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Kernkraft. Dr.-Ing. Urban Cleve war Hauptabteilungsleiter für Technik der BBC/Krupp Reaktorbau GmbH. Diese Gesellschaft hatte den Auftrag, den AVR in Jülich zu errichten. Er hielt am 29. September bei einem Seminar der Nachrichtenagentur EIR in Frankfurt einen Vortrag über den von Prof. Rudolf Schulten entwickelten Hochtemperaturreaktor.
„Technik und künftige Einsatzmöglichkeiten nuklearer Hochtemperaturreaktoren“ lautete der Titel eines Vortrags, den der Kerntechniker Dr.-Ing. Urban Cleve am 29. September in Frankfurt im Rahmen des EIR-Seminars „Jahrhundertprogramm für den Wiederaufbau der Weltwirtschaft: NAWAPA - Beringstraße - Eurasische Landbrücke“ hielt, „in dem ich“, so Dr. Cleve, „nachweisen kann, daß die Hochtemperaturreaktortechnik heute noch immer aktuell ist und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bald den Nachweis erbringen wird, daß die Gedanken und Überlegungen, die Prof. Dr. Schulten als junger Ingenieur in den fünfziger Jahren hatte, richtig und zukunftweisend sind und sein werden.“ Dr. Cleve war, wie er berichtete, als Hauptabteilungsleiter für die gesamte Technik am AVR-Reaktor in Jülich tätig und damit - in enger Zusammenarbeit mit Prof. Rudolf Schulten - für den Bau des Reaktors, alle Prüfungen und die Inbetriebnahme bis zur Übergabe an den Kunden verantwortlich.
Zunächst skizzierte Dr. Cleve die energiepolitische Aufgabenstellung, wie man sie in der Zeit des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg verstand: Strom sollte möglichst preiswert für Industrie und Haushalte zur Verfügung gestellt werden, es sollte Versorgungssicherheit hergestellt werden, und die vorhandenen Brennstoffe und deren Ressourcen sollten bei der Strom- und Energieerzeugung, sowie in Haushalten und Verkehr energiepolitisch optimal genutzt werden.
Bei der Entwicklung des Hochtemperaturreaktors habe sich Prof. Schulten von einer Reihe verfahrenstechnischer Grundüberlegungen leiten lassen, u.a. der Möglichkeit, neben Uran-235 auch Thorium als nuklearen Brennstoff zu nutzen, die Brennelemente während des laufenden Betriebs kontinuierlich zuführen und abziehen zu können, durch den Einsatz von Graphit als Moderator hohe Betriebstemperaturen und höchste thermodynamische Wirkungsgrade zu ermöglichen, und eine inhärente Sicherheit des Reaktors zu erreichen, damit ein „GAU“ auch bei komplettem Ausfall der Kühlung nicht eintreten kann.
„Es waren geradezu visionäre Überlegungen, die zum Erfolg dieser Technik führten, denn alle vorgenannten Überlegungen sind auch heute noch, also nach 60 Jahren, uneingeschränkt gültig“, konstatierte Dr. Cleve. Noch Ende der neunziger Jahre, bei der auf politischen Druck erfolgten Stillegung des AVR und des THTR, habe Deutschland in dieser Technik eine weltweit führende Position innegehabt. Die jährliche Betriebsverfügbarkeit des Reaktors betrug bis zu 92% - für einen völlig neu konzipierten Reaktor sicher ein Weltrekord.
Dr. Cleve beschrieb dann die wichtigsten technischen Probleme bei der Umsetzung des von Prof. Schulten entwickelten Konzepts: „Alle Komponenten des Reaktors mußten ohne jegliches Vorbild und ohne vorliegende Erfahrungen neu konstruiert werden. Sie wurden in Versuchsanlagen unter normalen Bedingungen erprobt.“ Dabei habe sich gezeigt: „Erproben und Prüfen bis zur endgültigen Sicherheit, daß alle Probleme erkannt und gelöst sind, ist die entscheidende technische Grundlage für erfolgreiche Entwicklungen.“
Einen wesentlichen Fortschritt habe die in internationaler Zusammenarbeit erfolgte Entwicklung der kugelförmigen, beschichteten Brennelemente bedeutet. „Der Erfolg dieser Entwicklung läßt sich am besten darstellen, wenn man die ursprüngliche Auslegung des Kühlkreislaufes, also des Heliums im AVR Reaktor betrachtet. Die Radioaktivität wurde anfänglich mit 107 Curie ermittelt. Die dann tatsächlich später gemessene Radioaktivität betrug nur noch 360 Curie.“
Der so konzipierte Versuchsreaktor in Jülich sei dann von 1966 bis 1988 im Betrieb gewesen. Dr. Cleve: „Die Abschaltung erfolgte allein aus politischen Gründen. Es bestanden keine technischen und schon gar nicht sicherheitstechnische Bedenken. Auch eine sicherheitstechnische Nachrüstung war nicht erforderliche, da in den 22 Betriebsjahren keine nicht lösbaren Probleme aufgetreten sind und/oder nennenswerte technische Verbesserungen nicht erforderlich waren. Alles war von Anfang an bestens durchdacht.“
Zweimal - 1967 und 1979 - habe man den „GAU“ geprobt - den größten anzunehmenden Unfall, der dann zu erwarten ist, wenn die Brennelemente nicht mehr gekühlt werden und alle Sicherheitsvorrichtungen versagen.
„Wir erprobten also die von Schulten erdachte inhärente Sicherheit des Reaktorkonzeptes, das den Eintritt eines ,GAU’ ausschließt... Der Reaktor wurde auf volle Betriebsleistung von 15 MWel und der vorgegebenen Betriebstemperatur von 850°C hochgefahren, dann wurden alle Sicherheitseinrichtungen blockiert, die Kühlgasgebläse abgeschaltet. Wie vorberechnet wurde der Reaktor in einigen Tagen von selbst kalt, durch Abfuhr der Restwärme des Cores nach außen... Dies war der erste GAU in einem Kernkraftwerk weltweit, niemand hat davon etwas gemerkt, keine Strahlung drang nach außen und das Betriebspersonal konnte unbehelligt in der Warte den Ablauf dieses Experimentes beobachten.“
Dr. Cleve stellte fest: „Der HTR ist bis heute das einzige Reaktorkonzept, bei dem ein solcher Unfall aus nuklear-physikalischen Gründen ausgeschlossen ist. Daß man dies in der Politik und der öffentlichen Meinung praktisch totschweigt, ist jedem Fachmann unverständlich.“
Lediglich der Dampferzeuger mit seinen mehreren hunderttausend Schweißnähten sei ein kritisches Element, „da bei einer Undichtigkeit Wasser in das Helium eindringen konnte, was eine totale Abschaltung des Betriebes erfordert hätte... Selbstverständlich wurden in vielen Berechnungen, Studien und Untersuchungen die Auswirkungen eines solchen Wassereinbruchs in das System berechnet... Tatsächlich ist diese Störung dann auch eingetreten.“
Alle Untersuchungen hatten aber schon zuvor gezeigt, daß eine nuklear bedenkliche Störung nicht eintreten kann. Das habe sich bestätigt: „Ein sicherheitstechnisches Problem bestand nicht. Nach der siebenstufigen Internationalen Bewertungsskala für Störungen und Störfälle in kerntechnischen Anlagen ist sie in die Kategorie 1 ,Störung’ einzuordnen. Betrieblich gesehen negativ war die lange Stillstandszeit von mehreren Monaten zur Behebung des Schadens.“
Nicht ohne Stolz konstatierte Dr. Cleve in Bezug auf den AVR Jülich: „Der Betrieb des AVR war eine wohl für eine Erstausführung einmalige Erfolgsgeschichte. Es ist kein einziger ,Strahlenunfall’ vorgekommen. In 22 Betriebsjahren ist kein Mitarbeiter einer zu hohen Strahlendosis ausgesetzt gewesen. Die Abgabe von radioaktiven Stoffen an die Atmosphäre war gering, in keinem einzigen Fall ist es zu einer Überschreitung der zulässigen Dosen gekommen. Alle, natürlich nicht 100% vermeidbaren Betriebs-,Störungen’, mit Ausnahme der des Dampferzeugers, können nach der Bewertungsskale mit ,0’ - keine oder sehr geringe sicherheitstechnische Bedeutung - bewertet werden.“
Sehr bald danach habe man mit den Planungen für einen Nachfolgereaktor mit einer Leistung von 300 MWel begonnen, wobei sich aufgrund des Größenunterschiedes einige technische Probleme ergaben, insbesondere mit der physischen Beanspruchung der Abschalt- und Regelstäbe im äußeren Graphitreflektor. Man habe dann entschieden, die Abschaltstäbe direkt in das Kugelbett einzufahren.
„Dies führte zu einer sehr schwierigen Konstruktion dieser Stäbe und der Gefahr der Zerstörung der Brennelemente. Es wurde erkannt, daß ein Reaktor dieser Größe gebaut werden mußte, um feststellen zu können, ob diese Konstruktion technisch überhaupt realisierbar war... Nach Stillegung des AVR, also 23 Jahre später, hat sich dies als Irrtum erwiesen, denn die Graphiteinbauten waren nach 22 Betriebsjahren praktisch wie neu. Kein einziger Block hatte sich auch nur um 1 mm verschoben. Mit dieser Erfahrung hätte eine andere Konstruktion eingesetzt werden können, mit der die entstandenen Schwierigkeiten vermieden worden wären.“
Leider seien dann die befürchteten Probleme bei der Inbetriebnahme des THTR-300 tatsächlich eingetreten. „Die hierdurch bedingten Schwierigkeiten beim Betrieb des Reaktors wurden beherrscht. Der Reaktor war immerhin drei Jahre in Betrieb. Ein Vergleich der Bruchraten zwischen AVR und THTR veranschaulicht die Problematik. Die Bruchrate pro umgewälztem Brennelement lag beim AVR bei 0,0092 %, beim THTR bei 0,6%. Diese war natürlich viel zu hoch. Alleinige Ursachen waren die Abschaltstäbe und die neue Abzugsvorrichtung.“
Trotzdem sei auch der THTR in Hamm-Uentrop ein Erfolg gewesen: „Alle anderen Komponenten arbeiteten einwandfrei. Der THTR war drei Jahre mit 16.000 h in Betrieb. Diese Betriebszeit war ausreichend, um alle Erkenntnisse und Erfahrungen zum Bau weiterer Reaktoren zu erhalten. Besonders wichtig war das Ergebnis, daß die Dampferzeugung mit höchsten thermodynamischen Wirkungsgraden einschließlich der Zwischenüberhitzung problemlos funktionierte. Die Betriebsergebnisse beim An- und Abfahren der Anlage und im Regelbetrieb waren voll vergleichbar mit denen konventioneller Kraftwerke. Es trat auch, wie beim AVR, keine einzige sicherheitstechnisch relevante Störung auf. Das Betriebspersonal wurde trotz der eingetretenen Probleme nicht unzulässig hoch belastet.“
Dr. Cleve hob noch einen anderen Aspekt hervor: „In der Öffentlichkeit ist es kaum bekannt, daß der stillgelegte Reaktor den Nachweis erbringt, daß der Spannbetonbehälter das sicherste Endlager für strahlende Komponenten ist. Sicherer geht es ingenieurtechnisch nicht. Außerhalb des Spannbetonbehälters ist keine Strahlung mehr meßbar. Ein schönes Restaurant auf dem Dach gebaut, mit herrlichem Blick in das Münsterland, wäre sicher eine prima Endlösung.“
(Der vollständige Text des Vortrags von Dr. Cleve wird demnächst in der Zeitschrift Fusion veröffentlicht.)
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