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Von Dr. Zbigniew Jaworowski
Einschätzung. Der Nuklearexperte Zbigniew Jaworowski beschreibt die tatsächlichen Vorgänge in den japanischen Kernkraftwerken bei Fukushima: Nicht das Erdbeben zerstörte die Kraftwerke, sondern der Tsunami. Aber selbst im Fall einer Kernschmelze droht keine größere Gefahr als 1979 in Three Mile Island.
15. März 2011 - Japan, mitten im sogenannten pazifischen „Feuerkranz“ gelegen, ist seismisch ein extrem instabiles Land. Im 20. Jahrhundert starben allein bei neun großen Erdbeben der Stärke 6 oder mehr auf der Richter-Skala mindestens 158.280 Menschen. Das war in Japan natürlich bekannt, als beschlossen wurde, 55 Reaktoren für 17 Kernkraftwerke zu bauen, die 34,5% der Elektrizität zur Versorgung des Landes erzeugen. Die Anlagen wurden widerstandsfähig genug ausgelegt, damit selbst bei den schlimmsten Erdbeben keine gefährliche Radioaktivität aus dem Kraftwerk entweichen kann.
Das Erdbeben am 11. März 2011 mit der Stärke 9.0, das stärkste in der bekannten Geschichte Japans, zeigte, daß sich die Kraftwerke wie erwartet verhielten. Aus den zerstörten Kraftwerksblöcken von Fukushima entwich keine gefährliche Radioaktivität, und in der Bevölkerung wurde niemand ernsthaft strahlengeschädigt. Die Kernkraftwerke widerstanden zwar einem Erdbeben der Stärke 9.0, doch wogegen sie anfällig waren, war der riesige Tsunami, der bis zu 10 km ins Landesinnere vordrang und dabei die Diesel-Notstromaggregate überschwemmte. Dies führte dazu, daß sich die Reaktorkerne überhitzten.
In den stark betroffenen Präfekturen Miyagi, Fukushima und Ibaraki gibt es elf Kernreaktoren. Jene, die zum Zeitpunkt des Erdbebens in Betrieb waren, wurden automatisch abgeschaltet, als die ersten Erschütterungen auftraten, und die Belegschaft startete die üblichen Prozeduren, um die „Restwärme“ abzuführen, d.h. sie pumpten Wasser in die Reaktordruckbehälter. Aber nach etwa einer Stunde wurden die Notstromaggregate des Kraftwerks Daiichi in Fukushima durch den Tsunami zerstört, die Hochdruck-Notkühlung fiel aus, und noch bevor die mobilen Ersatzgeneratoren zum Einsatz kamen, stieg die Temperatur im Kern des Reaktors 1 so stark an, daß die Zirkonium-Hülle der Brennstäbe mit Wasser reagierte, so daß Wasserstoffgas freigesetzt wurde.
Als dieses Gas am 12. März aus dem Druckgefäß abgelassen wurde, kam es zu einer Wasserstoffexplosion im Reaktorgebäude. Der Reaktordruckbehälter, die primäre Hülle des Reaktorkerns, blieb dabei unbeschädigt.
Bei diesem kritischen Vorgang wurden mehrere Personen verletzt, aber es kam nicht zur Freisetzung großer Mengen an Radioaktivität. Die Konzentration von Cäsium-137 und Jod-131 stieg unmittelbar nach der Explosion an, ging aber innerhalb weniger Stunden wieder zurück. Der Vorgang wiederholte sich am 14. März bei einer Explosion in Block 3 des Kraftwerks Daiichi in Fukushima. Das Reaktorgebäude wurde zerstört, aber auch hier blieb der Reaktordruckbehälter intakt, und die von den Brennstäben des Kernkraftwerks freigesetzte Radioaktivität wurde im Druckbehälter zurückgehalten.
Zwei Vorsichtsmaßnahmen wurden von den Behörden ergriffen. Die eine war die Evakuierung von etwa 200.000 Bewohnern aus zehn Städten in der näheren Umgebung des Kraftwerks, die zweite die Ausgabe von 230.000 Jodtabletten an die Evakuierungs-Zentren in der Region um die Kernkraftwerke Fukushima Daiichi und Fukushima Daini. Die Jodtabletten wurden bisher aber noch nicht an die Bewohner ausgeteilt, weil das nicht notwendig war.
Man kann sich vorstellen, was im Fall einer Kernschmelze in den Kernkraftwerken Fukushima Daiichi und Fukushima Daini geschehen würde. Wir wissen, was 1979 nach der Kernschmelze im Kernkraftwerk Three Mile Island und 1986 bei der Katastrophe in Tschernobyl geschah. In Japan wären die Folgen ähnlich wie im Kernkraftwerk Three Mile Island, wo der Reaktorkern durch eine dicke Betonhülle geschützt war, die die Kernspaltungsprodukte wirksam zurückhielt. Außer ungefährlichen radioaktiven Edelgasen wurden fast keine Radionuklide in die Atmosphäre freigesetzt, und die Bevölkerung war praktisch keiner zusätzlichen radioaktiven Belastung durch den Unfall ausgesetzt.
Es ist völlig ausgeschlossen, daß sich in Japan ein Szenario wie im Kernkraftwerk Tschernobyl wiederholt, das keine Schutzhülle hatte und wo zehn Tage lang ungehindert Radioaktivität aus dem geschmolzenen Reaktorkern entweichen konnte, weil das zu seinem Bau verwendete Graphit brannte.
Doch selbst wenn die Schutzhülle der japanischen Kernkraftwerke zerstört werden sollte, würden die Bewohner der umliegenden Gebiete nicht durch Radioaktivität geschädigt werden. Das haben wir bei der Katastrophe von Tschernobyl gelernt, bei der, wie das Wissenschaftliche Komitee der Vereinten Nationen über die Wirkung atomarer Strahlung kürzlich in einem Bericht feststellte1, kein einziger Zivilist zu Tode kam, denn die Dosis des Fallouts von Tschernobyl (ungefähr 1 mSv pro Jahr) lag noch unter der natürlichen Strahlungbelastung - zu gering, um schädigend zu wirken.
Zbigniew Jaworowski ist ein multidisziplinärer Wissenschaftler, der mehr als 300 wissenschaftliche Schriften, vier Bücher und Dutzende populärwissenschaftlicher Artikel veröffentlicht hat. Er war ab 1973 Mitglied des Wissenschaftlichen Komitees der Vereinten Nationen über die Wirkung atomarer Strahlung (UNSCEAR), die er von 1980-1982 leitete. Lesen Sie auch seinen Aufsatz „Weißrußland: Einwohner dürfen in Tschernobyl-Sperrzone zurückkehren“, Neue Solidarität 33/2010 (http://www.solidaritaet.com/neuesol/2010/33/tschernobyl.htm).
Anmerkung
1. UNSCEAR 2011, Sources and Effects of Ionizing Radiation. Vol. II. Annex D, Health effects due to radiation from the Chernobyl accident, pp. 1-173. United Nations.