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Neue Solidarität
Nr. 18, 5. Mai 2010

Es ist 5 vor 12

Im Wortlaut. Wilhelm Segerath, der Gesamtbetriebsratsvorsitzende von ThyssenKrupp Steel Europe, hielt im Rahmen des Aktionstages der europäischen Gewerkschaften gegen die Rohstoffspekulation am 22. April auf der Kundgebung in Duisburg-Meiderich die folgende Rede.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich danke Euch, daß ihr so zahlreich erschienen seid und unseren gemeinsamen Kampf unterstützt.

Wir senden auch unsere solidarischen Grüße nach Brüssel, wo sich heute zur gleichen Zeit Stahlarbeiter aus ganz Europa versammelt haben, um gemeinsam mit uns zu protestieren, weil die Erz- und Kokskohlepreiserhöhungen die gesamte europäische Industrie und die Stahlindustrie mit unseren Standorten in der Bundesrepublik im Besonderen bedrohen.

Stahl ist die Basis für die industrielle Produktion in Deutschland. Schlüsselbranchen, wie beispielsweise die Automobilindustrie, der Maschinenbau und die Elektrotechnik sind unverzichtbar auf den Werkstoff Stahl angewiesen.

Stahl ist ohne Qualitätsverlust zu 100% recyclingfähig und damit der ökologische Werkstoff schlechthin. Ohne den Einsatz von Rohstoffen, wie Eisenerz und Kohle, ist eine ausreichende Stahlproduktion nicht möglich.

Deutschland verfügt über keine eigenen Eisenerzvorkommen und ist damit zu 100 Prozent von Importen abhängig. Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie hängt deshalb ganz wesentlich von der Entwicklung der Rohstoffpreise ab.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die angekündigten Preissteigerungen für Eisenerz und Kokskohle von teilweise über 100 Prozent stellen daher ein unmittelbares Risiko für den Industriestandort Deutschland dar, zumal die drei marktbeherrschenden Erzproduzenten Vale, Rio Tinto und BHP Billiton einen Marktanteil von rund 70 Prozent erreichen.

Für diese Preisforderungen gibt es keinen erkennbaren wirtschaftlichen Hintergrund. Die deutsche Industrie erlebte 2009 den tiefsten Einbruch in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Automobilindustrie und der Maschinenbau verzeichneten Produktionseinbrüche von bis zu 25 Prozent. Seit einigen Monaten zeichnet sich eine Stabilisierung der Industrieproduktion auf niedrigem Niveau ab. Ein selbst tragender Aufschwung ist allerdings noch nicht in Sicht - das Rückschlagspotential ist nach wie vor hoch.

Die Banken machen weiter wie bisher. Sie haben nichts, aber auch gar nichts, aus der Krise gelernt! Ihre Spekulationsgewinne steigen wieder ins Unermeßliche, und es entstehen wieder virtuelle Wertblasen, die wenn sie platzen, unsere Arbeitsplätze vernichten.

Deshalb mißtraue ich zutiefst allen Protagonisten, die jetzt sagen, wir sind aus der Krise heraus, denn es sind die Gleichen, die uns hineingetrieben haben.

In dieser fragilen gesamtwirtschaftlichen Situation wollen die drei marktbeherrschenden Erzproduzenten die Verträge mit den Stahlunternehmen von Jahresverträgen auf Quartalsverträge umstellen.

Wir hatten allein in den letzten Jahren schon eine Preissteigerung von 453 Prozent zu verkraften.

Da die Spot-Preise deutlich über den Jahrespreisen liegen, ist durch die Umstellung mit Preissteigerungen von weiteren bis zu 130 Prozent zu rechnen. Pro Tonne Stahl ergäbe sich eine Erhöhung von 20 bis 30 Prozent. Außerdem werden die Preisschwankungen deutlich zunehmen. Bereits eine Preissteigerung um 10 Prozent bei Eisenerz und Kokskohle bedeutet für die Stahlunternehmen zusätzliche Belastungen von jährlich mehr als eine halbe Milliarde Euro.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Anteil der Rohstoff- und Energiekosten an der Stahlproduktion beträgt gegenwärtig etwa 70 Prozent und ist aufgrund der Marktgegebenheiten kaum beeinflußbar. Dagegen liegt der Anteil der Lohnkosten lediglich bei etwa 12 Prozent.

Hier zeigt sich, daß die Stahlunternehmen praktisch keine Möglichkeit haben, die durch die marktbeherrschende Stellung der Rohstoffunternehmen bedingten Kosten zu kompensieren. Das wird die Stahlunternehmen vor die Notwendigkeit stellen, diese Preiserhöhungen an ihre Kunden weiterzugeben oder aber noch schlimmer, daß sie versuchen, durch Personalkostenreduzierung, das Ganze auf unseren Rücken auszutragen.

Darüber hinaus entstünde durch die Preiserhöhungen ein nicht unerheblicher Finanzierungsbedarf auf allen Produktionsstufen, der die Liquiditätsversorgung der Unternehmen durch die Banken weiter belasten würde und große Risiken, insbesondere für den Mittelstand, mit sich brächte. Die ohnehin zu beobachtende Kreditklemme würde sich noch weiter verstärken. Im Ergebnis würde diese extreme Verteuerung des Basiswerkstoffs Stahl mehr als ein Drittel der Industrieumsätze direkt oder indirekt betreffen und damit jeden dritten Industriearbeitsplatz in Deutschland gefährden.

Letztendlich ist damit zu rechnen, daß die Kosten bis zum Endverbraucher weitergereicht werden. Dies würde in der gegenwärtig ohnehin kritischen gesamtwirtschaftlichen Situation die Binnennachfrage weiter belasten.

Die Planungssicherheit wird durch die kurzfristigen Verträge und die damit verbundenen Preissteigerungen für Stahlprodukte in Zukunft deutlich abnehmen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, davon sind alle Wertschöpfungsstufen bis hin zum Endverbraucher betroffen.

Zum Schutz gegen Preisrisiken wird sich die Industrie zukünftig auch auf dem Eisenerzmarkt durch Finanzinstrumente wie Derivate absichern.

Es wird dann nur eine Frage der Zeit sein, bis Eisenerz, wie bereits andere Rohstoffe und Währungen zuvor, ins Visier von Finanzspekulanten gerät. Der Rohstoffmarkt wird dann, wie bei der Entstehung der jetzigen Finanzmarktkrise der Immobilienmarkt, zum reinen Spekulationsobjekt, und damit meine ich alle Rohstoffe, insbesondere Erze, Kohle und Erdöl.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, absolut pervers ist es, wenn sie um Grundnahrungsmittel zocken, damit Hungernöte auslösen und damit bewußt den Hungertod von Millionen Menschen weltweit in Kauf nehmen!

Wenn Eisenerze in Zukunft an der LME, der Londoner Metall Exchange, gehandelt werden, dann sind auch Wetten auf diese Rohstoffpreise möglich. Die aktuellen Preissteigerungen an einigen Rohstoffmärkten liefern Hinweise, daß bereits heute neue virtuelle Preisblasen entstehen.

Deshalb muß bei der erforderlichen Regulierung der Finanzmärkte eine klare Trennung vorgenommen werden: Zwischen denen, die Rohstoffe für die Produktion zwingend benötigen und Derivate zur Absicherung von Preiskriterien einsetzen, und denen, die Rohstoffe als Spekulationsobjekte betrachten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe euch zu: Unterstützt den Duisburger Appell an Politik, Banken und Wirtschaft, macht ihnen klar: „Wir kämpfen um unsere Arbeitsplätze.“: www.duisburger-appell.org.

Es muß gehandelt werden! Es ist 5 vor 12!

Spekulative Derivats- und Leergeschäfte sowie Wetten auf Börsenkurse, Wetten auf Staatspleiten (Beispiel: Griechenland) und in Zukunft Wetten auf Rohstoffpreise und Grundnahrungsmittel sind auf dem Finanzmarkt kriminelle Handlungen und vernichten unsere Arbeitsplätze.

Das gehört verboten!

Wir fordern die Bundesregierung auf: Legt den Finanzmarkt an die Kette und schafft klare Regeln!

Nur die Politik kann den gesetzlichen Rahmen schaffen und diese Spekulationen mit unseren Arbeitsplätzen verbieten.

Handelt endlich! Das Casino gehört geschlossen! Wenn Merkel und Barroso nicht handeln, dann ist „nach der Krise direkt vor der Krise“!

Wir brauchen keine Arbeitsplatz vernichtenden Mono-, Duo- und Oligopole. Wir brauchen in der Bundesrepublik und in Europa eine nachhaltige industrielle Wertschöpfungskette mit dem Leitwerkstoff Stahl, und dafür, liebe Kolleginnen und Kollegen, lohnt es sich, entschieden zu kämpfen. Wir lassen nicht zu, daß man unsere Arbeitsplätze auf dem Finanzmarkt verzockt!

Wir bleiben wachsam, wir brauchen einen Kurswechsel für ein demokratisches und soziales Europa in der Gesellschaft und in der Wirtschaft.

Dafür, Frau Bundeskanzlerin Angela Merkel, sind Sie da, um Schaden vom Volke abzuwenden. Dafür, Herr José Manuel Barroso, lohnt es sich, in Europa zu kämpfen. Denn unsere Arbeitsplätze, unsere Existenzgrundlage, die industrielle Wertschöpfungskette mit dem Leitwerkstoff Stahl, ist genauso systemrelevant, wie die Banken. Für den Erhalt der Wertschöpfung werden wir weiter streiten.

Wenn es heute nicht gereicht hat, keine Frage, wir kommen wieder!

Lesen Sie hierzu bitte auch:
Der Kampf für die Stahlindustrie: Verpaßt der Globalisierung den Todesstoß!
- Neue Solidarität 17/2010
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