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Neue Solidarität
Nr. 24, 16. Juni 2010

Bachs Wohltemperiertes Klavier

Der folgende Auszug stamm aus dem Aufsatz „Mozart, Bach und der ,musikalische Geburtshelfer’“ von Michelle Rasmussen (siehe Neue Solidarität 1-2/2002).

Bachs Wohltemperierte Klavier war ein revolutionäres Werk. Es ist oft das „Alte Testament“ der klassischen Klaviermusik genannt worden (und Beethovens Klaviersonaten das „Neue Testament“). Es wurde 1722 vollendet, und der vollständige Titel lautete: Das Wohl temperirte Clavier. oder Praeludia und Fugen durch alle Tone und Semitonia, so wohl tertiam majorem oder Ut Re Mi anlangend, als auch tertiam minorem oder Re Mi Fa betreffend. zum Nutzen und Gebrauch der Lehrbegierigen Musikalischen Jugend, als auch derer in diesem studio schon habil seyenden besonderen Zeitvertreib aufgesetzet und verfertiget von Johann Sebastian Bach. Dieses erste Buch des Wohltemperierten Klaviers (BWV 846-869) beinhaltet 24 Präludien und Fugen, für alle Dur- und Moll-Tonarten. Ein zweites Buch Vierundzwanzig neue Präludien und Fugen, welches diese Behandlungsweise der 24 Tonarten mit neuen Kompositionen wiederholte, entstand zwischen 1740 und 1744 (BWV 870-893).

Mit diesem Werk arbeitete Bach die neuen musikalischen Möglichkeiten aus, die durch die Entwicklung eines neuen Systems der Stimmung von Tasteninstrumenten, die wohltemperierte Stimmung, entstanden waren. Diese Stimmung ermöglichte auf diesen in der Tonhöhe fest fixierten Instrumenten ein deutlich erweitertes mehrstimmiges oder polyphones Spiel, mit einer ähnlichen Flexibilität und Ironie, als würden mehrere menschliche Stimmen zusammen singen...

Bach, Werckmeister und die anderen Befürworter des wohltemperierten Systems stellten sich gegen die früher herrschende Meinung, im physikalischen Universum müßten die musikalischen Intervalle abstrakten mathematischen Proportionen entsprechen. Damit hatte man die Musik in eine Zwangsjacke gesteckt, indem man sie auf sog. „reine“ Intervalle begrenzte.

Die von Bach angeführte neue Bewegung schuf ein System, in dem es möglich wurde, Musik in allen Tonarten zu spielen. Das sog. „Komma“ (d.i. der Teil der Oktave, der übrig bleibt, wenn nur „reine“ Intervalle benutzt werden) wurde über die Tonarten ungleichmäßig verteilt. Die verschiedenen Tonarten hatten unterschiedlich große Intervalle, womit jede Tonart eine eigene Klangfarbe erhielt und eine musikalische Palette entstand. (Dies geht in der modernen „gleichschwebenden Temperierung“, bei der alle Halbtöne genau gleich sind, verloren.) Damit wurde es möglich, Musik in allen Tonarten zu schreiben und innerhalb eines Musikstückes zu modulieren - von einer Tonart in eine andere zu wechseln - , wie es in dieser Form vorher nicht möglich war.

Das musikalische Universum wurde von der Begrenzung auf nur eine Tonart und ihre nächsten Verwandten befreit und zu einem alle Dur- und Molltonarten gleichzeitig umfassenden System erweitert. Mehr noch, durch die Verwendung des früher verbotenen lydischen Intervalls und anderer gesetzmäßig geschaffener Dissonanzen schuf Bach eine transzendentale musikalische Brücke, die der Musik eine noch weitergehende Entwicklung über das System der 24 Tonarten hinaus erlaubte.

Die musikalische Aktion war nicht länger auf das Wechseln zwischen einigen wenigen Tonarten begrenzt, es gab nun unbegrenzte Möglichkeiten der Entwicklung musikalischer Ideen innerhalb eines musikalischen Universums von „24 und mehr Tonarten“, unter Ausnutzung aller expliziten und impliziten Beziehungen unter einer Vielzahl von Tonarten; die Möglichkeiten für musikalische Veränderungen, Transformationen, Paradoxa und Entwicklungen wurden bis zum Äußersten ausgedehnt...

Schon kurz vor Bach hatten andere Komponisten damit experimentiert, Werke zu komponieren, die durch alle Tonarten modulierten, oder Stücke für alle 24 Tonarten zu schreiben. Aber Bachs musikalisches Genie überragte sie alle. Der Biograph der Bach-Familie Karl Geiringer schreibt, Bach habe erkannt, daß das neue System die Methode der Fugenkomposition revolutionieren konnte. Vorher war eine Veränderung in einem Musikstück nur durch die Einführung eines neuen Themas oder Gegenthemas sowie durch Variationen des Themas möglich gewesen. Nunmehr war es möglich, Veränderung durch Entwicklungsabschnitte, sogenannte Episoden, herbeizuführen, welche das Thema von einer Tonart in eine andere bewegen, bis die neue Tonart dadurch gefestigt ist, daß das Thema selbst in ihr erklingt. Damit wuchs auch die Einheit eines Musikstücks, weil man das Material für die Episoden dem Hauptthema oder dessen Kontrapunkt entnehmen konnte.

Bach entwickelte seine Methode der Fugenkomposition beständig weiter und schuf später schöpferische Meisterwerke wie das Musikalische Opfer und die Kunst der Fuge.

Michelle Rasmussen

Lesen Sie hierzu bitte auch:

Mozart, Bach und der "musikalische Geburtshelfer"
- Neue Solidarität 1-2/2002