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Neue Solidarität
Nr. 15, 14. April 2010

Milchkrise: Wenn nötig, werden wir den Kampf verstärken

Interview. Das folgende Interview mit Erwin Schöpges, dem Präsidenten der belgischen Organisation Milcherzeuger-Interessengemeinschaft (MIG), einem der Gründer des European Milkboard (EMB), führte Karel Vereycken am 25. März 2010 für die französische Zeitung „Nouvelle Solidarité”.

Nouvelle Solidarité: Sie waren mit Ihrer Organisation, dem EMB, Auslöser des „Milchstreiks“ und weiterer Aufsehen erregender Aktionen, mit denen angesichts der Krise der Landwirtschaft und insbesondere der Milchproduktion Alarm geschlagen werden sollte. Worum geht es?

Erwin Schöpges: Für uns folgte der Streik des Jahres 2009 auf den des Jahres 2008. Es waren die deutschen Produzenten, die nach einem dramatischen Preisverfall, der uns zur Reaktion zwang, die Bewegung in Gang gebracht hatten. Warum die Preise in den Keller gehen? Weil es zu viel Milch auf dem Markt gibt.

Das Problem war, daß sich Frankreich 2008 nicht beteiligte. Um jedoch auf europäischer Ebene siegreich zu sein, bedurfte es der Teilnahme Frankreichs und Deutschlands, die zusammen allein schon 50% der europäischen Milchproduktion ausmachen. Es war nicht einfach, das in die Tat umzusetzen.

2009 war die Lage ganz anders. Ich hatte in der Bretagne, in der Normandie und in fast ganz Frankreich viele Veranstaltungen zur Mobilisierung der Franzosen. Zuguterletzt hat es geklappt, und Bewegungen wie die Association des Producteurs de Lait Indépendants (APLI) und die Organisation des Producteurs de Lait (OPL) wurden gegründet. 2009 waren es dann die Franzosen, die den Streik vorantrieben. Da sich Deutschland, Frankreich, Österreich, Italien, die Schweiz, Holland, Luxemburg und Belgien beteiligten, kann man wirklich von einem europäischen Streik sprechen.

2008 sagte ich mir, daß meine Teilnahme nicht mehr darin bestehen sollte, einfach Milch wegzuschütten, ohne daß es jemand sieht. Denn während des ersten Milchstreiks war ich bei mir zu Haus gewesen, hatte den Hahn am Milchbehälter geöffnet und geheult. Ich sagte mir, daß es, wenn ich das nächste Mal Milch wegschütte, die Öffentlichkeit sehen sollte. Nach einigem Nachdenken kam uns die Idee des Aktionstages von Ciney [Kleinstadt im wallonischen Teil Belgiens], die zum Symbol des Streiks wurde, wo in einer halben Stunde 3 Mio. Liter Milch weggeschüttet wurden, was der gesamten Tagesproduktion des wallonischen Teil Belgiens entspricht.

 

Nouvelle Solidarité: Hat das die Dinge in Bewegung gebracht?

Schöpges: Das war ein großer Sieg wegen der Solidarität zwischen den verschiedenen Ländern, die damit demonstriert wurde. Die Schaffung einer derartigen Bewegung, die am selben Tag in mehreren Ländern aktiv wird, ist, glaube ich, einzigartig. Die europäische Landwirtschaftskommissarin Fischer Boel, Vertreterin eines extremen Liberalismus, mußte daraufhin abtreten. Wir erreichten sogar, daß sich eine Mehrheit der Mitgliedsstaaten der EU für eine Rückkehr zur Regulierung* aussprachen, wenngleich noch festgelegt werden muß, zu welcher...

Der Streik brachte uns auch eine Hilfe von 280 Millionen Euro. Das scheint zunächst einmal viel zu sein. In Wirklichkeit aber, und wir haben das für Belgien durchgerechnet, ist es gerade einmal eine Hilfe von 0,2 Cent pro Liter. Für mich zum Beispiel, ich bewirtschafte einen Betrieb, auf dem ich bis zu 500.000 Liter Milch pro Jahr erzeugen will, für mich sind das 1000 Euro. Das ist besser als nichts, aber wie Sie sehen, ist das keine große Summe.

Ein weiterer Erfolg des Streiks ist die erstmalige Schaffung der sich aus Experten eines jeden Landes zusammensetzenden „Hochrangigen Gruppe“, die sich alle zwei bis drei Wochen treffen, um die Umrisse der ab 2013 geltenden gemeinsamen neuen Landwirtschaftspolitik festzulegen, wobei das EMB als offizieller Partner dieser Gruppe an den Diskussionen teilnimmt. Ja, nunmehr findet sich außer der COPA [Europäischer Dachverband der nationalen Bauernorganisationen], die die großen Verbände repräsentiert, Via Campesina und das EMB, das als Vertreter der Milcherzeuger gehört wird.

 

Nouvelle Solidarité: Nach einem Rückgang der Einkünfte in der Landwirtschaft um 20% im Jahr 2008 und um 30% 2009, einem 50prozentigen Rückgang der Einkünfte der Milcherzeuger, wie können sie überhaupt überleben?

Schöpges: Ich kann Ihnen erklären, wie sich das für mich darstellt. Meine Kühe geben ungefähr 1000 Liter pro Tag, die ich zu ca. 25 Cent den Liter verkaufe. Das macht also insgesamt 250 Euro am Tag und bedeutet für mich 8 Stunden Arbeit. Ein Freiberufler sollte auf mindestens 25 Euro brutto (nicht netto) pro Stunde kommen. Wenn ich 250 Euro pro Tag mit der Milchwirtschaft erziele, dann sind 200 Euro davon der Lohn für meine Arbeitszeit (8x25). Als Rest bleiben mir also 50 Euro! In Wirklichkeit arbeitet man also für nichts! Das verdiente Geld erlaubt noch nicht einmal die Aufrechterhaltung der Produktion. Seit anderthalb Jahren, sei es in Frankreich oder in Belgien, überleben die Milchproduzenten nur, indem sie sich verschulden und unaufhörlich neue Kredite aufnehmen, um alte zu bezahlen. Man hofft auf eine bessere Zeit, begibt sich aber in eine immer gefährlichere Abhängigkeit.

 

Nouvelle Solidarité: Bei einigen macht sich Verzweiflung breit.

Schöpges: Was kaum verwunderlich ist. Die Produzenten verlieren ihr Kapital, arbeiten viel und schaffen es doch nicht, ihren Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. Das führt zu Streß und Spannungen in den Familien. Man ist niemals reich gewesen, doch man war in der Lage, ein normales Leben ohne all diesen Ärger zu führen. Auf eine Situation wie diese war niemand vorbereitet. Einige geben alles auf oder sehen keinen anderen Ausweg als den Selbstmord.

 

Nouvelle Solidarité: Die aufgegebene landwirtschaftliche Fläche, wird sie nicht von den Kartellen übernommen?

Schöpges: Das ist eine sehr spezielle Frage, die ein sehr sensibles Thema betrifft. Im Bereich Milchwirtschaft kann man feststellen, daß Betriebe mit 1000 Milchkühen, die als Folge finanzieller Schwierigkeiten aufgeben, unauffällig von der Nahrungsmittelindustrie und den Banken aufgekauft werden, deren Ziel es ist, die Produktion in Europa zu kontrollieren.

Das Problem dabei ist, daß die ursprünglichen Besitzer die Höfe weiterhin bewirtschaften, was dazu führt, daß man wenig über diese Entwicklung weiß, die jedoch in Deutschland und Belgien Realität ist.

Es gibt ein beträchtliches Interesse von Seiten der Nahrungsmittelindustrie und der über Kapital verfügenden Kreise, sich in den Besitz von Ländereien und landwirtschaftlichen Flächen zu setzen. Der Bereich Energie wird bereits von bestimmten Interessen beherrscht, die jetzt auch die Kontrolle im Nahrungsmittelsektor übernehmen und Schritt für Schritt darauf setzen, daß sie in zehn Jahren auch die Wasserressourcen in Europa und anderswo in ihrem Besitz haben.

Die Kontrolle dieser für die Menschheit wesentlichen Güter durch eine kleine Gruppe repräsentiert, obwohl es sich um einen schleichenden Prozeß handelt, der nicht einfach zu dokumentieren ist, eine Gefahr, die nicht unterschätzt werden darf. Es ist bekannt, daß das im Gange ist, aber man muß es beweisen. Ich weiß, daß es gefährlich ist, es zu erwähnen, doch man muß darüber reden. Wenn das bestimmten Interessen mißfällt, dann sollen sie mich doch belangen! Es handelt sich um eine Gefahr für die Konsumenten und sogar für die Unabhängigkeit ganzer Völker!

Ich erinnere Sie daran, daß Nahrung etwas wesentliches für das Leben eines jeden ist. Jeden Tag - morgens, mittags und abends - führen sie Ihrem Magen etwas zu. Wollen wir für die Zukunft die Sicherheit haben, über Nahrungsmittel guter Qualität zu verfügen, die aus unseren Ländern stammt, oder sind wir bereit, irgend etwas zu essen, was immer es auch sei - Käse, der nicht mehr Käse ist, Fleisch, das nicht mehr Fleisch ist oder auch Brot, das nicht mehr Brot ist? Das Auftauchen gewisser Krankheiten und Krebsarten, die Folge einer Ernährung minderer Qualität sind, ist schon jetzt feststellbar. Es gilt also eine Auswahl zu treffen, um zu wissen, ob man bereit ist, ein bißchen mehr für eine qualitativ hochstehende Nahrung auszugeben.

 

Nouvelle Solidarité: Wie sehen Sie die neue, sich in Vorbereitung befindende Gemeinsame Agrarpolitik?

Schöpges: Im Milchsektor ist das Wesentliche, sich vom System der Beihilfen [Subventionen] zu verabschieden. Zur Zeit überleben die Erzeuger aufgrund der Beihilfen. Doch was wir brauchen, ist ein Marktpreis, der uns zu leben erlaubt, und der unsere Produktionskosten deckt. Es geht also nicht mehr an, einen Liter Milch für 20 Cent zu produzieren und dann Subventionen zu bekommen, mit denen man versucht, zu überleben.

Um dort hinzukommen, hat das EMB ein dem kanadischen System ähnelndes Konzept entwickelt und der Hochrangigen Gruppe vorgelegt. Es geht um die Schaffung eines Milchbüros, eine Art Beobachtungsstation, in der die Erzeuger vertreten sind, um einen gerechten Preis festzulegen, der die Produktionskosten deckt.

Nun, man erwidert uns, daß es zwischen den verschiedenen Ländern zu viele Unterschiede gibt. Das stimmt so nicht, und ich bin mir sicher, daß wir unter uns Produzenten einen Preis für alle vereinbaren könnten, denn die Produktionskosten sind identisch in Holland, Deutschland, Österreich und Frankreich. Also müssen die Produzenten das beratschlagen.

Zweitens bedarf es der Anwesenheit von politisch Verantwortlichen, um die Schaffung eines Rahmens zu gewährleisten, der garantiert, daß alles korrekt abläuft.

Drittens bedarf es der Teilnahme von Vertretern der Konsumenten, die dafür sorgen, daß wir keinen Preis festsetzen, der für die Konsumenten unbezahlbar wäre. Diese drei Komponenten sind wesentlich.

Damit das funktioniert, ist es wesentlich, daß jeder Betrieb nicht nur eine Quota hat, sondern auch ein Produktionsrecht. Wenn die Höfe für ihren Betrieb das Produktionsrecht verlieren, dann ist ihr Hof nichts mehr wert. Wenn 70-80 Prozent deiner Ländereien dir nicht gehören und wenn du kein Produktionsrecht hast, dann kann man dich rausschmeißen und dich durch einen Anderen ersetzen.

Wenn die neue Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) sich an diesem System orientiert, kann man die Beendigung einer nur dank Subventionen überlebenden Landwirtschaft ins Auge fassen. Wir wollen hier in Europa nicht mehr billige Produkte erzeugen, die die kleinen afrikanischen Produzenten ruinieren, wie das zur Zeit passiert. Hingegen ist es legitim, daß die Leute, die in benachteiligten Regionen produzieren, die Unterstützung bekommen, die sie brauchen.

 

Nouvelle Solidarité: Ich habe gehört, daß in Erwartung dieser neuen Regulierung in Belgien eine eigene Initiative vorbereitet wird.

Schöpges: Der Moment ist gekommen, auf die Konsumenten zuzugehen. Die Zeit ist vorbei, wo wir, die Erzeuger, in unserern Betrieben blieben und nach dem Melken die Milch einfach in die Großbehälter gossen, ohne uns um sonst etwas zu kümmern.

In Belgien gründen wir zur Zeit gerade Fairecoop, eine Erzeugergemeinschaft, die unter ihrem eigenen Warenzeichen „Fairebel“ Milch zu einem gerechten Preis [in Deutschland: „die faire Milch“] vermarkten will. Sie wird in Belgien in so gut wie allen Einkaufsmärkten erhältlich sein.

Das Warenzeichen impliziert auch, daß jeder Erzeuger für das Produkt werben muß, indem er in direkten Kontakt mit den Konsumenten tritt. Letztere müssen verstehen, daß sie, wenn sie Milch für 50 oder 60 Cent den Liter im Supermarkt kaufen, die Milcherzeuger Europas ruinieren. Die fixen Kosten pro Liter betragen 35 Cent, die Arbeitskosten sind darin nicht enthalten. Wenn also der Konsument im Supermarkt den Liter Milch für 50 oder 60 Cent kauft, dann ist es unmöglich, daß die Erzeuger überleben können.

Bei der „fairen Milch“ ist es so, daß von jedem verkauften Liter 10 Cent auf ein Konto gehen und dieses Geld am Ende des Rechnungsjahres an all die verteilt wird, die in die Erzeugergemeinschaft investiert haben. Es handelt sich um die Schaffung einer neuen Solidarität zwischen Produzenten und Konsumenten, was eine ziemliche Herausforderung ist. Man wird sehen, wie die Leute reagieren. Werden sie Milch für 90 Cent statt für 60 Cent kaufen?

 

Nouvelle Solidarité: Planen Sie neue Aktionen in der Öffentlichkeit?

Schöpges: Im Augenblick beobachten wir, was sich abspielt. Wenn der Preis sich verbessert, dann sind neue Aktionen nicht unmittelbar notwendig. Wenn der Preis von neuem verfällt und sich nichts ändert, werden wir uns mit neuen spektakulären Aktionen sehr schnell bemerkbar machen.

Doch konnte ich mich zwei Stunden lang mit dem neuen europäischen Landwirtschaftskommissar Dacian Ciolos unterhalten und dabei einen Wandel der Anschauungen feststellen. Frau Fischer Boel kam aus Dänemark, einem ultraliberalen Land. Ciolos kommt aus Rumänien und hat Kontakte in Frankreich. Natürlich kann er nicht alles mit einem Schlag ändern, aber wir bleiben mit ihm in Kontakt. Wir tun alles, um ihn zu überzeugen, daß der von Fischer Boel eingeschlagene Kurs sich gegen den landwirtschaftlichen Familienbetrieb richtet.

Wenn allerdings unsere Bemühungen ohne Erfolg bleiben dann, das dürfen sie mir - nach zwei von uns geführten Milchstreiks - glauben, daß neue Aktionen mir durchaus keine Angst machen.


Anmerkung

1. Im Dezember 2009 einigten sich auf Initiative Frankreichs 22 Mitgliedsstaaten der EU auf Maßnahmen, die den Fortbestand der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) sicherstellen sollen. Die Niederlande, Schweden und besonders Großbritannien sind für ihre völlige Abschaffung.

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http://www.bdm-verband.org/
- Die Internetseite des BMD
http://www.europeanmilkboard.eu
- Die Internetseite des European Milk Board
http://milcherzeuger.be
- Die Internetseite der belgischen Milcherzeuger-Interessengemeinschaft