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Von Antonella Banaudi
Die italienische Opernsängerin und Gesangslehrerin Antonella Banaudi, die auch zu den Unterstützern der von Lyndon LaRouche ins Leben gerufenen Initiative für die wissenschaftliche Stimmung (c’=256 Hz) gehört, hielt am 3. Juli auf der Rüsselsheimer Konferenz des Schiller-Instituts den folgenden Vortrag. Am Abend zuvor hatte sie das Publikum mit Werken von Schumann und Verdi begeistert.
Ich möchte zu Beginn an ein Konzept erinnern, das Percy Bysshe Shelley in seiner Verteidigung der Poesie beschrieben hat: „Dichter... rücken die teilweise Erkenntnis der wirkenden Kräfte der unsichtbaren Welt in eine gewisse Nähe zum Schönen und Wahren... Ein Dichter hat teil am Ewigen, Unendlichen und Einen; was seine Vorstellungen angeht, so existieren weder Zeit noch Ort noch Zahl.“
Als Dante im Jahr 1274 zum ersten Mal Beatrice sah, weckte der Lebensgeist seine Seele durch ästhetische Schönheit - der Dichter Guinizzelli sprach von der menschlichen Form der Weltseele. Für mich als Sängerin, und somit als Musikinstrument, übersetzt sich dies in die Wahrnehmung der Energie des Universums durch den Ton. Dante stellte sich von jenem Moment an in den Dienst der Figur der Seele, und widmete sein Leben drei Dingen, die untrennbar miteinander verbunden sind: Liebe, Imagination und Schönheit.
Er schrieb die Göttliche Komödie, um die Menschen zu bilden, um die Lebenden von dem Elend, in das sie sich stürzen, zu befreien, um den Weg zu weisen, der aus dem Schmerz zur Hoffnung führt, Schritt für Schritt in den Himmel des Lichts und der Musik, bis er selbst zu einer Flöte wird, in welche die universelle Liebe ihre Noten atmet; also zu derselben Kraft, die die ganze Schöpfung durchzieht, die alles durchdringt: die Weltseele, die die Menschenseele nährt.
Unser Leben erfüllt sich nicht als Funktion unseres „Ichs“. Unser „Ich“ wurde geschaffen als Funktion des gesamten Lebens - oder des „Einen“.
Schönheit und Wahrheit zu lehren und zu lernen, ist ein Weg des Forschens für Lehrer und Schüler. Absolute Schönheit und Wahrheit existiert, und jeder von uns hat daran teil, jeweils ausgehend von seinem eigenen Charakter - der oft nicht mit dem übereinstimmt, was wir das „ich“ nennen. Dieser Prozeß des Forschens fördert die eigene Schönheit hervor, die oft größer ist, als wir es uns anfangs vorstellen konnten. Unser künstlerisches Sein stärkt uns und erlaubt es uns als Sänger, sich über die Kunst für den geistigen, aber auch sinnlichen Genuß auszudrücken. Wir werden zu Übermittlern der Schönheit und Wahrheit, damit andere sich ebenfalls daran erbauen können. Das Studieren ist daher ein Prozeß des Kennenlernens des wahren Selbst, das sich hinter dem „Ich“ verbirgt.
Es ist ein Experimentieren, Vorstellen, ein ständiges „Feedback“ zwischen dem Selbst und dem Ich, um sich die eigenen Schöpfungen bewußt zu machen. Oft wirkt die Entdeckung und Ausbildung der eigenen Stimme emanzipierend und befreiend, ein Wechselspiel zwischen Instinkt und Vernunft, Phantasie und Erinnerung, Natur und Technik, die sich gegenseitig nähren. Es gibt viele technische und künstlerische Aspekte dieser Zusammenarbeit zwischen Lehrer und Schüler. Der Schüler darf niemals die Resultate des Lehrers einfach kopieren, sondern muß sich die Prinzipien aneignen.
Wir können nur lernen, was wir bereits wissen, also was wir sind. Gesang (oder eine andere Form der Kunst) zu erlernen, ist ein Akt der Rückgewinnung, des Erinnerns, des Erkennens von dem, was Fleisch geworden ist, als wir geboren wurden.
Nur wenn wir von diesem Punkt ausgehen, können wir Kunst erzeugen und unserer Ewigkeit Leben geben. Es ist schön, wenn die Augen des Schülers zufrieden strahlen, nachdem er erfahren hat, daß man mit Freude Schönes schaffen kann. Kunst zu erschaffen, ist eine Form des Seins - man lernt eine Technik, um etwas über sich selbst zu erfahren.
Wenn wir nun zu einer praktischeren Ebene voranschreiten, würde ich sagen, daß der fundamentale Zweck des Studiums (des Gesangs) der ist, das Zentrum des eigenen Instruments zu finden, die „Position“, die ähnlich wie eine Position im Yoga ein Ergebnis des Gleichgewichts aller Teile und Kräfte des Körpers bzw. des Instruments ist. Beim Singen lernt man, seine innere Wahrnehmung und physische Vorstellung in einer Art dreidimensionaler Projektion - vielleicht sind es sogar vier Dimensionen - zu entwickeln. Wie bei einem virtuellen Spiel nutzt man alle Informationen, die von den inneren Sensoren gesammelt werden, und erzeugt das nächste Bild in der Zeit und in der Zukunft.
Ich vergleiche den Atem oft mit einem Licht- oder Energiestrahl (manchmal auch mit einem Wasserstrahl, auf dem ein Ball tanzt) von veränderlicher Form, Gewicht und Farbe, der von unserem Körper erzeugt und in eine kontrollierte Umgebung projiziert wird; dort benutzt man bewegliche Spiegel, um die Richtung des Strahls zu verändern und sicherzustellen, daß die Musik die nötige Stärke findet, ihre Kraft färbt und mit der Idee des Komponisten verschmilzt. Ich denke, daß an diesem Punkt die Musik automatisch weiß, wie sie mein Instrument nutzen kann, und dies gewissermaßen ganz von alleine tut.
Ich muß sagen, daß ich - dank der Tatsache, daß ich Sängerin bin - Materie und Geist als verschiedene Aspekte derselben Realität betrachte.
Ein weiterer technisch-künstlerischer Aspekt der Beziehung zwischen Lehrer und Schüler ist das Bemühen, nicht von vornherein Vorstellungen über die Stimme zu haben, bzw. darüber, wie sie sein sollte. Wie ich schon zu Beginn sagte, handelt es sich um einen Prozeß der Suche nach der wahren Schönheit. Je mehr wir unser wirkliches Instrument nutzen (das nur bis zur höchsten Stufe ausgebildet werden kann, wenn wir es kennen und seine Natur respektieren), desto mehr werden wir fähig, die schöpferische Kraft des Komponisten zu respektieren, alle Aspekte seiner Absicht zu vermitteln und zu Instrumenten dieser Schöpfung zu werden. Indem wir das vergessen, was wir für unsere Persönlichkeit halten - das, was ich als „Ich“ bezeichne -, finden wir unser „Selbst“, den wahren Künstler, der den Komponisten hören und verstehen kann, um den jeweiligen Charakter zu vermitteln. Wie oft stellen wir während dieses Lernprozesses fest, daß die Schwierigkeiten nicht auf Begrenzungen des Instruments, sondern auf begrenzende geistige und psychologische Haltungen zurückgehen! Deshalb braucht man Anregungen, übertragen in Metaphern, die den Geist dazu veranlassen, das Problem von einem anderen Standpunkt zu betrachten und das gewohnte Verhalten zu ändern. Was man sich nicht vorstellen kann, das kann man auch nicht tun!
Ein weiterer wesentlicher Aspekt des musikalischen Ausdrucks ist die Zeit. Das scheint offensichtlich, ist es aber nicht.
Der Musiker muß der absolute Herrscher sein über die Zeit, in der er oder sie sich ausdrückt, also für die Aufführung leben. Musik äußert sich in der Zeit, aber sie muß über die Zeit hinausreichen und ewig sein. Der Aufführende trägt dafür die praktische Verantwortung. Zeit ist niemals etwas Absolutes, besonders nicht beim Gesang. Es ist niemals die tickende Zeit - dafür sind Uhren da, die allzu „menschlich“ und beschränkend sind.
Emile Cioran hat in einem wunderschönen Buch, „Der Sturz in die Zeit“, die Trennung des Menschen vom Einen beschrieben - das, was wir in der Musik zurückgewinnen wollen.
Um das Problem der Zeit zu überwinden, muß man in jeder Tausendstelsekunde in der Realität des Klangs versunken sein. Das scheint ein Widerspruch zu sein, aber es ist so. Wenn man singt, zählt man nicht! 1, 2,3 und 4 existieren nicht, die Taktstriche existieren nicht. Wir haben in uns einen elektronischen Zähler, der mit sehr hohen Geschwindigkeiten arbeitet, mit Schall- oder Lichtgeschwindigkeit. Wie schnell pflanzt sich ein Nervenreiz fort?
Die Musik besteht also nicht aus Takten, sondern aus Akzenten und Proportionen der Zeiten des Klangs und der Zeiten der Stille, die ebensosehr leben. Vom Beginn eines musikalischen Werks, vom ersten wirklichen Ton an müssen wir das Bild des Ganzen haben, bis nach dem Ende, wie bei einem Strahl, der vom Moment der Schöpfung an in die Zukunft projiziert wird. Vielleicht erzeugt jedes Werk in der Musik die kreative Kraft des ersten Tons neu. Ein Musikstück ist wie eine Zeitmaschine und eine Verlagerung der Realität.
Wenn man die Bühne betritt, um etwas aufzuführen, ist man bereits in einer anderen Dimension, aber ich hatte diese Erfahrung der „Nicht-Zeit“ schon sehr oft, so als sei man von der Realität der Aufführung getrennt, selbst als Charakter. Es gibt lange Momente, in denen wir uns selbst nicht gehören, ein magisches Gefühl, eine fast übernatürliche Wahrnehmung des eigenen Selbst.
Vom ersten Ton an sind wir nicht mehr wir selbst, wie sind eine andere Person, die sich in einer künstlerischen Sprache, einer Ursprache äußert. Wir erschaffen in uns selbst eine andere Persönlichkeit, die wir uns so weit zueigen machen, wie es uns gelingt, uns selbst zu vergessen, wenn wir sie studieren. Wir gewöhnen uns an ein anderes „Ich“, indem wir seine symbolische und bildende Kraft durch die Musik studieren. Jeder Klang, jede Dauer, Intervall, Akzent, Dynamik und Stille, Form, Harmonie und Instrumentierung sind wichtig, um die Absicht des Autors dieser Figur zu verstehen. Es reicht nicht, der Rolle bloß „eine Stimme“ zu geben, wie müssen sie auch in uns selbst aufnehmen. Denn jede Figur ist ein menschliches Symbol, das durch eine ebenso symbolische Sprache, die uns künstlerisch und menschlich bildet, vermittelt wird. Es sind zwei Seiten desselben Wesens.
Den ersten Teil der schriftlichen Dokumentation der Konferenz des Schiller-Instituts finden Sie in der Neuen Solidarität 28/2011, den zweiten Teil mit den Beiträgen über die Notwendigkeit einer Rückkehr zum Glass-Steagall-Trennbankensystem in der Neuen Solidarität 29/2011. In der Neuen Solidarität 30/2011 erschienen Beiträge zur Frage der wissenschaftlichen Methode. Die Beiträge über die Zerstörung der Realwirtschaft durch die derzeitige Politik finden Sie in der Neuen Solidarität 31/2011. In der Neuen Solidarität 32/2011 brachten wir zwei Konferenzbeiträge, die sich mit der Krise in Afrika befaßten, und mit den notwendigen Änderungen der westlichen Politik, sie zu überwinden. Die Video-Mitschnitte der Konferenzbeiträge finden Sie auf der Internet-Seite des Schiller-Instituts.