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Neue Solidarität
Nr. 30, 27. Juli 2011

Das Universum ist kreativ!

Von Sky Shields

Sky Shields, Leiter der „Basement“-Gruppe der LaRouche-Jugendbewegung, eröffnete mit dem folgenden Vortrag die wissenschaftliche Diskussionsrunde auf der Konferenz des internationalen Schiller-Instituts am 2. Juli 2011 in Rüsselsheim.

Ich möchte das Thema unserer jüngsten Serie von Videofilmen aufgreifen, die unter dem Titel „Ist die Vergangenheit unveränderlich?“ auf unserer Webseite erschienen ist. Darin wird eine Frage behandelt, die man am besten als „Ontologie des Geistes“ beschreiben kann.

Das Problem dabei ist, daß es viele verschiedene Vorstellungen davon gibt, die man mit dem Wort „Geist“ in Verbindung bringt. Der gemeinsame Faden, der sich durch alle diese unterschiedlichen Vorstellungen zieht, besagt, daß der Geist etwas ist, was wir besitzen, etwas, was wir in uns erkennen, was sich aber vollständig von dem sogenannten objektiven Universum unterscheidet. Man hat also etwas in sich, das man „Geist“ nennt. Er folgt bestimmten Gesetzmäßigkeiten und Regeln, und es fallen einem bestimmte Wörter ein, die mit ihm im Zusammenhang stehen - Ideen und Konzepte wie Moral und Schönheit. Und bestimmte Prinzipien hält man für definitive Eigenschaften des Geistes, Prinzipien, von denen man aber nicht unbedingt annimmt, daß sie auch im sogenannten „objektiven Universum“ vorkommen. Man vermutet, daß da draußen alles ganz anders ist, vielleicht viel logischer und mit anderen Eigenschaften, die man aber mit Hilfe unseres Geistes beobachten kann.

Bei meinen Ausführungen möchte ich vor allem auf das Werk von Wladimir Wernadskij eingehen und dabei verdeutlichen, daß das, was wir „Geist“ nennen, eine grundlegende ontologische Bedeutung hat. Das heißt, alles, was wir als physikalisches Universum kennen, leitet sich von genau dem gleichen Prozeß ab, den man bei sich selbst als Geist kennt, wie man ihn in sich und in anderen wiederfindet.

Diese Aussage hat eine sehr weitgehende ontologische Bedeutung, denn sie ist die Grundlage für alles, was wir in der Schöpfung sehen. Dabei stellt man auch fest, daß die tatsächlichen wissenschaftlichen Sachverhalte sehr genau mit den Vorstellungen der abrahamitischen Religionen übereinstimmen, wonach der Menschen im Abbild Gottes geschaffen ist. Man kann zeigen, daß dies eine sehr strenge wissenschaftliche Vorstellung ist: Sie ist die Grundlage allen menschlichen Wissens und insbesondere aller wirtschaftlichen Aktivitäten des Menschen im Universum. Die Fähigkeit des Menschen, auf das Universum einzuwirken, basiert auf diesem ontologischen Prinzip des Geistes.

Hierfür möchte ich Sie mit einem Denker bekannt machen, auf den Sie wahrscheinlich schon in verschiedenen Veröffentlichungen der LaRouche-Bewegung gestoßen sind. Vor allem Herr LaRouche hat wiederholt in verschiedenen Papieren auf seine Arbeiten verwiesen: den russischen Biogeochemiker Wladimir Iwanowitsch Wernadskij. Am bekanntesten ist er als Begründer des Konzepts der Biosphäre; er hat diesen Begriff zwar nicht geprägt, aber umfassend und streng entwickelt. Kurz umschrieben ist die Biosphäre die Hülle um den Planeten Erde, in der lebende Prozesse stattfinden. Bei genauerer Untersuchung ist die Biosphäre jedoch noch viel umfassender. Tatsächlich besteht die erste Hälfte von Wernadskijs Buch The Biosphere aus Beschreibungen von Prozessen, die wir in unseren eigenen jüngsten Beiträgen auch als „kosmische Strahlung“ beschrieben haben.

Anders gesagt, jene dünne Schicht unseres Erde, die Wernadskijs als Biosphäre definiert, ist derjenige Teil des Planeten, der mit dem Rest des Kosmos in sehr aktiver Wechselwirkung steht. Der wichtigste Prozeß hierbei ist als Photosynthese bekannt, bei der der beständige Fluß elektromagnetischer Strahlung von der Sonne einen erstaunlichen negentropischen Prozeß unterhält, von dem sämtliche Nahrungs- und Energiezyklen hier auf der Erde ausgehen - der Aufbau der pflanzlichen Kohlenhydratstrukturen, die auch in die Körper der Tiere eingebaut sowie durch die biogenetische Migration der Atome letztlich durch die gesamte Biosphäre recycelt werden. Durch Tod und Zerfall verschiedener Lebewesen entsteht so aus den erzeugten Abfallstoffen die Struktur der Biosphäre selbst - Berge, Böden. Meere.

Vom Standpunkt der biogenetischen Wanderung der Atome verläuft somit ein ständiger Fluß von den entferntesten Gegenden unseres Kosmos bis zu der dünnen Schicht der Biosphäre, der eigentlichen Struktur der Erde, wie wir sie kennen. Diesen gesamten Umfang beschreibt Wernadskij. Im Zuge dieser Beschreibung kommt er auch zu bestimmten Schlußfolgerungen, die für die Ontologie im allgemeinen weitreichende Bedeutung haben. Wenn wir diesen Weg weiter verfolgen, führt uns dies direkt zur Frage der Ontologie des Geistes.

Wernadskijs Werdegang

Ich möchte einiges über Wernadskijs Leben sagen, das sehr bemerkenswert war. Es umfaßt eine ungewöhnliche, aber sehr interessante und reiche Periode - in etwa von der Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs bis zum Zweiten Weltkrieg. Sein halbes Leben verbringt er im zaristischen Rußland, die andere Hälfte im nachzaristischen Rußland. Er hat entscheidenden politischen Einfluß auf den Umsturz des Feudalismus insbesondere in Rußland genommen, aber aufgrund seiner wissenschaftlichen Ansichten erkannte er die Notwendigkeit, den Feudalismus insgesamt abzuschaffen, um die weitere Entwicklung der Menschheit zu ermöglichen. Das nur, um eine ungefähre Idee zu bekommen, was sein Standpunkt war.

Viele seiner Arbeiten bis zur russischen Revolution beschäftigten sich aus diesem Grunde mit Wirtschaftsfragen. So untersuchte er in verschiedenen Studien die unterschiedlichen landwirtschaftlichen Anbaumethoden in den USA und Rußland. Er studierte die Landwirtschaft in den USA und in Europa, um herauszufinden, wie man die Feudalstrukturen im damaligen Rußland ersetzen könnte. Er fragte sich, was nach der Revolution, wenn die Leibeigenschaft und die feudalen Strukturen unter dem Zaren abgeschafft würden, an deren Stelle treten sollte. Seiner Ansicht nach war das eine wissenschaftliche Frage, eine Frage der Evolution der gesamten Menschheit. Schriften von ihm darüber finden sich bereits Ende der 1890er und Anfang 1900er Jahre.

Zur gleichen Zeit stellte er zusammen mit seinem Lehrer Dokutschajew erste geologische Untersuchungen über die Qualität von Böden und die mineralische Zusammensetzung der Erdkruste an. Bei diesen Untersuchungen erkannte er sehr schnell, daß diese Mineralien kein fixes System sind, sondern man hat es mit einem Prozeß zu tun, der sich ständig verändert und entwickelt. Schon sehr früh äußerte er, daß es sich dabei um zeitliche Prozesse handelt. Ebenfalls Ende der 1890er und Anfang 1900er Jahre fällt ihm auf, daß dies insbesondere auf geologische Prozesse zutrifft, doch dann erkennt er, daß Veränderungen in geologischen Prozessen überall mit der Einwirkung von Lebewesen zu tun hat. Da er ursprünglich nur Geologie studiert hatte, wird ihm schnell klar, daß er sich schnellstens auch mit Biologie beschäftigen müsse, um überhaupt sinnvolle Aussagen über die Geologie machen zu können.

Daraufhin stellt Wernadskij ganze eigene Untersuchungen an, um eine beeindruckende Karte sämtlicher Lebensformen auf dem Planeten zu erstellen, auf der alles verzeichnet ist, was man sich überhaupt vorstellen kann. Dadurch wird ihm klar, daß die gesamte Biosphäre daran beteiligt ist, die ursprüngliche unbelebte Struktur der Erdkruste zu verändern und zu entwickeln.

Aus der Beobachtung, wie biologische Prozesse auf  geologische Prozesse einwirken, entwickelt sich in seinem Geist ein weiterer Gedanke. Wenn seine frühere Erkenntnis über die Geologie als zeitlicher Prozeß zutrifft, dann muß das, was er Zeit nennt, eng mit der Wirkung von lebenden Prozessen verbunden sein. Er prägt in diesem Zusammenhang sogar einen Begriff, über den sehr gestritten wurde - die „Ewigkeit des Lebens“.

Derzeit gibt es darüber zwei Interpretationen. Die eine ist sehr praktisch orientiert, was nicht ganz unnütz, sondern wichtig zu wissen ist. Denn in dem Maße, wie er im Zuge der geologischen Zeit Veränderungen in geologischen Strukturen beobachten konnte, stand jede Veränderung zeitmäßig mit Lebensprozessen in Verbindung. Doch dann, so sagte er, waren die Veränderungen im geologischen Bereich genau das, was die Geologie von den Wissenschaften trennt, denn sie vermittelt uns das Empfinden, das man als „Zeit“ bezeichnen könnte. Daraus zog er den Schluß, daß es im Grunde nie eine Periode auf dem Planeten ohne Leben gegeben hat.

Das ist aus verschiedenen Gründen interessant. Das erste, was einem dabei einfallen sollte, ist die Frage, über die wir schon früher einmal diskutiert haben: „Ist es denn nicht so, daß es in bestimmten Zeitperioden auf der Erde so heiß gewesen ist, daß Leben unmöglich war? Wie kann dann dieser Wernadskij behaupten, daß Leben im Prinzip etwas Ewiges sei, wo es doch Zeiten gegeben hat, wo es kein Leben gegeben haben kann? Muß es nicht doch einen Moment der sogenannten Urzeugung gegeben haben, als Leben aus dem Nichts entstanden ist?“

Wernadskij sagte sehr nachdrücklich, nein, das sei nicht wahr. Bereits 1908 äußerte er sich dazu, und wir werden sehen, daß sich seine Vorstellungen hierüber mit der Zeit immer weiter entwickelten. Leben, so sagte er 1908, sei ein Prinzip, das so grundlegend wie Materie oder Energie sei. Das ist zwar kein wörtliches Zitat, aber in diese Richtung gingen seine Gedanken damals.

Seine Auffassung unterscheidet sich offensichtlich von den gängigen reduktionistischen Ansichten. Nach der heute verbreiteten Ansicht ist Leben nur eine Art Begleiterscheinung von unbelebten Prozessen. Und das Denken sei lediglich eine Begleiterscheinung, die aus Lebensvorgängen erwachsen ist. Doch Wernadskij betonte, das Prinzip des Lebens sei ewig und gehe allen anderen Phänomenen, die sich beobachten lassen, voran.

Um 1920 gerät er spezifisch wegen seiner Idee der Ewigkeit des Lebens unter schweren Beschuß. Das ist die Zeit, in der er eine wesentliche Rolle beim Sturz der Zarentums in Rußland spielte, doch scheint noch ein weiterer Coup stattgefunden zu haben; jedenfalls stellt er eine Art Einmischung fest. Ihm ist nicht völlig bewußt, daß das die Einmischung des Britischen Empire ist, das dafür sorgen wollte, daß eine bolschewistische Revolution stattfindet, und nicht die Art Revolution, die Wernadskij anstrebte.

In diesem Zusammenhang kommt es in Rußland zur ideologischen Machtergreifung des dialektischen Materialismus. Die materialistische Seite hiervon bedingt die reduktionistische Vorstellung einer Aufwärtsentwicklung vom Unbelebten zum Belebten und zum Denken. Wernadskij hingegen ist der Überzeugung, daß diese Prozesse in umgekehrter Richtung organisiert sind. Zu diesem Zeitpunkt äußert er sich explizit nur darüber, daß das Leben primär sei und die darunterliegenden Prozesse bestimme, doch er entwickelt dies weiter, wie wir noch sehen werden.

Daraus wird eine große Sache. Das Papier, das er 1920 hierüber schreibt, Ursprung und Ewigkeit des Lebens, wird sogar vollständig zensiert. Es darf nicht veröffentlicht werden, und das Buch, in dem er es veröffentlichen wollte, wird stark überarbeitet. Am stärksten verändert wird sein Aufsatz über menschliche Autotrophie, worin er über die willentliche evolutionäre Entwicklung der menschlichen Gattung schreibt. Das sollte eine Vorstellung über den Kontext vermitteln, und vielleicht können wir dies später noch einmal aufgreifen.

Vor allem Alexander Oparin wird aufgeboten, um die Vorstellung des ewigen Lebens in Wernadskijs Arbeit zu attackieren, umzudeuten und klein zu reden. Doch es wird sich zeigen, daß Wernadskij nicht nur auf diesem Prinzip beharrt, sondern später sogar noch auf eine höhere Ebene hebt.

Zusammenarbeit mit den Curies

Etwa 1924 kommt es zu einer deutlichen Weiterentwicklung dieses Konzeptes, als Wernadskij nach Frankreich fährt, um im Labor von Marie Curie zu arbeiten. Er beschäftigt sich dort mit verschiedenen Fragen, die sich überwiegend um Radioaktivität und radioaktive Datierungsmethoden drehen, worin er einen wichtigen Weg sah, den Ausdruck von Zeit und Entwicklung in der Biosphäre darzustellen. Er führt auch mehrere persönliche Diskussionen mit Marie Curie, in denen sie ihm die Arbeiten ihres Ehemanns Pierre Curie darstellt.

In einer Reihe kurzer Skizzen beschreibt Wernadskij ihre Schilderung der Tischgespräche mit der Familie, bei denen sich Pierre Curie, Marie Curie und ihre Töchter über wissenschaftliche Fragen unterhalten. Er erwähnt dabei deren sehr ungewöhnlichen Arbeitsstil, der darin besteht, lange Zeit, manchmal monatelang, unter sich über Ideen zu diskutieren, die sie im Kopf haben, und am Ende schrieb Pierre Curie eine ganz kurze Notiz darüber auf. Wernadskij schreibt interessanterweise, daß das gemeinsame Lebenswerk der Curies auf diese Weise in einen Band paßt - nicht weil Pierre Curie kein fruchtbarer Schreiber wäre, sondern weil er stets unglaublich dichte Zusammenstellungen seiner Gedankenprozesse verfaßt.

Nach dem Tode Pierre Curies blieb dessen letztes großes Projekt über die Fortführung der Arbeiten Louis Pasteurs unvollständig. Mit diesen Arbeiten über Chiralität bzw. Händigkeit war Wernadskij natürlich sehr vertraut. Pasteur hatte nämlich beobachtet, daß es bei der Synthese einen Unterschied zwischen ansonsten gleichen chemischen Verbindungen gibt. Die genau identische chemische Verbindung, die genau die gleichen Reaktionen durchläuft und auf genau die gleiche Weise hergestellt wird, unterscheidet sich in einem grundlegenden Aspekt, wenn sie durch lebende Prozesse oder wenn sie im Labor ohne Beteiligung lebender Prozesse entsteht. Dieser Unterschied äußert sich in der Fähigkeit der Verbindungen, die Ebene des einfallenden Lichts zu drehen. Wenn Licht so polarisiert ist, daß es in einer bestimmten Ebene schwingt, zeigen bestimmte durch Lebensprozesse erzeugte Verbindungen die Fähigkeit, diese Polarisationsebene zu drehen, was die genau gleiche chemische Verbindung, die ohne Beteilung lebender Prozesse entstanden ist, nicht kann.

Um es noch einmal zu betonen: In anderer Hinsicht sind diese Verbindungen vollkommen identisch, sie sind chemisch völlig gleich, nur ihr Verhalten gegenüber Licht ändert sich, abhängig davon, ob sie durch lebende Prozesse erzeugt wurden oder nicht.

Pierre Curie sah darin den Ausdruck eines viel breiteren Symmetrieprinzips, und er diskutierte darüber mit seiner Familie, mit Marie Curie. Wernadskij bemerkte hierzu, er sei insbesondere von der Universalität des von Curie entwickelten Prinzips begeistert. Ein Ausdruck davon wurde in allen Forschungsbereichen sehr fruchtbar, bei denen es, wie Curie feststellte, um Asymmetrie als Vorgang ging.

Was verstand er genau unter Asymmetrie als Vorgang? Ich möchte das an einem Bild veranschaulichen. Man stelle sich eine sich drehende Kugel vor. Könnte man bei einer solchen perfekten geometrischen Figur ohne jede Markierungen feststellen, ob sie sich dreht, und könnte man überhaupt mit dem Begriff Drehung etwas anfangen? Betrachtet man eine solche perfekte geometrische Kugel ohne äußere Markierungen, stellt man fest, daß sie überall genauso aussieht. Man stelle sich also eine solche sich drehende Kugel vor, doch dann kommt jemand mit einem Pinsel und macht einen Klecks seitlich an die Kugel. Plötzlich sieht man, daß sich die Kugel bewegt. Sobald man also eine Asymmetrie erzeugt, wird etwas als Vorgang erkennbar. Curie verallgemeinerte dies dahingehend, daß man nur etwas als Phänomen oder als tatsächlichen Vorgang erkennt, weil man eine Asymmetrie sieht, die aus einer Symmetrie hervorgegangen ist.

Wichtig hierbei ist, daß man allein aufgrund dieses Prinzips die Vorstellung eines leeren Raumes eliminieren kann. Denn man erkennt, daß ein Prozeß, der anfangs in bezug auf bestimmte Parameter völlig symmetrisch erschien, plötzlich asymmetrisch wird; man hat in den Prozeß eine Singularität eingebracht, und diese Asymmetrie relativ zu der Symmetrie erkennt man als ein Ereignis, als Ding. Die einfache Sinneswahrnehmung sagt einem nun: „Hier ist ein Gegenstand, wo bisher alles leer war.“ Curie sagt dazu ganz allgemein, nein, das ist nicht wahr. Alles, was man als Ereignis oder als Gegenstand sieht, ist im Grunde eine Asymmetrie, die man gegenüber einer vorherigen Symmetrie wahrnimmt. In unserem Beispiel sieht man eben, wie sich etwas zu drehen beginnt.

Wernadskij erkannte in diesem Ansatz von Curie ein sehr wirksames heuristisches Werkzeug. Außerdem kann man feststellen, daß daraus in der Musik ein Prinzip wird, mit dem man im Geiste spielen kann; man erkennt es im Gegensatz von Hinter- und Vordergrund, im Gegensatz von Ton und Stille in einer Komposition. All das hat etwas mit Symmetrie und Asymmetrie zu tun: Es gibt keinen leeren Raum.

Wernadskij war sehr interessiert daran, weil er merkte, daß er damit alle nicht hinterfragten physikalischen Begriffe vom absoluten Raum, absoluter Zeit und Materie über Bord werfen konnte. Er sieht darin lediglich mathematische Fiktionen, die in der realen Welt gar nicht existieren; man brauchte vielmehr einen gangbaren Weg, um sie zu vermeiden, und tatsächliche Phänomene so zu beschreiben, wie sie sind.

Das ist eine hochinteressante Vorstellung.

Ihn beeindruckt aber noch ein zweites Element, das oft das Curie-Prinzip genannt wird, wonach die Symmetrie eines Effekts in der Symmetrie der Ursache enthalten sein muß. Er fragte sich, was man genau darunter verstehen müsse.

Curie hatte einige bekannte Beispiele hierfür. Das bekannteste davon ist das Phänomen der Piezoelektrizität, das Pierre Curie und sein Bruder entdeckten. Viele werden sich nicht bewußt sein, daß diese Entdeckung der Piezoelektrizität - der Umstand, daß bestimmte Kristalle unter Druck einen elektrischen Strom abgegeben - ganz auf Symmetrieüberlegungen basiert: Welche Änderungen in der Symmetrie ergeben sich, wenn auf die symmetrische Struktur eines Kristalls Druck ausgeübt wird? Was wird dadurch ausgelöst? Stimmen die induzierten Symmetrien mit der Symmetrie eines erzeugten elektrischen Feldes bzw. Stromes überein? Auf dieser Grundlage konnten sie voraussagen, daß das Phänomen der Piezoelektrizität entstehen würde, aber sie konnten dann auch bestimmen, in welchen Kristallen sich dieses Phänomen erzeugen ließe? Dem liegt die Idee zugrunde, daß man eine symmetrische Übereinstimmung zwischen dem elektrischen Strom und dem damit verbundenen Magnetfeld und dem Kristall selbst erreichen kann.

Das Prinzip des Lebens

Wernadskij hörte hiervon in seinen Gesprächen mit Marie Curie und stellte dann eine Verbindung zwischen Pierre Curies Arbeit und einer anderen Idee her, die ihm immer sehr am Herzen gelegen hatte - der Frage, daß noch nie eine Urzeugung beobachtet wurde. Er bezeichnete dies als das „Redi-Prinzip“ - nach Francesco Redi, der behauptet hatte, Leben entstehe immer aus Leben. In der Geschichte des Biosphäre läßt sich immer beobachten, daß Leben aus Leben entsteht, das sich von Lebewesen zu Lebewesen fortsetzt. Wie wir sehen werden, gelang es ihm mit Hilfe des Symmetrieprinzips aber, diesen Begriff des Lebens weit über diese einfache Beschreibung hinaus auszudehnen.

Im Zusammenhang mit der spezifischen Symmetrie der Händigkeit ging er auch auf die Arbeiten Pasteurs zurück, der festgestellt hatte, daß bestimmte, von Lebensprozessen erzeugte Verbindungen die Ebene des sie durchscheinenden Lichts drehen konnten, und er beginnt zu erkennen, daß in dem Prozeß selbst die Händigkeit offenbar eine Rolle spielt.

Pasteur selbst war bereits zu dem Schluß gekommen, daß diese Form der Händigkeit auch im ganz Kleinen existieren mußte und somit nicht nur eine Eigenschaft der Verbindung im Großen sein konnte.

Ich möchte ein Beispiel anführen: Es war bereits bekannt, daß bestimmte Kristalle die Ebene des Lichts drehen konnten, wenn sie von Licht beschienen wurden. Quarzkristalle zeigten diese Fähigkeit, die Ebene von polarisiertem Licht zu drehen. Wenn man Quarz jedoch in flüssige Form überführte oder es in Glas verwandelte, wie wir es oft sehen, verlor es die Fähigkeit, die Lichtebene zu drehen. Man kann daraus also schließen, daß die Drehung der Lichtebene im Fall von Quarz etwas mit der Kristallstruktur selbst zu tun haben mußte.

Bei anderen Verbindungen wie dem berühmten Beispiel der Weinsäure, über das wir in einem Video auf unserer Webseite gesprochen haben, wird die Lichtebene durch die gelöste Verbindung in der Flüssigkeit selbst gedreht. Nach Pasteurs Vorstellung bedeutete dies, daß die Flüssigkeit ganz unabhängig davon, wie man sie verändert, die Lichtebene auch weiterhin verändert, wenn sie mit Licht durchleuchtet wird. Somit war dies nach Pasteurs Meinung ein Ergebnis der Lösung im ganz Kleinen, d.h. die Geometrie der Händigkeit läßt sich bis ins ganz Kleine fortsetzen. Er nannte dies molekulare Asymmetrie. Wernadskij stellte sich diese Frage auch und sagte, daß das, was Pasteur molekulare Asymmetrie nannte, tatsächlich Ausdruck von etwas viel Grundlegenderem sei, wobei er davon ausging, daß Leben ein unabhängiges, aktives Grundprinzip im Universum sei.

Danach begann er verschiedene Ideen zu entwickeln, die in der Zeit 1929, 1930 und 1931 heranreiften. Er führte einen Briefwechsel mit einem sehr interessanten Mathematiker namens Nikolai Lusin, der im damaligen Rußland einer bestimmten mathematischen Schule angehörte. Neben Lusin gehörten dazu auch ein Mann namens Pawel Florenskij und einige andere, die ich hiermit nicht unbedingt unterstütze, aber sie verfolgten interessante Ideen. Sie waren gegen den dialektischen Materialismus, da sie sich dagegen wandten, das Konzept der Kontinuität als primär in der Philosophie anzuerkennen. Außerdem betonten sie, daß sich insbesondere in der Mathematik eine Obsession mit Fragen der Kontinuität in stetigen Prozessen entwickelt hätte.

In den Diskussionen dieser Gruppe war man sich einig, daß reale Prozesse im Kern unstetig seien. Insbesondere sprachen sie auch über politische und soziale Prozesse, die offensichtlich nicht einer allmählichen gesellschaftlichen Evolution entspringen. Diese erfolgen notwendigerweise in unsteten Sprüngen, d.h. in Revolutionen.

Sie betonten, daß jede mathematische Untersuchung, die die Unstetigkeit nicht berücksichtigt, problematisch sei. Florenskij seinerseits ging soweit zu sagen, daß damit der Mensch von Gott getrennt werde, da der Mensch dann nur noch damit beschäftigt sei, daß die Dinge notwendigerweise ständig aus dem folgen, was vorher war.

Ich will damit nur den Zusammenhang herstellen, doch insgesamt lehnte diese Gruppe die herrschende Ideologie des dialektischen Materialismus ab. Florenskij wird später hingerichtet, und auch Lusin drohte nach einem wichtigen Ereignis Anfang der dreißiger Jahre die Hinrichtung, die jedoch durch Wernadskij, Gruppierungen um Stalin und andere letztlich vereitelt wird. Ich werde einiges davon noch aufgreifen, aber das sollte nur einen Einblick in die damalige Diskussion geben.

An Lusin schrieb Wernadskij 1929 einen Brief und fragte ihn nach seiner Meinung über die Frage der Händigkeit. Er schickte ihm auch eine Ausgabe von Marie Curies Buch, einer Biographie über Pierre Curie, und schrieb, er möge das Buch lesen und ihm seine Gedanken darüber mitteilen: „Sehen Sie von Ihrem Standpunkt eine mathematische oder geometrische Bedeutung in der Frage der Händigkeit in lebenden Prozessen?“ Wahrscheinlich sind sich Wernadskij und Lusin danach persönlich begegnet, denn die nächsten Briefe zwischen beiden datieren erst wieder aus dem Jahr 1937.

Bevor ich aber auf die weiteren Entwicklungen zwischen beiden eingehe, sei festgestellt, daß die Aussagen des Briefs von 1929 für Wernadskij von grundlegender Bedeutung waren und schon damals mit seiner Idee des Vorrangs des Lebens als Prozeß in Verbindung standen.

Im Jahre 1931 geschieht jedoch etwas Interessantes. Wernadskij, damals bereits über 70 Jahre alt, gerät von anderen politischen Kreisen erneut unter schweren Beschuß. Einige Gruppierungen in der Sowjetunion verteidigen ihn, andere attackieren ihn. Einige versuchen, seine wissenschaftliche Arbeit zu schützen, verhindern aber gleichzeitig, daß seine Ideen in der Bevölkerung Verbreitung finden, denn sie erkennen, daß seine Konzepte offenbar richtig und wirksam sind, aber gefährlich werden könnten, wenn sie von der Bevölkerung insgesamt aufgegriffen würden. Die Zensoren der damaligen Zeit unterbanden somit die Veröffentlichung seiner Werke nicht, verhinderten aber, daß sie über die Akademie der Wissenschaften hinaus verbreitet wurden. Nur ein sehr kleiner Kreis von Wissenschaftlern sollte Zugang zu seinen Arbeiten haben.

1931 beantragte Wernadskij einen Forschungsaufenthalt im Ausland, der ihm aber verweigert wird. Statt dessen wurde ihm beschieden, er könne Forschungen in einem für Mitglieder der Akademie der Wissenschaften vorgesehenen Ferienhaus betreiben. Er ist darüber natürlich sehr aufgebracht, doch das Jahr 1931, das er in dem Ferienhaus verbringt, wird für ihn ein sehr fruchtbares Jahr, denn einige Ideen, die ihm im Kopf herumgingen, beginnen sich zusammenzufinden.

Zum einen ist das sein Konzept der Ewigkeit des Lebens, d.h. der Vorstellung, daß Leben ein wirkliches Grundprinzip ist. Dies kam zusammen mit dem Symmetriebegriff, wie er ihn mit Marie Curie auf Grundlage der Arbeiten Pierre Curies diskutiert hatte, sowie mit bestimmten anderen Eigenschaften, die er erkannt hatte. Vor allem erkennt er das kreative Wesen lebender Prozesse, die eine eindeutige Anti-Entropie ausdrücken. Der einzige Ort, wo eine Art Zeitpfeil erkennbar sei, sei das Unbelebte, zumindest im ganz Kleinen, entsprechend dem, was Sadi Carnot über Wärmekraftmaschinen aussagen konnte, die mit der Zeit eine Tendenz zeigen, die in ihnen konzentrierte Wärme abzuführen, was dann Entropie genannt wurde. Wernadskij verwies darauf, daß Clausius dann irrtümlicherweise versucht hatte, diesen Umstand auf das gesamte Universum zu übertragen. In seinen Augen war das ein unzulässiger Versuch der Verallgemeinerung, der durch kein Experiment bewiesen sei. Tatsächlich wollte Wernadskij zeigen, daß das Universum Eigenschaften hat, die viel mehr einem lebenden Prozeß ähneln als irgend etwas anderem.

Er stellte eine ganz besondere, interessante Korrelation her zwischen der Gerichtetheit, d.h. der Anti-Entropie lebender Prozesse, und der Händigkeit, wie Pasteur sie beobachtet hatte. Was man im Fall lebender Prozesse sehe, so sagte er, sei eine zeitliche Händigkeit. In seinen Schriften äußerte er zudem, daß das vollkommen Sinn mache, denn es sei von Descartes und Newton eine im Grunde willkürliche Trennung vorgenommen worden, Raum und Zeit in zwei unterschiedliche Dinge zu unterteilen. In Wirklichkeit handele es sich um ein einziges Phänomen, das man Raumzeit oder eigentlich physikalische Raumzeit nennen müßte. Das, was man Raum und Zeit nennt, sei Ausdruck des gleichen ablaufenden physikalischen Prozesses. Deswegen sollten Dinge, die sich im charakteristischen Raum eines Prozesses ausdrücken, auch in der charakteristischen Zeit vorkommen. Wenn es somit eine Händigkeit des Raumes gibt, wie sie in Pasteurs Arbeit deutlich wird, sollte diese auch mit einer Händigkeit der Zeit verbunden sein.

Er begann eine gründliche historische Untersuchung über die Arbeiten all jener, die sich mit der Zeitfrage auseinandergesetzt haben, und 1931 war er mittendrin. Der größte Irrtum bis zu diesem Zeitpunkt war die letztlich von Newton durchgesetzte Idee, daß Raum und Zeit etwas Absolutes seien, das nicht Gegenstand menschlicher Untersuchungen sein dürfte. Raum und Zeit müßten als a priori gegeben angenommen und dürften nicht in Frage gestellt werden. Das schien ihm eindeutig falsch zu sein. So könnte ein Mathematiker oder vielleicht sogar ein Physiker denken, aber kein wirklicher Wissenschaftler oder Naturforscher.

In einer Reihe von Papieren entwickelte er 1931 dieses Thema weiter, wobei er einmal von „lebender Zeit“ und manchmal auch von „biologischer Zeit“ sprach. Er erkannte in diesem Sommer 1931, daß bestimmte Prinzipien, die er bereits zuvor in seinen Arbeiten über die Natur menschlicher Tätigkeit und wirtschaftlicher Prozesse aufgegriffen hatte, auch bei der Frage der „lebenden Zeit“ eine grundlegende Rolle spielen. Erstmals bezieht er sich hierbei auch, soweit ich weiß, auf die Arbeiten Wolfgang Köhlers und der Gestaltpsychologie. Am interessantesten an diesen Erkenntnissen sei, daß der Mensch bestimmte geometrische Formen oder Strukturen des sichtbaren Raums, des Klangraums und anderer Phänomene erkennen könne, was mit der Struktur des räumlich und zeitlich identifizierbaren kognitiven Apparats in Verbindung stehe. Er schreibt auch, daß „der Berliner Professor Wolfgang Köhler diese Begriffe über psychische Formen und kognitive Prozesse auf Erscheinungen der Tierpsychologie und der Physik ausdehnt“. Daraus sei die neue philosophische Strömung der Gestaltpsychologie entstanden.

Auf diese Stelle möchte ich insbesondere verweisen. Denn indem man den Charakter der biologischen kreativen Raumzeit beschreibt, kann man am besten diese Art Geometrien untersuchen, wie sie besonders in der Arbeit der Gestaltpsychologen über das Sehen und das Hören von Musik deutlich werden. Wernadskijs Äußerungen über die Bedeutung der Musik für diese Geometrien und für den Zeitbegriff werden noch interessanter, wenn wir auf die damaligen Arbeiten Köhlers zurückkommen, von denen ihm Teile zweifellos bekannt gewesen sein dürften.

Mir ist in Wernadskijs Aufzeichnungen ein weiterer Verweis auf Köhler aus dieser Zeit bekannt.

Ideologische Kämpfe

Infolge der Veröffentlichung seiner Arbeiten gerät er 1931 unter schweren Beschuß. Im Grunde begann dies bereits im Januar diesen Jahres. In dem Magazin Bolschewik erschien ein Artikel mit der Überschrift „Staatsfeinde in der Wissenschaft“. Daran sieht man, wie die Bevölkerung aufgebracht werden sollte. Man wollte die Wut der Leute hochkochen, um sie dann gegen bestimmte Individuen zu richten, für die das gewöhnlich ein sehr schlechtes Ende nahm.

Wernadskij hat nie ein Geheimnis aus seiner Ablehnung des dialektischen Materialismus gemacht und war schon vorher deswegen attackiert worden. Doch dieser letzte Angriff war besonders scharf. Er wurde zusammen mit einigen anderen Wissenschaftlern auf eine Liste gesetzt, darunter auch Alexander Gurwitsch. Diese Wissenschaftler, so behauptete das Magazin Bolschewik, würden aus ihrer wissenschaftlichen Arbeit und ihren Positionen politische und philosophische Schlußfolgerungen ziehen. Natürlich hat Wernadskij in seinen wissenschaftlichen Arbeiten politische und philosophische Schlüsse gezogen, somit war diese Feststellung auch ein Moment der Klarheit auf Seiten seiner Feinde.

Obwohl er dermaßen angefeindet wurde, schrieb er weiter über seine anti-reduktionistische Auffassung von Lebensprozessen und bezog sie auch ausdrücklich auf das menschliche Denken. Er veröffentlichte diese Schriften 1931 und trug sie sogar auf der Herbstsitzung der Akademie der Wissenschaften vor. Er nannte seinen Vortrag „Das Problem der Zeit in der zeitgenössischen Wissenschaft“, worin er auf seine Arbeiten über Lebensprozesse einging und auf die Gestaltpsychologie und die Frage der Musik verwies.

Dagegen wandte sich ein gewisser A.M. Deborin, der damals eine Art Wachhund des dialektischen Materialismus war. Er war der sowjetische philosophische Verfechter des dialektischen Materialismus, der den Auftrag hatte, einzelne Leute als subversiv abzukanzeln, und genau eine solche beißende Attacke richtete er auch gegen Wernadskij. Das war heftig, aber jeder konnte auch sehen, daß dem Angriff jeder Inhalt fehlte.

Ich möchte auf Wernadskijs Reaktion, der damals schon über 70 Jahre alt war, etwas eingehen, weil dadurch der Zusammenhang klarer wird. Seine Lage war heikel. Andere, die auf diese Weise unter Attacke kamen, waren verbannt und/oder umgebracht worden. Das war auch im Fall Wernadskij die klare Absicht jener Leute, mit denen Deborin in Verbindung stand.

Es war also wichtig, damit richtig umzugehen. Wernadskij verfaßte eine umfangreiche öffentliche Antwort. In seinem scharfen Gegenangriff gegen Deborin betonte er seine persönliche Bedeutung für die sowjetische Wissenschaft und den Erhalt der Sowjetunion. Er ließ an Deborin keinen guten Faden, denn mit seinen Angriffen aus rein ideologischen Gründen behindere er den wissenschaftlichen Fortschritt. Aus der anschließenden Antwort wird deutlich, daß Deborin in die Defensive gezwungen wurde; er nörgelte zwar noch etwas weiter, nahm aber von weiteren Angriffen Abstand.

Damit hatte Wernadskij wieder etwas Freiraum für weitere Arbeiten, und er baut einen Kreis um sich auf, um sein Konzept verschiedener „Raumzustände“, wie er es von Pierre Curie übernommen hatte, zu erweitern. In allen seinen Schriften betont er immer wieder, daß er unter Raumzustand die physikalische Raumzeit versteht. Und wenn ich im folgenden das Wort „Raum“ benutze, meine ich, wenn nicht anders angegeben, die physikalische Raumzeit. Wernadskij selbst äußerte sich darüber sehr klar, besonders in der Zeit nach 1931, wo er sich explizit mit Fragen der Zeit auseinandersetzte.

1933 beschreibt Wernadskij in seinem Tagebuch die Begegnung mit einem 23jährigen Forscher namens Georgij Franzewitsch Gause, mit dessen Mentor Wernadskij befreundet war. Drei Jahre zuvor hatte Wernadskij zugestimmt, daß Gause seine ersten Schriften veröffentlichen konnte. Zu der Zeit des Gesprächs mit Gause ist Wernadskij krank und hält sich zur Erholung in einem besonderen Sanatorium für Mitglieder der Akademie der Wissenschaft auf, wo ihn eine Reihe von Leuten besuchen. Gause berichtet in seinem Gespräch mit Wernadskij über seine Versuche mit optischer Aktivität im Protoplasma, ausgehend von den Fragen, die bereits Pasteur aufgeworfen hatte. Wernadskij ist begeistert über Gauses Arbeit und bietet ihm sogar eine Stelle in seinem Laboratorium an, denn er sieht darin die Möglichkeit, seine damals aufkeimende Idee experimentell auszuweiten, daß lebende Prozesse auf einer viel grundlegenderen Ebene als bloß Raum, Zeit und Materie bestimmt seien. Raum, Zeit und Materie seien einfach Projektionen von etwas viel Fundamentalerem.

Gause nimmt die ihm angebotene Stelle zwar nicht an, sagt aber zu, in Wernadskijs Laboratorium zu forschen und zu publizieren. Es gibt nur einen Grund, warum er ablehnte. Er arbeitete an einem so umfassenden Gebiet, daß er sich zu sehr eingeengt gefühlt hätte, wenn er die Universität verließe, um für ein einzelnes Labor zu arbeiten.

Um nur anzudeuten, was aus dieser Zusammenarbeit hervorgegangen ist: Gause gelang es, nur auf Grundlage optischer Aktivität zu bestätigen, daß Pasteurs Prinzip der zeitlichen Händigkeit viel tiefer reichte, als bisher angenommen. Wenn man sich den tatsächlichen Strukturaufbau eines Lebewesens ansieht, gibt es bestimmte Prinzipien der Händigkeit, die nicht verletzt werden. So bleibt in lebenden Prozessen beispielsweise die Händigkeit, d.h. die optische Aktivität von Proteinen und der sie bildenden Aminosäuren, stets gleich. Die Proteine behalten immer die Fähigkeit der sogenannten Linksdrehung; sie drehen stets die Ebene des Lichtes nach links. Zuckermoleküle, die für den Aufbau von Lebewesen wichtig sind, haben immer die Fähigkeit zur Rechtsdrehung; sie drehen die Ebene des Lichts stets nach rechts.

Gause geriet dann leider unter schweren Beschuß der Lysenko-Anhänger sowie jener gleichen Kreise im Sowjetapparat, die den Materialismus als Ideologie durchsetzen wollen. Einer seiner Kollegen wurde sogar hingerichtet, und Gause bekam verständlicherweise Angst. Er richtete seine weitere Arbeit mehr praktisch aus, setzte die Zusammenarbeit mit Wernadskij jedoch fort, und Wernadskij verließ die von ihm eingeschlagene Richtung nicht. Gause äußerte zwar, daß er sich Wernadskijs Schlußfolgerungen über die Zustände des Raums nicht zu eigen mache, doch entdeckte eine Reihe sehr interessanter Dinge.

Bei seinem Versuch, sich praktisch zu betätigen, entschließt er sich während des Zweiten Weltkriegs, für das sowjetische Militär zu arbeiten, und macht sich somit unangreifbar. Er entwickelt als erster während des Krieges in Sowjetrußland Antibiotika. Ein interessanter Aspekt an dieser Geschichte ist, daß es sich dabei um ein in der Natur vorkommendes Antibiotikum handelt, das die Zellwände von Bakterien durchlässig macht und diese so einfach absterben.

Als er sich die Aminosäurestruktur des Antibiotikums anschaut, stellt er fest, daß es eine Aminosäure besitzt, die im Vergleich zu ihrem Vorkommen in der Natur spiegelbildlich vorliegt. Die entsprechende Aminosäure, wie sie im lebenden Organismus vorkommt, ist linkshändig, und nur in diesem Antibiotikum ist sie rechtshändig. Experimentell veränderte er die Händigkeit, und sobald die Aminosäure linkshändig wurde, verlor das Antibiotikum seine Wirkung. Er konnte also zeigen, daß die antibiotische Eigenschaft dieses Stoffes eng mit seiner Händigkeit verbunden war. Daraus entwickelte sich eine ganze Gruppe von Antibiotika mit der Bezeichnung „Gramicidin S“ für Gramicidin Sowjet. Jedes einzelne enthielt mindestens eine gespiegelte Aminosäure, und wenn man diese Aminosäure veränderte, verlor das Antibiotikum seine Wirkung.

Auch wenn er daraus keine weiteren grundlegenden Schlußfolgerungen zieht, kommt er doch zu dem Schluß, daß es sich hier um ein weitreichendes Prinzip handelt. Nun, wir wissen, daß sich das an unterschiedlichen Stellen zeigt. Ich will hier nur so etwas wie eine Liste anführen, damit Sie erkennen, daß lebende Prozesse wirklich in einzigartiger Weise empfindlich sind für die Händigkeit einer chemischen Verbindung.

Sie kennen vielleicht Aspertam, einen künstlichen Süßstoff. Wenn man genau die gleiche chemische Verbindung nimmt und ihre Händigkeit umkehrt, dann ist sie nicht mehr süß, sondern bitter - obwohl sie chemisch identisch ist. Alle Experimente, die man damit anstellen kann - außer Experimenten mit Licht -, würden ergeben, daß diese Verbindungen identisch sind, aber der Organismus erkennt, daß sie sich in ihrer Aktivität fundamental unterscheiden.

Der Geruch von Kümmel und Grüner Minze ist chemisch völlig identisch, der Unterschied liegt in der Händigkeit. Sie sind also chemisch identisch, aber Ihr Organismus erkennt den Unterschied. Limonen, der Stoff, der Zitrusfrüchte - Orangen, Zitronen etc. - wie Zitrusfrüchte riechen läßt, riecht wie Pinienholz oder Terpentin, wenn man die Händigkeit umkehrt. Einige der künstlichen Arzneien sind nett: Eines, das man Darvon nennt, ist in der einen Form ein Schmerzmittel, wenn man jedoch es in sein Spiegelbild umkehrt, dann hat es keine Wirkung mehr auf den Schmerz, aber es heilt dann Husten.

Es gibt eine ganze Reihe von Insekten-Duftstoffen und ähnlichen Dingen, die völlig verschieden wirken - exakt die gleiche chemische Verbindung, nur seitenverkehrt, sodaß sich ihre biologische Wirkung grundlegend ändert. Sie erkennen also, daß es in lebenden Prozessen ein ganz eigenes Symmetrie-Prinzip gibt, das außerhalb von ihnen nicht existiert.

1937 führt Wernadskij seine Diskussionen über diesen Gegenstand mit Lusin fort, und er fragt Lusin: „Ich möchte Sie etwas grundlegenderes fragen. Gibt es etwas in der Euklidischen Geometrie, das diesen Unterschied erklären könnte?“

Die übliche Beschreibung eines händischen Moleküls ist die, daß ein solches Molekül in einem Euklidischen Raum herumschwebt. Ich war bei einigen dieser Astrobiologie-Tagungen und hatte dort Gespräche mit Leuten, die angeblich zu den wichtigsten Forschern auf diesem Gebiet zählen, und habe festgestellt, daß sie alle dieser Idee anhängen, daß man die Natur des Raumes, in dem die Dinge wirken, nicht hinterfragt. Es sei ein Euklidischer Raum mit einem händischen Molekül.

Aber Wernadskij geht tiefer. Er fragt: Ist da irgendetwas in einem Euklidischen Raum, das grundsätzlich zwischen diesen beiden „Händen“ unterscheiden kann? Und er weist Lusin an, das zu untersuchen, um es herauszufinden. Und sie haben einen wunderschönen Gedankenaustausch. Ich will das hier nicht in allen Details darstellen, aber sie beschäftigen sich wirklich damit, alles, was man über die Euklidische Geometrie und darüberhinaus weiß, auseinanderzunehmen und zu zerschlagen. Und sie kommen zu dem Schluß, daß es im Euklidischen Raum keine Möglichkeit gibt, dies zu unterscheiden. Ich fasse hier eine Menge interessanter Diskussionen zusammen, und wir können da gerne noch mehr darauf eingehen.

Lusin fragt einen seiner Freunde, Finikow, er fragt eine Reihe von Mathematikern. Sie alle lesen Curies Buch. Und einer seiner Freunde läßt Wernadskij ausrichten: „Nein, um dieses Phänomen zu fassen, von dem Sie reden, müssen Sie anfangen, sich Riemanns Werke anzuschauen.“ Und dann beginnt eine Diskussion zwischen Wernadskij und einer Reihe anderer Denker über Riemanns Werk.

Sie haben eine erste Serie von Diskussionen, und man sieht, wie sich das im Lauf der Zeit entwickelt. Der Höhepunkt ist eigentlich 1938, als Wernadskij eine Reihe von Seminaren in seinem Haus mit diesen Denkern veranstaltet. Zunächst bittet er Gause, zu ihm zu kommen und mit ihm zu sprechen, aber er erhält die Antwort, daß Gause sich nicht privat mit einem Professor treffen will, weil ihm das schon einige böse Schwierigkeiten mit den Sowjets eingetragen hatte. Später gelang es Wernadskij jedoch, ein größeres Treffen zu arrangieren, an dem dann Gause und ein weiterer Histologe, insgesamt zwei Mathematiker (das hört sich jetzt wie der Anfang eines Witzes an), also zwei Mathematiker, zwei Physiker, zwei Biologen und Wernadskij - teilnahmen. Die Biologen sind Experten für die Händigkeit in lebenden Organismen. Zwei Physiker - ein Experte für die Relativität und der andere ein Experte für Spektrometrie. Und die beiden Mathematiker: Finikow, der Experten für Riemannsche Geometrie, und Lusin, der immer eine Diskontinuität suchte und sagte, die Kontinuität sei das größte Problem in der Mathematik.

Sie hatten eine Reihe solcher Diskussionen. Ich will hier wieder nur ihre Schlußfolgerungen zusammenfassen. Diese enden mit Wernadskijs Zusammenfassung der Diskussionen von 1938, die den zweiten Teil einer Serie namens „Die Probleme der Biogeochemie“ bildet. Danach äußere sich in lebenden Prozessen eine besondere physische Raum-Zeit, und diese besondere physische Raum-Zeit müsse einen Riemannischen Charakter haben.

Untersuchung der Kreativität als solcher

Nun, auch da steckt eine Menge drin, eine ganze Menge. Aber im Verlauf der Diskussionen über diese Arbeiten gibt er einige Hinweise, in denen er sehr klar zum Ausdruck bringt - ich werde sie demnächst in einem Papier veröffentlichen -; er sagt sehr klar, daß der menschliche Geist in der Lage ist, das zu verstehen, aber um den eigentlichen Charakter der Geometrie zu verstehen, der diese lebenden Prozesse charakterisiert, sei es notwendig, eine noch grundlegendere Diskussion über Kreativität per se zu führen. Und man sieht in seinem Tagebuch eine Menge Einträge, in denen er die Tatsache diskutiert, daß das Modell, das man braucht, um damit Raum-Zeit-Phänomene von der Art zu betrachten, wie wir sie hier anschauen wollen, wahrscheinlich in den Kompositionen von Bach, Mozart und Beethoven zu finden sei.

Ich werde diese Zitate zugänglich machen, es gibt viele Zitate, in denen er darüber spricht - in seinen privaten Schriften, nicht in seinen Veröffentlichungen, aber man kann die Richtung sehen, in der sein Geist voranschritt.

Es ist bedeutsam, daß er das genau zu der gleichen Zeit tut - fast genau zur gleichen Zeit, in der auch Einstein zu diesen Schlüssen kam. In einem Dialog mit Planck sagt er ganz ausdrücklich, daß man einige der Phänomene, auf die man im Bereich der Physik stößt, der Quanten-Phänomene, nur vom Standpunkt einer Bach-Fuge aus angehen könne. Man erkennt also, daß dieses Thema aufkommt.

In diesem Kontext möchte ich etwas zurückgehen. Erinnern wir uns, daß Wernadskij begonnen hatte, sich mit Köhlers Werk über Sehen und Hören zu beschäftigen, und erkannt hatte, daß Köhler damals und schon vorher mit Max Planck im Gespräch war, mit dem sich Einstein über genau dieses Thema unterhalten hatte: die Natur der Kreativität, wie sie sich in der Musik und in der Psychologie in Bezug auf die Physik äußert.

Ich will es erst einmal dabei belassen, denn das ist, offen gesagt, das ehrlichste, was wir an diesem Punkt tun können. Denn da stehen wir eigentlich immer noch.

Wernadskij kam nie dazu, zu diesem Gegenstand die Wissenschaft zu begründen, die er begründen wollte. Es ist ein erstaunliches Werk und wir wollen das zusammenstellen, damit man sehen kann, was es ist, aber es blieb unvollendet. Die Diskussionslinien jedoch, die notwendig sind, um dem nachzugehen, sind sehr deutlich, zur Untersuchung der Kreativität als solcher und ihres Ausdrucks in der anti-entropischen Natur der Lebensprozesse. Das wird einige ganz besondere geometrische Charakteristiken haben, die sich in der Raum-Zeit dieses Prozesses zeigen werden.

All das ist klar, aber was noch zu tun bleibt ist, daß wir mit Leuten zusammenarbeiten, die auf den richtigen Gebieten Experten sind und das richtige Gefühl für die naturwissenschaftlichen Fragen haben, um die es dabei geht, aber auch ein Gefühl dafür, daß die Lösung im höheren Bereich des menschlichen Geistes liegt. Es müßte ein Kreis von Personen sein, die auch eine gewisse Erfahrung mit klassischen Kompositionen in der Kunst haben, sie vielleicht oft aufgeführt oder Veranstaltungen mit beeindruckenden Aufführungen eröffnet haben.

Es müßte die gleiche Gruppe von Leuten sein, die diese musikalischen Aufführungen durchführen und sich in ihrer freien Zeit mit diesen grundlegenden wissenschaftlichen Diskussionen befassen. Es müßte eine Gruppe von Leuten sein, die sich für genau jene Fragen der Wirtschaft interessieren, für die sich auch Wernadskij interessierte.

Es wäre also eine Gruppe ganz besonderer Art notwendig, wie man sie in der Geschichte nicht oft findet. Und genau solch eine Gruppe wäre bestens in der Lage, die Fäden aufzugreifen und weiterzuspinnen, die uns Einstein und Planck hinterlassen haben, wo sie nicht viel weitergingen, als festzustellen, daß der ganze Ansatz, mit dem die Quantenmechanik an diese Dinge herangeht, falsch ist, und daß der richtige Ansatz einer sein müßte, der den Charakter einer Bach-Fuge untersucht.

Nun, wie gesagt, das blieb unvollendet. Es wird eine ganz besondere Gruppe von Menschen notwendig sein, um das weiterzuverfolgen. Ich denke, Sie verstehen die Idee.

Ich schlage vor, daß wir diese Aufgabe aufgreifen. Wir sind gut aufgestellt, das unter uns zu tun. Und offen gesagt, es gibt niemanden auf diesem Planeten außerhalb unserer Organisation, der in der Lage wäre, diese Fragen zu beantworten. Alles, was danach kam, hat sich als eine Sackgasse erwiesen. Der statistische Ansatz in der Physik hat sich als Sackgasse erwiesen. Es ist kein Zufall, daß dies eng verbunden ist mit dem Versuch eines statistischen Ansatzes - jenem Betrug, der in der Wirtschaft unternommen wurde, weil sich dieses gleiche ideologische Problem überall zeigt. Und die Lösung für all dies wird mit einem Schlag gefunden werden.

Aber das ist eine Diskussion, die wir hoffentlich im weiteren Verlauf dieses Wochenendes führen werden.

Das ist das, was ich bisher habe, und wir können gerne nachher in der Diskussion weiter darauf eingehen.


Den ersten Teil der schriftlichen Dokumentation der Konferenz des Schiller-Instituts finden Sie in der Neuen Solidarität 28/2011, den zweiten Teil mit den Beiträgen über die Notwendigkeit einer Rückkehr zum Glass-Steagall-Trennbankensystem in der Neuen Solidarität 29/2011. Die Video-Mitschnitte der Konferenzbeiträge finden Sie auf der Internet-Seite des Schiller-Instituts.