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Von David Cabas
Frankreich. David Cabas, der als Kandidat der Solidarité et Progrès in seiner Heimatstadt in der Bretagne bei der Kantonalwahl im Frühjahr 7,5% der Stimmen erhielt, geht der Frage nach, warum die Bevölkerung die schlechten Politiker toleriert.
Wir sind zweifellos in einer Krise angekommen, die wir als Krise der Menschheit bezeichnen können, mit einem globalen Zusammenbruch der Wirtschaft, der Politik und der Kultur. Da wir uns auf einem solchen Weg in die Hölle befinden, frage ich mich oft: Warum finden wir nicht mehr Menschen, die dafür arbeiten, rechtzeitig den Kurs zu ändern, bevor dieser Weg am Ende unser Schicksal besiegelt?
Wir denken, wir agieren so, als seien die einzigen Verantwortlichen dieser existentiellen Krise die politisch Verantwortlichen, gewählt oder nicht. Wie oft hört man: „Die sind zu mächtig, wir können nichts machen, seien wir realistisch...“ Doch selbst wenn ich unsere Politiker betrachte, die so fehlerhaft, lächerlich und ahnungslos sind (und ich werde in der Zukunft die Gelegenheit nutzen, auf einige politische Skandale näher eingehen), ändert das nichts daran, daß ich einen anderen Verantwortlichen in diesem Schlamassel sehe: die Bevölkerung, das Volk, die Bürger!
Seit den späten sechziger Jahren war die Entwicklung einer neuen Kultur zu beobachten: eine Kultur des unmittelbaren Vergnügens, eine Kultur des Egoismus, eine Kultur des Konsums. Diese neue Kultur hat den Geist der Bevölkerung eingekerkert, der in einem Pseudo-Antikonformismus mehr und mehr eingeschlafen ist. Dieser Schlaf hat Ungeheuer hervorgebracht. Unsere jetzige politische Klasse und auch unsere Bevölkerung haben Angst!
Wir haben zweifellos in jeglicher Hinsicht eine korrupte Elite, aber leider muß ich feststellen, daß sich die Bevölkerung längst schlafen gelegt hat.
Diese Krise eröffnet uns eine riesige Chance: Die Not zwingt mehr und mehr Menschen, aufzuwachen und ihr Hirn und ihren Geist anzustrengen, um ihre Umgebung zu verstehen und eine Lösung zu finden.
Mit guten Absichten schlägt uns Etienne Chouard1 als seine Lösung eine Art „Auslosung der Entscheidungsträger“ vor, eine Idee, die vom besten der athenischen Demokratie inspiriert sein soll. Er schlägt das vor, um der Bildung einer politischen und finanziellen Oligarchie entgegenzutreten. Aber ich denke, er hat in seiner Argumentation etwas vergessen. Er vergißt ganz einfach den menschlichen Charakter. Das ist wie bei den Theoretikern des Liberalismus, die uns ein Modell verkauft haben, das garantiert funktionieren soll - aber ohne Menschlichkeit und ohne menschliche Freiheit.
Nachdem ich Etienne Chouards Video gesehen habe, frage ich mich, wie man in einem System, in dem die politisch Verantwortlichen ständig wechseln, die Zeit haben wird, um Projekte in Gang zu setzen, die wirklich die Bevölkerung mobilisieren? Und wie soll man eine Versammlung mit 60 Millionen Franzosen veranstalten?
Und ich bin mir sicher, daß man sogar in seinem System Wege finden würde, den unerwünschten Monsieur Jacques Cheminade auszustoßen. Wo soll da der Fortschritt sein?
Es ist wahr, daß das französische Parlament, das eigentlich das Volk repräsentieren soll, das nicht wirklich tut. Wieviele Frauen, wieviele junge Menschen, wieviele Arbeiter und Angestellte sitzen in der Volksvertretung?
Und ich füge hinzu, daß unsere Institutionen verbessert werden können: zum Beispiel mit einer wirklichen Teilung der Macht der Exekutive, der Legislative und der Judikative. Wir sollten eine Justiz schaffen, die sich nicht der Macht der Politik unterwirft - Volksvertreter haben, die wirklich Möglichkeiten haben, Gesetze vorzuschlagen - die Ämterhäufung in Frage stellen - und warum nicht einen Präsidenten haben, der für seine Politik persönlich verantwortlich gemacht werden kann, mit der Einführung eines neuen Gesetzes zur wirklichen Anwendung von Artikel 68 der Verfassung (der Artikel, der die Amtsenthebung regelt, Red.)? Auch die Finanzierung der Wahlen und des politischen Lebens muß komplett überholt werden. Ebenso muß man gewährleisten, daß die Medien frei und unabhängig geführt sind.
Aber die Institutionen sind nicht alles!
Wir sind in einem großen Moment der Geschichte: Die Bevölkerung überall auf der ganzen Welt erhebt sich in diesem Moment. Wir reden von dem Phänomen, das Rosa Luxemburg als „Massenstreik“ beschrieben hat. Diese jungen Menschen sehnen sich nach einem besseren Leben, nach Mitteln, sich und ihrer Familie in der Zukunft ein Leben in Würde zu sichern. Angesichts dessen sind wir, die Bürger, verantwortlich und dürfen nicht auf unsere politische Elite zählen. Wir müssen ebenso Sorge tragen, nicht in die Fallen unserer Feinde zu tappen, indem wir die falschen Debatten führen oder die Instrumentalisierung der Angst zulassen.
Es gab eine Zeit, da sah man in den Straßen von Rennes Aufkleber mit dem Satz: „Créer c’ést résister“ - schöpferisch sein heißt, sich wehren. Aber außer diesen Aufklebern habe ich nicht viel davon in der Öffentlichkeit gesehen, daß diese politische Schöpfung zum Ausdruck kommt.
Wir müssen unsere Fähigkeiten und unser Potential zum Widerstand mehren, ohne daß uns das Negative der französischen Kultur, das uns während der Französischen Revolution in Haß und blutige Rache trieb, dabei in die Quere kommt.
Die menschliche Kreativität ist entscheidend, um sich gegen den Pessimismus zu stellen und das Bewußtsein wiederzuerlangen, daß wir mit unserem Potential die Welt um uns und unser Gesellschaftssystem verbessern können. Das ist auch der Grund, warum ich beständig in meinen Schriften eine wirkliche Renaissance fordere, mit einer großen Bewegung für die Bildung der Bürger, um allen den Zugang zum besten von Künsten und Wissenschaften zu ermöglichen.
Um Euch dazu zu inspirieren, selbst tätig zu werden, lade ich Euch ein, die Originaltexte von Menschen wie Friedrich Schiller, Jean Jaurès oder die Kriegsmemoiren von Charles de Gaulle zu lesen oder nochmals zu studieren… Lassen wir uns von diesen Geistesriesen auf die Schultern nehmen, um heute selbst Führung zu werden und den Gang unserer Geschichte zum besseren zu wenden.
Anmerkung
1. Etienne Chouard ist ein französischer Aktivist, der in Frankreich eine Kampagne gegen die EU-Verträge mobilisiert hatte.