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Im Wortlaut. Bei der Winter-Akademie der LaRouche-Jugendbewegung in Mainz sprach Helga Zepp-LaRouche am 28. Dezember 2009 über die Bedeutung der klassischen Kunst in der heutigen weltweiten Zusammenbruchskrise.
Jetzt ist die Frage: Was ist notwendig, damit wir die Leute, die auf diese lineare Weise denken, befreien können? Lyn sagt immer, die Mathematik sei dazu vollkommen ungeeignet, weil mathematische Modelle keine Kreativität darstellen, sondern er sagt, auch der Weg zu großen wissenschaftlichen Entdeckungen führt über die große klassische Kunst.
Das ist wahr. Denn wie kann man jemandem vermitteln, daß er plötzlich Hypothesen denkt? Daß man nicht zufrieden ist mit der jetzigen Gesamtmenge des Wissens, sondern wie kann man lernen, den notwendigen nächsten Schritt zu definieren? Genau das hat auch Nikolaus von Kues gesagt: Jeder individuelle Mensch reproduziert mit seinem Leben die Gesamtevolution, d.h. wenn die Menschheit sich weiterentwickelt, rekapituliert jeder Mensch die Entwicklung der Universalgeschichte bis zu diesem Zeitpunkt - natürlich nur, wenn er sich entwickelt. Wenn man das tut, kann man mit absoluter Präzision bestimmen, wo der nächste Schritt der Entdeckung ist. Das hat er im 15. Jahrhundert gedacht! Ich finde, das ist eine absolut phantastische Sache.
Das kann man lernen. Man kann seinen Geist trainieren, so zu denken, und die große klassische Kunst ist der einzige Ort, wo das geschieht. Das ist der Grund, warum wir so absolut emphatisch gegen die moderne Jugendkultur sind: gegen Rockmusik, gegen Rap, Punk und alle Varianten, Gothic oder ähnliches, Hip-Hop. Disco ist schlecht, Drogen sind schlecht. Alle diese Sachen sind katastrophal. Warum? Weil sie das kognitive Element im menschlichen Geist kaputt machen. Es ist nicht so, daß wir den Leuten die Freude nicht gönnen, aber diese Kultur richtet etwas im Kopf an, was genau diese Qualität zerstört.
Lyn hat in seinen früheren Schriften oft gesagt, daß eine Gesellschaft nur dann gerettet werden kann, wenn sie lernt, klassisch zu denken. Doch wie soll man das bewirken, wenn die meisten Leute gar nicht mehr wissen, was Klassik ist? Es sind inzwischen zwei Generationen herangewachsen, die keine Idee mehr haben von Lessing, von Mörike, von Schiller, von Humboldt. Dann stellt sich wirklich die Frage: Wie kann man das, mindestens in der Jugend, wieder bekannt machen?
Die deutsche Klassik war die letzte Periode, wo dieses Denken existierte. Mit Heine war die deutsche Klassik eigentlich schon vorbei. Ihre Ausläufer waren noch Schubert, Schumann, Brahms und die Vertonungen, die sie gemacht haben; mindestens ein Gedicht von Mörike und Wolf hat es in die Schriften von Lyndon LaRouche geschafft - dank meiner stetigen Bemühungen (Heiterkeit). Aber danach kam nicht mehr sehr viel. Vielleicht gab es hier und da noch etwas, das nicht ganz schrecklich war, aber seit fast 200 Jahren ist diese Tradition abgebrochen. Ich habe oft gesagt, man solle am besten eine große Klammer um diese ganze Zeit machen und wieder zu der Zeit davor zurückkehren, dort anknüpfen und wieder etwas Neues aufbauen. So hat man wesentlich mehr Chancen, die Probleme von heute zu lösen.
Warum ist die Klassik so ungeheuer wichtig gewesen? Alle Hochphasen in der Geschichte sind immer dadurch zustande gekommen, daß man sich nach einem finsteren Zeitalter, also etwa nach dem 14. Jahrhundert in Europa, auf die Hochphasen davor bezogen hat - also die Italiener auf die griechische Klassik, die deutsche Klassik auf die italienische Renaissance und auf die griechische Antike -, um daraus etwas Neues zu schaffen.
Deshalb war es ganz wichtig, daß sich die Menschen nach dem schrecklichen Dreißigjährigen Krieg und nach dem Siebenjährigen Krieg in Deutschland ganz bewußt auf die griechische Klassik zurückbezogen haben, die Idee, daß Schönheit, Wahrheit und das Gute identisch sind. Auch Shakespeare spielte eine wichtige Rolle, um die großen historischen Themen wieder auf die Bühne zu bringen.
Schiller und Goethe - trotz aller Kritik, die ich immer an Goethe geübt habe - haben sich in den zehn Jahren ihrer Zusammenarbeit um die Herausarbeitung allgemeingültiger ästhetischer Gesetzen gekümmert, die genauso universell sind wie universelle wissenschaftliche Entdeckungen, d.h. das, was in der Kunst gilt, ist genauso ein universelles Prinzip wie in der Wissenschaft. Dazu kommt noch die spielerische Fähigkeit, etwas Neues zu entdecken.
Ich möchte mich im folgenden auf ein kleines Kunstwerk beschränken, das ich euch näher bringen möchte, wo in wunderbarer Weise zum Ausdruck kommt, um was es bei der klassischen Methode eigentlich geht. Das ist ein Gedicht von Schiller, es heißt Nänie.
Ich will es erst einmal vortragen, und dann können wir sehen, was alles in diesem Gedicht steckt, denn ich bin mir sicher, daß sich das nicht auf den ersten Blick erschließt.
Friedrich Schiller
Nänie
Auch das Schöne muß sterben! Das Menschen und Götter bezwinget,
Nicht die eherne Brust rührt es des stygischen Zeus.
Einmal nur erweichte die Liebe den Schattenbeherrscher,
Und an der Schwelle noch, streng, rief er zurück sein Geschenk.
Nicht stillt Aphrodite dem schönen Knaben die Wunde,
Die in den zierlichen Leib grausam der Eber geritzt.
Nicht errettet den göttlichen Held die unsterbliche Mutter,
Wann er, am skäischen Tor fallend, sein Schicksal erfüllt.
Aber sie steigt aus dem Meer mit allen Töchtern des Nereus,
Und die Klage hebt an um den verherrlichten Sohn.
Siehe! Da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle,
Daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt.
Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten, ist herrlich,
Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.
Haben das alle verstanden? (Heiterkeit.)
Einwurf aus dem Publikum: Es müßten einige Wörter geklärt werden, z.B. stygisch.
Zepp-LaRouche: Das bezieht sich auf den Fluß in der Unterwelt, im Hades. Und Zeus ist der Herrscher der Schattenwelt.
Einwurf aus dem Publikum: Die ersten vier Zeilen, glaube ich, haben mit einem Mythos zu tun. Ein Mann hat seine Geliebte verloren, und man hat ihm erlaubt, sie aus der Unterwelt zurückzuholen. Doch er hat die Bedingungen dafür nicht erfüllt...
Zepp-LaRouche: Das ist der Mythos von Orpheus und Eurydike, den ich ein wenig beschreiben will. In der Sage hat Orpheus von Apollon die Gabe des wunderbaren Gesanges geschenkt bekommen hat, und auch sein Saitenspiel war von einer so wunderbaren Kraft, daß, wenn er im Wald spielte, die Tiere gekommen sind und ihm verzückt zugehört haben; selbst die Bäume und leblosen Steine sind von der Zaubergewalt der Schönheit seiner Musik bewegt worden. Er verliebte sich in Eurydike, eine Flußnymphe, und heiratete sie, doch das Glück wurde sehr schnell zerstört, denn sie ging eines Tages mit den anderen Nymphen spazieren und wurde von einer giftigen Schlange gebissen und starb.
Einwurf aus dem Publikum: Was sind Nymphen genau?
Zepp-LaRouche: Das sind Meeresjungfrauen, die z.T. auch auf der Erde wohnten, aber hauptsächlich lebten sie am Meer und im Meer. Die Meerjungfrau von Kopenhagen ist eine solche Figur. Sie haben je nach Sage oft eine Flosse, der Oberkörper ist aber wie beim Menschen, und es gibt Meeresnymphen, Flußnymphen usw.
Orpheus war über den Verlust von Eurydike vollkommen verzweifelt, und konnte sich nicht fassen. Er versuchte, zu spielen und zu singen, aber der Schmerz überwältigte ihn, und weder sein Lied noch sein Gebet brachten seine Gattin zurück. Da faßte er einen Entschluß, den zuvor noch kein Mensch je gefaßt hatte: Er stieg in das Reich der Toten selbst hinab, um sie zurückzuholen. Im Tartaros, der Unterwelt, umschwebten ihn alle Schatten, aber er geht mutig hindurch, bis er vor dem Thron des Herrschers der Schatten steht. Dort spielt er seine Leier und singt von seiner unendlichen Liebe zu seiner schönen Gattin und von seinem unendlichen Schmerz, der stärker sei, als irgendein Mensch es ertragen könnte. Er ruft Hades, den Herrscher der Schattenwelt, an und erinnert ihn darin, daß er selber sich von der Liebe hatte bezwingen lassen, als er Persephone, eine andere mythologische Figur, geraubt und sie zu seiner Gemahlin gemacht hätte.
In der Sage wird überliefert, daß so etwas im Hades noch nie vorgekommen sei. Alle scharen sich um Orpheus: Tantalus, der sich nach einer unerreichbaren Wasserquelle bückt, die Danaiden, die zur Strafe für ihre Sünden ein durchlöchertes Faß füllen müssen, Sisyphus, der ständig einen Felsblock einen Hügel hinaufwälzen muß, der aber immer wieder zurückfällt (wonach die Sisyphus-Arbeit benannt ist) - sie alle kommen wegen der Zaubertöne des Gesangs herbei und hören zu. Selbst die furchtbaren Eumeniden, die Rachegöttinnen, die wir bereits gestern in den Kranichen des Ibykus kennengelernt haben, waren zu Tränen gerührt.
So etwas war noch nie dagewesen, und auch das finstere Herrscherpaar war von Mitleid und der Schönheit des Gesanges überwältigt. Persephone rief schließlich Eurydikes Schatten herbei und sagte zu Orpheus: Deine große Liebe hat uns bewegt und wir erfüllen deine Bitte; deine Gattin kann dir in die Oberwelt folgen, aber nur unter einer Bedingung: Du mußt ohne dich umzublicken zurückgehen; wenn du dich auch nur einmal umschaust, ist Eurydike verloren.
Orpheus geht los und hört nichts von Eurydike, weil sie ein Schatten ist, bekommt immer mehr Angst und Sehnsucht, und kann nicht an sich halten. Verzweifelt schaut er, ob sie auch wirklich hinter ihm herkommt. In dem Augenblick sieht er sie, schaut sie traurig und zärtlich an, doch in dem Augenblick, wo er sie umarmen will, verschwindet sie, und er greift ins Leere.
Er ist vollkommen von Sinnen, stürzt zurück zum Styx, dem Fluß, der Ober- und Unterwelt voneinander trennt, und weint sieben Tage und sieben Nächte. Mit Bitten und Klagen versucht er neue Milde zu erreichen, aber die Götter bleiben unerbittlich. - Das ist eine wunderschöne Sage.
Wißt ihr, was Nänie bedeutet? Nänie ist das Wort für Totenklage. Jedesmal, wenn eine große Figur in der griechischen Mythologie starb, wurde eine Totenklage erhoben, die so zu einer antiken Gattung der Dichtkunst wurde.
Bei Schiller geht es in der Nänie nicht um den Verlust von realen Personen, sondern um den Verlust der genannten mythologischen Figuren. Das Gedicht beginnt mit einem sehr emotionalen Anruf, der das Publikum direkt anspricht: „Auch das Schöne muß sterben!“ Das ist etwas, was jeder Mensch schon einmal schmerzlich empfunden hat. Das ist eine universelle menschliche Regung. Schiller redet über den Verlust von Schönheit, nicht den Verlust von Personen, und kommt zu einem überraschenden Ende.
Zunächst stirbt das Schöne, dessen Macht sogar Menschen und Götter bezwingen kann, und diese These wird durch drei Beispiele aus der antiken Mythologie belegt: Orpheus und Eurydike sind dabei gewissermaßen nur eine Metapher:
Nicht die eherne Brust rührt es des stygischen Zeus.
Einmal nur erweichte die Liebe den Schattenbeherrscher,
Und an der Schwelle noch, streng, rief er zurück sein Geschenk.
In drei knappen Zeilen wird die Erinnerung, die Kathexis, von dieser Sage wachgerufen. Das nennt man eine Metapher, d.h. man erzählt nicht die ganze längere Geschichte, sondern setzt das in einem gebildeten Publikum als bekannt voraus. Schiller hat viele Beispiele aus der griechischen Mythologie benutzt, und zu seinen Zeiten war das Publikum viel gebildeter als zu unseren Zeiten.
In Vers sechs und sieben folgt der Hinweis auf den Mythos von Aphrodite, der Göttin der Schönheit, und ihrem Liebhaber, dem schönen Jüngling Adonis, der von einem Eber tödlich verwundet wurde.
Nicht stillt Aphrodite dem schönen Knaben die Wunde,
Die in den zierlichen Leib grausam der Eber geritzt.
Aphrodite ist die Göttin der Liebe und der Schönheit, und Adonis wird als schön und zierlich beschrieben. Hier geht es also um die körperliche Schönheit, während es vorher um die Liebe ging.
In Vers acht und neun kommt der Hinweis auf Achilles’ Tod vor Troja. Achilles war in der griechischen Mythologie der Sohn der Thetis, die ihrerseits die Tochter des Nereus und Frau des Peleus war. Achilles wird von Schiller als der göttliche Held bezeichnet. Die Schönheit von Achilles liegt wieder auf einer anderen Ebene, nämlich der des Charakters: die Schönheit der Tugend und vor allem der Tapferkeit. Er hat gekämpft, und selbst seine unsterbliche Mutter konnte ihren Sohn nicht retten.
In Zeile zehn und elf taucht eine Art Gegenthese auf: „Aber sie - die unsterbliche Mutter - steigt aus dem Meer mit allen Töchtern des Nereus, und die Klage hebt an um den verherrlichten Sohn“ - die Todesklage für Achilles.
Was passiert jetzt?
Siehe! Da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle,
Daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt.
Klassische Form
Dieses kleine Gedicht ist ein absolut klassisches Gedicht. Es hat alle Merkmale, die zu einem klassischen Gedicht gehören. Schiller verwendet hier den Kunstgriff, daß er z.B. die Zusammengehörigkeit von drei völlig verschiedenen Mythologien dadurch ausdrückt, daß er dreimal den Satz mit „nicht“ beginnt: „Nicht die eherne Brust rührt es... Nicht stillt... Nicht errettet...“ Durch die Verneinung der erwünschten Unsterblichkeit in Form einer Inversion - normalerweise beginnt ein Satz in seinem grammatischen Aufbau nicht mit „nicht“, wird klar: diese drei Dinge haben etwas miteinander zu tun.
Sehr groß ist auch die Übereinstimmung von Form und Inhalt, denn wenn man sich das Versmaß betrachtet, stellt man fest, daß es sich hier um die berühmten Distichen handelt. Ein Distichon ist eine Abwechslung von Hexameter und Pentameter, wobei die Hexameter vorherrschend Daktylen mit fließendem Charakter sind - das kann man hier sehr schön nachvollziehen -, während der Pentameter ein Symbol der Begrenzung ist. Dadurch stellen Hexameter und Pentameter eine Einheit dar.
Die Zeilen „Einmal nur erweichte die Liebe den Schattenbeherrscher“ ist ein Hexameter, der Rhythmus ist fließend, während die Zeile „Und an der Schwelle noch, streng, rief er zurück sein Geschenk“ ein ganz anderer Rhythmus ist. Die Begrenzung wird dadurch hervorgehoben, daß die Zäsur in der Mitte bei dem „streng“ liegt, was die Ausnahme betont, die der Herrscher der Schattenwelt gewährt hat. „Einmal nur erweichte die Liebe...“: die Ausnahme wird sofort auch von der Form her wieder zurückgenommen.
Das ist höchste dichterische Meisterschaft. Das Tolle an der Dichtung ist ja gerade, daß sie „dicht“ ist, gedichtet, verdichtet. Das ist wunderbar!
Noch ein anderer Punkt ist wichtig, der in dem Gedicht zum Ausdruck kommt. Das ist die klassische Auffassung, wie man mit Schmerz, mit Trauer umgeht.
Ich würde euch zur Vertiefung dieser Idee vorschlagen, daß ihr einmal lest, was Winckelmann und Lessing über die sog. „Laokoon-Gruppe“, die jetzt im Vatikan steht, geschrieben haben. Die im klassischen Griechenland entstandene Statue zeigt einen Vater mit zwei Söhnen, der mit Schlangen und Drachen kämpft und offensichtlich großen Schmerz erleidet.
Winckelmann und Lessing haben beide sehr viel Wert darauf gelegt, den Künstler dieser Statue zu verteidigen, der den Gesichtsausdruck des Vaters, der schrecklichen Schmerz leidet, fast vergeistigt ausgedrückt hat. Lessing sagt, wenn der Bildhauer den Laokoon so dargestellt hätte, daß dieser den Schmerz einfach nur so herausbrüllte - so wie es Aristoteles wollte, eine Haltung, die Schiller auch in Bürgers Gedichten angreift: „Ausschreien muß ich meinen Schmerz, äääh“ (Heiterkeit) - was ist dann mit dem Mund? Ein häßliches Loch, wo die Zähne zu sehen sind, oder was immer man da sieht.
Schiller hat in seiner Schrift Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen genau dieses Thema behandelt, daß man sich bei der Darstellung von etwas Gemeinem nicht auf die ganz gemeine Ebene herablassen dürfe. Wenn man also vom klassischen Standpunkt etwas Schlechtes darstellen will, darf man nicht die Häßlichkeit selber darstellen, oder man zerstört den Anspruch, daß die klassische Kunst das Böse durchgearbeitet und vergeistigt haben muß. Der Schauspieler, der auf die Bühne tritt und Schmerz, Haß, Wut, alle diese Dinge darstellen will, der darf nicht aus der Rolle fallen, sondern muß diese Gefühle vorher intellektuell erarbeitet haben, um sie dann abgeklärt abrufen zu können, oder er kann sie benutzen, um etwas intellektuell klar zu machen. Keinesfalls darf er die Gefühle einfach so rauslassen.
Das ist bei Schillers Gedicht genauso. Einerseits wird das Publikum angesprochen, sich damit zu identifizieren, und zwar an zwei Stellen: „Auch das Schöne muß sterben...“ aber auch später: „Siehe, da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle...“ Durch die Wiederholung „Es weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle“ wird das noch verstärkt.
Doch dann kommt die große Überwindung, denn das Schöne, das ja gestorben ist, ist plötzlich wieder da, und zwar in der Schönheit des Gesangs: „Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten, ist herrlich“. Die Schönheit ist also gar nicht gestorben, sondern das Klagelied ist schön. Mit anderen Worten, die Schönheit wird unsterblich.
Es geht in diesem Gedicht also gar nicht um den Verlust des Schönen, sondern es geht um die Schönheit der Klagelieder und die Schönheit in der Dichtung. Das ist eine ganz unglaubliche Sache. Gerade dadurch, daß es kontrastiert ist - „denn das Gemeine geht klanglos den Orkus hinab“ - wird es auf eine unantastbare Ebene gestellt. Genau das macht dieses Gedicht von Form und Inhalt her so makellos schön. Schiller sagt auch, daß eigentlich jedes Schöne unsterblich wird. Z.B. sagt er in Die Jungfrau von Orleans, einem sehr persönlichen Gedicht, über die Johanna: „Dich schuf das Herz, du wirst unsterblich leben“.
Nänie ist ein Gedicht, das vom Standpunkt der Klassik perfekt ist. Es könnte nicht besser sein. Es ist kein Wort zuviel, es ist auf engstem Raum verdichtet, und besitzt die wichtige Überwindung auf eine höhere Ebene. Da, wo der Tod das Schöne schon vernichtet hat, erscheint dieses wieder in der Schönheit des Gesanges. Das gilt nicht nur für die Dichtung, sondern es gilt für jeden Menschen, der die vollkommene Schönheit in seinem Leben, d.h. die Unsterblichkeit, irgendwie repräsentiert hat.
Das ist das, worum wir kämpfen. Wir wollen keine Leute sein, auf deren Grabstein irgendwann einmal steht: Er oder sie haben soundsoviele Kaviar-Brötchen gegessen, soundsoviele Pelzmäntel getragen und soundsoviele Ferraris gefahren. Sondern wir wollen, daß wir mit unserem Leben etwas dazu beitragen, daß zukünftige Generationen reicher und stärker und vermehrt den Fortschritt der Menschheit fortsetzen können.
Das hat etwas mit der Entwicklung der Seele zu tun, deren Unsterblichkeit Nikolaus von Kues meiner Meinung nach hinlänglich bewiesen hat. Er sagte, die Seele sei der Ort, wo die schönen Künste entstehen, wo die Wissenschaft entsteht, wo die Musik entsteht, wo die Entdeckungen in allen Wissensbereichen entstehen. Die Seele ist der Ort, der all das schafft. Es entsteht nirgendwo anders als in der menschlichen Seele bzw. in der kognitiven Vernunft, was dasselbe ist. Die Tatsache, daß das, was die Seele schafft, ewig existiert, ist der Beweis dafür, daß das, was etwas schafft - was von einer viel höheren Ordnung sein muß als das, was das Produkt ist -, unsterblich ist, d.h. noch mehr ist als das, was die Seele schafft.
Das finde ich phantastisch. Je mehr man sich mit diesen Fragen auseinandersetzt, wird völlig klar, daß man so denken muß, und das kann man durch die Beschäftigung mit großen Dichtungen von großen Dichtern lernen.
Das hat Wilhelm von Humboldt zur Voraussetzung gemacht. Er meinte, damit man überhaupt eine neue Entdeckung machen kann, muß man die eigene Hochsprache in der schönsten Ausformung beherrschen, weil man nur das denken kann, was man auch ausdrücken kann. Man kann nichts denken, was man nicht in Worte fassen kann. Also muß man mehr schöne Worte, schöne Klassik, schöne Gedichte in den eigenen Geist aufnehmen.
Diese Fähigkeit beschreibt Schiller auch in den letzten Zeilen der Bürgschaft: „Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der Dritte“. Der Tyrann ist in einen Freund verwandelt worden, d.h. auch hier geht es um einen Prozeß der Aufhebung, die Etablierung einer höheren Ebene.
Dieses Konzept hat Nikolaus von Kues mit der Coincidentia Oppositorum bezeichnet. Man darf nicht in die aristotelische, euklidische Geometrie vernagelt sein, es darf nicht wie bei Aristoteles nur ein Ja oder Nein geben, oder einen Widerspruch, aus dem dann irgend etwas neues entsteht. Genau das ist Maoismus! Die Maobibel ist aristotelisch, ein geschlossenes System, worin der Widerspruch das Produzierende ist: völlig verrückt!
Unsere Tradition, die Tradition der großen Dichter und Denker und Philosophen, ist dagegen die Coincidentia Oppositorum, das Denken auf einer Ebene, auf der die Widersprüche in eins fallen, in ein Universum, aus dem sich dann alles entfaltet. Diese Ebene muß man zuerst denken können, bevor man die Widersprüche denkt.
Das ist auch das Denken, das zum Westfälischen Frieden führte; man konnte die Konflikte von 150 Jahren Religionskriegen nur überwinden, indem man das Interesse des anderen vor sein eigenes stellte. Man muß von der einen Menschheit ausgehen, der die kriegerischen Parteien nachgeordnet sind. Lösungen in der Naturwissenschaft, in der Politik, bei der Überwindung von Konflikten, in der schönen Kunst kann man überhaupt nur finden, wenn man diese Ebene denken kann.
Das kann man trainieren und damit in gewisser Weise auch die eigenen Konflikte lösen - den Konflikt zwischen sinnlicher Befriedigung und Pflicht. Das hat Schiller in dem Gedicht Das Ideal und das Leben dargestellt, wo er sagt: Man hat nur die bange Wahl zwischen Sinnenglück und Seelenfrieden; auch in verschiedenen anderen Gedichten hat Schiller das immer wieder beobachtet: entweder hat man sinnliche Befriedigung und es geht einem gut, oder man hat die Pflicht. Kant hat diesen Konflikt nie überwinden können, außer mit dem kategorischen Imperativ. Dagegen sagt Schiller - und das ist das Phantastische: Die Schönheit ist der Ort, wo dieser Konflikt überwunden wird. Die Schönheit liegt zwar ganz zweifelsfrei im Bereich des Sinnlichen, denn Schönheit ist etwas, was aus der Sinnlichkeit kommt. Aber sie ist auch etwas, was den Geist beschäftigt, d.h. die Schönheit ist das Verbindende zwischen sinnlichen Dingen und dem Geist.
Deshalb ist die Beschäftigung mit dem Schönen, Wahren und Guten und die Fähigkeit des dichterischen Aufhebens der Konflikte und der Widersprüche die eigentliche Kunst. Klassisch zu denken, heißt, daß man jeden Tag so denkt. Und das wollen wir ab heute so tun! (Applaus.)