat aus dem 22. Brief möchte Schillers Gedankenwelt wieder verlassen, um anschließend an einigen Beispielen die Ideenwelt der italienischen Renaissance bzw. das System Venedigs vorzustellen.
Schiller schreibt:
„Haben wir uns dem Genuß echter Schönheit hingegeben, so sind wir in einem solchen Augenblick unsrer leidenden und tätigen Kräfte in gleichem Grad Meister, und mit gleicher Leichtigkeit werden wir uns zum Ernst und zum Spiele, zur Ruhe und zur Bewegung, zur Nachgiebigkeit und zum Widerstand, zum abstrakten Denken und zur Anschauung wenden.
Diese hohe Gleichmütigkeit und Freiheit des Geistes, mit Kraft und Rüstigkeit verbunden, ist die Stimmung, in der uns ein echtes Kunstwerk entlassen soll, und es gibt keinen sicheren Probierstein der wahren ästhetischen Güte.“
Die im Berliner Bode-Museum ausgestellten „Gesichter der Renaissance“ umfassen die Zeit des 15. Jahrhunderts.
Der Begriff „Porträt“ leitet sich aus dem Lateinischen „protrahere“ ab - „hervorziehen“, „wieder ans Licht ziehen“, „festhalten“ -, und wird mit dem italienischen Terminus „Ritrarre dalla natura“ - „aus der Natur ziehen“ - in Verbindung gebracht (Leon Battista Alberti „De Pictura“.)
Porträts ziehen das menschliche Aussehen aus der Natur und halten es fest.
Die Forderung an den Künstler war, „den Umrissen der Natur so getreu zu folgen, daß die Bilder dem Betrachter zu leben und zu atmen scheinen.“ Die Natur nachzuahmen, war oberstes Gebot der Antike, und man folgte dem Grundsatz, „nach den ihr innewohnenden Prinzipien und ihrer Vollkommenheit zu streben und nicht zufällige Effekte nachzubilden.“
Weitere Schlüsselfunktionen der Porträtkunst waren die unmittelbare Wiedererkennung und die dauerhafte Erinnerung der dargestellten Person und der mit ihr verbundenen Wertvorstellungen.
Besondere Bedeutung galt in der Renaissance dem Gesicht als „Spiegel“ und „Fenster“ der Seele. Der Mensch wird in seinem individuellen Charakter dargestellt, nicht in seiner idealischen Schönheit. Es soll vermittelt werden, welche Art Mensch er war.
Die Ausstellung präsentierte die Entwicklung der Porträtkunst sehr anschaulich: vom autonomen Porträt - mit lebendigen Gesichtszügen - zur erweiterten räumlichen Darstellung des Menschen in und als Teil der von ihm veränderten Natur bis zu sehr qualitätsvollen Büsten. Dadurch wurde die Methode der Künstler deutlich, immer neue, vielfältigste, spielerische Mittel anzuwenden, mit denen sie eine lebendigere, dynamischere Bewegung in die Wiedergabe der dargestellten Person bringen, und für den Betrachter ein immer neues Überraschungsmoment der Erkenntnis schafft.
Bild 1: Antonio und Piero del Pollaiuolo, Porträt einer Dame. Um 1460-65. Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin.
Bild 2: Desiderio da Settignano, Büste einer jungen Frau (Marietta di Lorenzo Strozzi?) Um 1462. Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin.
Bild 3: Domenico Ghirlandaios Porträt eines alten Mannes mit einem Knabe („Alter Mann mit Enkel“), um 1490, aus dem Département des Peintures, Musée du Louvre, Paris, ist ein beeindruckendes Beispiel des liebevollen Umgangs zweier Menschen entgegengesetzten Alters. Im Vordergrund der Darstellung steht der intensive, vor dem Betrachter bildlich entstehende Dialog und die Wissensungeduld des kleinen Jungen und weniger die realistische Wiedergabe der Hautkrankheit des alten Mannes.
Bilder 4 und 5: Maestro delle Storie del Pane (?), Porträt eines Mannes (Matteo di Sebastiano di Bernardino Gozzadini?) 1494 (?) und Porträt einer Frau (Ginevra d’Antonio Lupari Gozzadini?). 1494 (?), The Metropolitan Museum of Art, New York.
Auf den beiden Bildern, die vielleicht ein zukünftiges Ehepaar darstellen, sind zahlreiche allegorische Darstellungen zu finden, die sich bei genauem Betrachten der Gemälde nach und nach erschließen und die für die Tugenden der beiden Personen stehen.
Die Profile des Mannes und der Frau sind vor eine palastartige Architektur gesetzt, an deren Fassade sich das Familienwappen der Gozzadinis befindet. Durch die dunkel gehaltene Fensteröffnung wird das Profil der Frau betont. Auf dem Fries an der Fassade steht eine lateinische Inschrift: „Damit unsere Abbilder („forma“) (oder Tugenden) überleben.“
Hier wird das historische Verständnis des Menschen vermittelt, wie es Leon Battista Alberti, der 1435 nach Florenz kam, in seinem Aufsatz „Über die Malkunst“ („De Pictura“) beschrieb: „In der Tat, sie (die Malkunst) birgt eine geradezu göttliche Kraft in sich und leistet nicht nur, was man der Freundschaft nachsagt - daß sie Abwesende vergegenwärtigt -, vielmehr stellt sie auch Verstorbene erkennbar vor Augen, sogar noch denen, die viele Jahrhunderte später leben.“
Ähnlich drückte es der Bildhauer und Architekt Filarete aus. Filarete hieß eigentlich Antonio di Pietro Averlino und nannte sich Filarete, was im altgriechischen „Freund der Tugend“ heißt. Als er gefragt wurde, warum er Medaillen in Gebäudefundamente einlasse, war seine Antwort: weil „diese Dinge einmal gefunden werden und man sich dann an uns erinnert und unsere Namen nennt, so wie wir diejenigen nennen, deren würdige Überreste wir durch Grabungen oder in Ruinen finden.“
Bild 6: Leonardo da Vinci, Dame mit dem Hermelin. 1489/90. Czartoryski Museum, Krakau.
Leonardos „Dame mit dem Hermelin“ war natürlich der Höhepunkt der Ausstellung und für mehrere hunderttausend Besucher Grund genug, oft stundenlang auf den Einlaß zu warten.
Gegensätze wie Ruhe und Bewegung erzeugen darin Ironien und Paradoxe und machen die Spannung des Bildes aus, die sich auf den Besucher beim Betrachten übertragen. Offensichtlich tritt eine Person in den Raum, die junge Frau nimmt die veränderte Situation durch eine plötzliche Drehung des Kopfes, nicht des Körpers, wahr. Ihr Gesichtsausdruck ist angespannt und entspannt zugleich, sie lächelt und ist doch ernst, ihr Augenausdruck ist liebevoll und doch zugleich kühl.
Das Hermelin, noch halb auf dem linken Arm ruhend, ist hochgeschreckt. Es schaut gespannt hoch, jedoch in eine andere Richtung als die Frau. In seiner Erregung hält es die linke Vorderpfote hoch, während es sich mit der rechten energisch auf dem Arm der Frau abstützt.
Auffällig ist die sehr in den Vordergrund gestellte und daher überdimensioniert wirkende rechte Hand, mit der die Frau das Tier gehalten hat. Durch die Bewegung des Tieres entsteht ihre lockere Handhaltung nach vorne in Richtung des Betrachters, das Tier könnte somit jederzeit aus der noch ruhigen linken Armstützung springen. Die rechte Hand- und Armstellung und der unterschiedliche Lichteinfall vergrößern die Räumlichkeit des Bildes und betonen die verdrehte Körperhaltung des Mädchens.
Bild 7: Antonio Rizzo, Kopf des Cristoforo Moro. 1462/1464 (?), Museo di Palazzo Ducale, Fondazione Musei Civici, Venedig
Dieser beeindruckende Marmorkopf stellt unzweideutig das System Venedigs dar, und man erinnert sich an Schillers Geisterseher oder die Schlußszene des „Don Carlos“. Der Doge ist mit der charakteristischen Kappe in Form eines Horns, auch corno genannt, abgebildet, die hier wie ein Helm wirkt.
Auffällig insgesamt ist die geringe Zahl weiblicher Bilder. Einige der in der Ausstellung gezeigten verdeutlichen ihre Rolle in der Gesellschaft. Die Ehefrauen der Dogen hatten überhaupt keinen Einfluß. Es ist nur ein einziges Bild von einer „Dogaressa“ des 15. Jahrhunderts bekannt.
Bild 8: Hans Memling, Porträt eines Mannes mit römischer Münze. 1471-1474, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten, Antwerpen.
Memling, aus Seligenstadt am Main stammend, lebte bis 1494 in Brügge.
Der von ihm dargestellte Mann streckt dem Betrachter in seiner linken Hand eine Medaille des Kaisers Nero entgegen. Memling kannte sich offensichtlich aus, und es ist interessant, daß die Veranstalter das Bild in diesen Zusammenhang stellten.
Die venezianische Oligarchie verbot den Künstlern in ihren Porträts jegliche Darstellung von individuellem Charakter oder emotionalem Ausdruck. Und so konnte man in der Ausstellung eine Variationsbreite dieser entpersonifizierten, entmenschlichten Gesichter sehen, wie z.B. bei folgenden Gemälden:
Bild 9: Südniederländischer oder französischer Künstler, Porträt eines Venezianers. Um 1470-1490, Musées de Chateauroux.
Bild 10: Gentile Bellini, Porträt der Caterina Cornaro. Um 1500, Szépmüvészeti Múzeum, Budapest.
Auf der Tafel oben links steht: „Aus dem Geschlecht der Cornelier, trage ich den Namen der Jungfrau, die am Sinai begraben ist. Der Senat von Venedig nennt mich Tochter, und Zypern, der Sitz von neun Königreichen, dient mir. Du siehst, wie bedeutend ich bin, doch größer noch ist die Hand des Gentile Bellini, die mich auf so kleinem Täfelchen wiedergegeben hat.“
Bellini, von dem der Text stammt, stellt sich damit anmaßend über die von ihm gemalte Königin und würdigt sie in frecher Form herab.
Die abgebildete Caterina Cornaro entstammte einem römischen Patriziergeschlecht und wurde mit dem König von Zypern verheiratet, um den Einfluß der Serenissima zu vermehren. Als dieser sowie ihr gemeinsamer Sohn starben, bestieg sie den Königsthron. Weil Zypern für die Seemacht Venedig von strategischem Interesse war, wurde sie gezwungen, auf die Krone zu verzichten, abzudanken und nach Venedig zurückzukehren. Auch aus strategischen Gründen verbot der venezianische Senat ihr eine Wiederheirat.
Die Darstellung ist deutlich, und die Person der Königin brutal und bewußt unvorteilhaft wiedergegeben. Das verwirrende Durcheinander von Schleier und Schmuck suggeriert den Status einer Gefangenen, verstärkt durch das enganliegende Kleid mit kettenpanzerartigem Rautenmuster.
Bild 11: Jacometto (Jacometto Veneziano), Porträt einer Frau (Nonne aus dem Kloster San Secondo?) . Um 1485-1495, The Metropolitan Museum of Art, New York.
Für eine angebliche Nonne ist ihre Kleidung auffällig freizügig. Das Bildchen in Größe eines Hosentaschenformats 10,2 mal 7cm hatte offensichtlich noch eine andere Funktion. Es wird im Katalog als Teil eines verschiebbaren Kastensystems beschrieben, in dem man ihr Bild je nach Bedarf unter einem größeren männlichen Porträt verschwinden lassen konnte.
Nur wer heute die Augen vor der Realität verschließt, erkennt nicht, daß wir schon längst mit den gleichen Strukturen eines modernen venezianischen Systems konfrontiert sind. Die Systemrelevanz der Finanzmärkte will den Menschen zum Untertan degradieren, der angesichts der immer dramatischeren Krise sagt: „Ich kann nichts tun.“ Doch die Lehre aus der Betrachtung dieser Kunstwerke lautet: Die Ideen der für den Menschen naturnotwenigen Errungenschaften wie Schönheit, Wahrheit und Recht sind nicht tot. Und wie Schiller sagt, ist der Mensch das einzige Wesen, das einen freien Willen hat. Deshalb kann es nur ein Fazit geben: Laßt uns für eine humanistische Gesellschaft kämpfen und die Oligarchie ein für allemal besiegen.