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Neue Solidarität
Nr. 28, 13. Juli 2011

Das hat Ludwig Erhard nicht verdient!

Von Andrea Andromidas

Buchbesprechung. Kurt Biedenkopf, Wir haben die Wahl, Propyläen, Berlin 2011 - Ludwig Erhard gewidmet.

„Wenn doch in Deutschland wenigstens zwei-, dreimal das Licht ausginge!“ - dieser Stoßseufzer stammt von Prof. Miegel aus einer Artikelserie der Süddeutschen Zeitung im September 2004 über die psychologische Lage der Deutschen, die immer noch nicht bereit seien, die nötigen drastischen „Reformen“ zu akzeptieren. „Maggie Thatcher war auch erst möglich, als die Engländer richtig an der Wand standen. Davon sind wir immer noch weit entfernt. Infolgedessen geht nichts.“1

Selbiger Professor sitzt heute in der Enquete-Kommission gegen Wachstum und ist seit langem ein Mitstreiter des Club-of-Rome-Anhängers Kurt Biedenkopf, um dessen jüngstes Buch Wir haben die Wahl es hier geht - übrigens mit dem bezeichnenden Untertitel „Freiheit oder Vater Staat“.

Beide machen keinen Hehl daraus, daß sie die Errungenschaften der Industriegesellschaft für nicht tragbar für den Planeten halten, daß der daraus erwachsene Lebensstandard schleunigst abgebaut werden muß, bevor diese Erfolgsgeschichte womöglich auf die Entwicklungsländer übergreift, und  daß die Allianz bestimmter Konservativer mit den Grünen aus diesem Grunde längst überfällig ist.

Das neue Buch von Biedenkopf ist eigentlich nichts weiter als eine Propagandaschrift für die im letzten November errichtete Enquete-Kommission, mit dem Titel „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität - Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem  Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“. Im Gegensatz zu dieser sophistisch formulierten Überschrift, die so gewählt wurde, weil man die wirkliche Absicht erst einmal verbergen will, sagt Biedenkopf ziemlich deutlich, was das Resultat dieser Politik sein soll: Mit der Industriegesellschaft wird auch der Sozialstaat verschwinden, und es wird wieder so sein, wie es vorher war. Alle sozialen Belange sind Privatangelegenheit der Familie. Wer das Geld für Bildung und Gesundheit aufbringen kann, wird es sich leisten können - und die anderen eben nicht.

Wer aber hätte gedacht, daß ausgerechnet Ludwig Erhard für diese Kehrtwende herhalten muß? Ist das Niveau der Debatten über Wirtschaft in diesem Land schon derart abgesunken, daß ein Herr Biedenkopf es wagen kann, für seine Politik des Nullwachstums ausgerechnet den Namen zu mißbrauchen, der mit einer der größten Wachstumsphasen Deutschlands verbunden ist?

Damit der Leser eine Idee von der historischen Lüge dieses Unterfangens bekommen kann, will ich den Inhalt der Biedenkopf-Schrift ziemlich kurz zusammenfassen, und dafür etwas länger auf die Politik Ludwig Erhards eingehen.

Wie Professor Miegel sieht auch Biedenkopf in der gegenwärtigen Krise die Chance für die Verwirklichung seiner politischen Ambitionen. Folgende Zitate beinhalten das ganze Programm:

Auf der gleichen Seite ist die Rede von der „Droge“ der Verschuldung und Wachstumsideologie, und ein paar Seiten weiter nennt er es ungerecht und unmoralisch, nach grenzenlosem Wachstum von Wirtschaft und Wohlstand zu streben. Im Gegensatz zu diesem materiellen Wohlstand sei der Zuwachs an Intelligenz dagegen erstrebenswert und machbar.

Bei solch markigen Worten sollte man erwarten, daß Herr Biedenkopf längst den Mut und die Kraft gefunden hat, von den höchsten Höhen herabzusteigen und es einem Diogenes in der Tonne gleichzutun, aber bis jetzt fehlen die Anzeichen dafür.

Schon in den 1970er Jahren, als man noch optimistisch daran ging, die Errungenschaften industriellen Wachstums auf die Entwicklungsländer zu übertragen, schloß Biedenkopf sich dem Chor derer an, die seither das Lied von den Grenzen des Wachstums singen. Damals habe er schon gewarnt, daß ungezügelter Fortschrittswille zu Staatsverschuldung und  Plünderung der Rohstoffe führen müsse. Im Gegensatz zu den Menschen, deren Freiheitsdrang er zutiefst mißtraut, huldigt er der unsichtbaren Hand des Marktes, die schon dafür sorgen wird, daß der Markt „seine Legitimation als Ort der Verwirklichung von Freiheit“ selbst unter Bedingungen einer Mangelwirtschaft finden wird.

Gegen Ende seines Buches, im 8. Kapitel, zeigt Biedenkopf, daß er zu denen gehört, die ganz genau wissen, was die Transformation von einer Industriewirtschaft zu einer Mangelwirtschaft bedeutet. Da heißt es:

Ludwig Erhard: „Wachstum für alle“

Ganz anders Ludwig Erhard, denn er war für die Menschen - für alle Menschen, für den Arbeiter gleichermaßen wie für den Unternehmer. Neben der Tatsache, daß sein Name unzweifelhaft mit der größten Wachstumsperiode Nachkriegs-Deutschlands verbunden ist, wird sich jeder von den Älteren an sein berühmtes Wort vom „Maßhalten“ erinnern. Daraus aber den Schluß ziehen zu wollen, er habe selbst Zweifel an der Richtigkeit seines Wachstumskurses gehabt, war damals so falsch wie heute. Er sagt dazu:2

Nun muß man folgende bedeutsame Feststellung herausheben: Die Rahmenbedingungen der Weltwirtschaft in den Nachkriegsjahren, die den Erfolg Ludwig Erhards ermöglichten, wurden nicht von ihm, sondern ganz entscheidend von Franklin Delano Roosevelt geprägt. Von den vielen Schreiberlingen und anderen Zeitgenossen, die sich mit Erhards Federn zu schmücken trachten und den Begriff der Sozialen Marktwirtschaft beliebig oft strapazieren, spricht keiner über den dramatischen Unterschied zwischen den  gegenwärtigen und damaligen Rahmenbedingungen: Das Bretton-Woods-System, das bis 1971 bestand, war ein System fester Wechselkurse! Das nach seiner Auflösung Schritt für Schritt entstandene Spielkasino gab es damals nicht! Außerdem sorgte das von Roosevelt 1933 eingeführte Glass-Steagall-Gesetz (und entsprechende Gesetze in Deutschland) dafür, daß die Realwirtschaft ganz im Mittelpunkt der zukünftigen Entwicklung stand und Investmentgeschäfte in ihre Schranken gezwungen wurden.

Wieso spricht gerade in Deutschland niemand darüber, daß dieser enorme Einschnitt die Zeit Ludwig Erhards von der unsrigen trennt? Mit der Ablösung des Bretton-Wood-Systems wurde das System fester Wechselkurse aufgehoben. Was hat sich seither geändert? Selbst Biedenkopf nennt die frühen 1970er Jahre als Wendepunkt. Dieser Mangel an Ursachenforschung hat dazu geführt, daß der heute ständig zitierte Begriff der Sozialen Marktwirtschaft gerade in der Debatte der vergangenen Jahre immer mehr zu einer Sprechblase verkommt und längst nichts mehr mit den Anforderungen seines Urhebers gemein hat.

Mehrfach betonte Ludwig Erhard, daß der Begriff „ Soziale Marktwirtschaft“ nur dann zu rechtfertigen sei, wenn ein stetiger wirtschaftlicher Fortschritt der ganzen Bevölkerung zugute kommt:

„Eine Wirtschaftspolitik darf sich aber nur dann sozial nennen, wenn sie den wirtschaftlichen Fortschritt, die höhere Leistungsergiebigkeit und die steigende Produktivität dem Verbraucher schlechthin zugute kommen läßt.“

Sowohl während seiner Zeit als Wirtschaftsminister als auch in der Zeit seiner Kanzlerschaft wurde die intensive Beteiligung des Staats bei Investitionen in die Kerntechnik als selbstverständliche Sicherung künftiger wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit auf den Weg gebracht.

Obwohl Ludwig Erhard prinzipiell nicht daran zweifelte, daß sich dank der fortschreitenden Technik „die Lebensbedingungen der Völker, die die soziale Marktwirtschaft verwirklichen, fortdauernd erweitern und verbessern“ lassen, ist es seiner Herkunft aus der liberalen Wirtschaftsschule zuzuschreiben, daß es gewisse Zweifel gab über die Frage, wie ein stetig zunehmendes qualitatives Wachstum zu erzeugen und die Unsicherheit wiederkehrender Wirtschaftszyklen zu beseitigen sei.

Ludwig Erhard wäre sofort für das Glass-Steagall-Gesetz!

Dieser Unsicherheit stand aber eine sehr entschlossene Haltung allen Versuchen gegenüber, Maßnahmen einzuführen, die nur individuellen Vorteilen, aber nicht dem Wohl der ganzen Volkswirtschaft dienen würden. In der Auseinandersetzung um die Kartellgesetze, die im übrigen durch einen intensiven Dialog mit seinen amerikanischen Gesprächspartnern entstanden, wird deutlich, daß Ludwig Erhard entschlossen war, das ganze Gewicht des Staates einzusetzen, um die Bevorteilung mächtiger Interessen zu verhindern. Der gegenwärtige Zustand, der dadurch gekennzeichnet ist, daß internationale Bankenkartelle die Wirtschaft ganzer Länder zu knebeln versuchen, wäre für ihn nichts weniger als ein Albtraum gewesen.

Zur Freiheit des Wettbewerbs schreibt er:

Die Aufgabe, über die Freiheit des Wirtschaftsprozesses im Interesse seiner Bürger zu wachen, hat der Staat heute längst aufgegeben, und stattdessen hat er diese Freiheitsrechte internationalen Investoren (sie nennen sich „Global Players“) vermacht, damit sie ihr globales Spielkasino betreiben können. Der wirtschaftliche Reichtum, in dem Ludwig Erhard niemals etwas anderes als das gemeinschaftliche Produkt seiner Bürger und die Substanz einer Sozialen Marktwirtschaft schlechthin sah, wurde bereits zu großen Teilen in abenteuerlichen Wettgeschäften regelrecht verspielt. Als wäre das nicht schon schlimm genug, fordert Brüssel jetzt die Ausschlachtung Griechenlands, dann Spaniens, dann Portugals, etc., und Biedenkopf ganz auf der gleichen Linie die Preisgabe der Industriegesellschaft und die Aufgabe der sozialen Errungenschaften. Um es deutlich zu sagen: Das hat mit Sozialer Marktwirtschaft nicht das geringste zu tun, und Ludwig Erhard wird sich im Grabe umdrehen!!


Anmerkungen

1. Deutschlands Neocons, Dr. Böttiger-Verlag, 2005, S. 141.

2. Alle Zitate aus: Ludwig Erhard, Wohlstand für alle, Econ Verlag GMBH Düsseldorf, 1957, 1. Auflage.

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