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Neue Solidarität
Nr. 49, 2. Dezember 2009

Friedrich Schiller und das Erhabene im Denken und Handeln

Von Ulrike Lillge

Im Wortlaut. Ulrike Lillge sprach auf der Feier des Schiller-Instituts zum 250. Geburtstag von Friedrich Schiller am 21. November in Berlin über die zentrale Bedeutung des Schönen und Wahren bei Schiller, Platon und Winckelmann.

Wir wollen im folgenden der Frage nachgehen: Kann der Mensch etwas bewirken, und woher nehmen wir die Gewißheit dazu? Eine Antwort darauf will ich anhand der Ideen darstellen, die Friedrich Schiller in seinen philosophischen Schriften darlegt. Er tut dies, selbst in einer Zeit großer Umbrüche lebend, in einer intensiven Beschäftigung mit dem platonisch-leibnizschen Gedankengut sowie in einer Auseinandersetzung vor allem mit Kant und im Kampf  um Nationalstaatlichkeit nach amerikanischem Vorbild gegen das absolutistische Herrschaftssystem Europas.

In seinem Gedicht „Antritt des neuen Jahrhunderts“, geschrieben auf den Jahreswechsel 1801/1802, zeigt uns Schiller seine Einsicht in die damalige strategische Lage, die der gegenwärtigen nicht ähnlicher sein könnte.

Aber die moralische Möglichkeit zu dieser Veränderung fehlte, nämlich das Gesetz auf den Thron zu stellen, den Menschen endlich als Selbstzweck zu ehren und wahre Freiheit zur Grundlage der politischen Verbindung zu machen. Deshalb schreibt Schiller in seinen Ästhetischen Briefen: „Der freigebige Augenblick findet ein unempfängliches Geschlecht.“ Und: „In seinen Taten malt sich der Mensch, und welche Gestalt ist es, die sich in dem Drama der jetzigen Zeit abbildet! Hier Verwilderung, dort Erschlaffung: die zwei Äußersten des menschlichen Verfalls, und beide in einem Zeitraum vereinigt!“

Angewidert von der Schlaffheit und Entartung der sog. zivilisierten Klasse nennt er als Ursache: „Die Kultur, weit entfernt, uns in Freiheit zu setzen, entwickelt mit jeder Kraft, die sie in uns ausbildet, nur ein neues Bedürfnis, die Bande des Physischen schnüren sich immer beängstigender zu, so saß die Furcht, zu verlieren, selbst den feurigen Trieb nach Verbesserung erstickt und die Maxime des leidenden Gehorsams für die höchste Weisheit des Lebens gilt.“

Das, was wir heute als Untertanendenken bezeichnen, was Platon in seinem Dialog Sophistes als Sophismus charakterisiert, verurteilt Schiller als Brotgelehrtentum. Die

Wissenschaft ist für einen solchen Menschen Brotstudium; nicht die eigene Vervollkommnung, Vollendung seines Wissens sind ihm wichtig, seine Wahrheit ist die gesellschaftliche Anerkennung, Fürstengunst, gute Presse, materielle Versorgung - heute ist es Karriere machen und Boni kassieren. Die Forderungen seines künftigen Herrn oder Vorgesetzten zu erfüllen, steht für ihn daher an erster Stelle. Schmutzige Geschäfte bis hin zu Verbrechen werden begangen und gedeckt - diesem System zu dienen, erfordert Menschen mit Sklavenseelen.

Ein anschauliches Beispiel liefert uns Schiller in seinem Trauerspiel Kabale und Liebe in der Person des Hofmarschalls von Kalb, der Hofschranze im Dienste des Präsidenten von Walter am Hof eines deutschen Fürsten.

In der Rolle des Haussekretärs des Präsidenten, einem Herrn mit dem passenden Namen Wurm, sehen wir, wie dieses mafiöse System arbeitet. Wurm, der Handlanger, ist der eigentliche Initiator der Kabale im Intrigengeflecht am Hof, das er bestens kennt und mitspielt. Seine Stellung will er ausnutzen, Luise zu heiraten, die aber mit dem Sohn des Präsidenten, Ferdinand, eine Beziehung hat. Mißgunst, Neid und Zurückweisung treiben ihn dazu, das Verhältnis Ferdinands und Luises heimtückisch auseinanderzutreiben, jedes Mittel ist recht, nachdem er erkannt hat, daß er selbst Luise nicht zur Frau bekommt. Dazu dient ein Brief, den er Luise zu schreiben zwingt, und der sie vor allem Ferdinand gegenüber diskreditieren soll.

Schiller beschreibt den Charakter eines solchen Brotgelehrten: „Sie fechten mit Erbitterung, mit Heimtücke, mit Verzweiflung, weil sie bei dem Schulsystem, das sie verteidigen, zugleich für ihr ganzes Dasein fechten. Darum kein unversöhnlicherer Feind, kein neidischerer Amtsgehilfe, kein bereitwilligerer Ketzermacher als der Brotgelehrte.“

Eine solche Klassengesellschaft - und wir reden nicht nur von der Zeit des Absolutismus, sehen wir uns den gegenwärtigen Zustand der Welt an - ist moralisch degeneriert. Schiller sah die Ursache hierfür in einer „einseitigen und schwankenden Philosophie“, die er als um so gefährlicher ansah, „weil sie die umnebelte Vernunft durch einen Schein von Rechtmäßigkeit, Wahrheit und Überzeugung blendet.“ (Philosophische Briefe)

Platons Kampf gegen die Sophisten

Schon Platon bezeichnet das Denken solcher Menschen als „Sophisten“, und in dem Dialog Sophistes beschreibt er ihren Charakter. Sie sind vor allem hinter dem Geld her, ködern vorzugsweise reiche Jugendliche aus angesehenen Familien mit allerlei Vergnügungen, manipulieren sie mit Scheinweisheiten und bereiten sie für Karrierelaufbahnen im öffentlichen Leben vor. Rhetorik hatte jetzt die Aufgabe, jeder Behauptung zum Siege zu verhelfen. Platon bekämpfte die Sophisten sein ganzes Leben lang, denn was hier als neue Rhetorik ausgegeben wurde, war in Wahrheit ein axiomatischer Schnitt gegen die klassische homerisch-platonische Methode der Erkenntnissuche, nämlich das Ablehnen von richtigem und falschem Denken.

Im Kern seiner Argumentation weist Platon nach, daß die Sophisten etwas Entscheidendes ablehnen, nämlich das Nichtseiende. Im Sein, so Platon, ist jedoch das Nichtseiende enthalten, und zwar als etwas vom Sein Verschiedenes. Das Nichtseiende ist also nicht, wie die Sophisten behaupten, das Gegenteil vom Sein. Denn das hieße zu sagen, daß es ist. Und damit gäbe es keinen Irrtum, sondern nur unterschiedliche Meinungen. Mit der von den Sophisten verbreiteten Rhetorik und Argumentation läßt sich jede Argumentation widerlegen.

Dieses Vorgehen ist Manipulation und eröffnet dem Relativismus Tür und Tor. Alles ist nun irgendwie wahr, auch wenn es falsch ist. Der Schnee ist schwarz. Börsenspekulation und Drogenhandel sind wichtige Teile der Volkswirtschaft. Der Mensch ist das Krebsgeschwür der Welt.

Das sokratisch-platonische Denken, das Platon weiter in diesem Dialog beschreibt, geht genau von der gegenteiligen Auffassung aus: „Niemand tut freiwillig unrecht.“ Die Seele strebt von Natur aus zu dem wahrhaft Guten, ihr innerster Trieb ist nicht nach dem Irrtum, sondern nach der Wahrheit gerichtet. Jeder kann diesen Prozeß z.B. beim spielerischen Lernen von Kleinkindern nachvollziehen. Unwissenheit, sagt Platon, ist also ein unfreiwilliger Zustand. Unwissenheit ist nichts anderes als ein Fehlgehen der zur Wahrheit strebenden Seele, indem sie von der richtigen Erkenntnis abirrt. Eine unverständige Seele muß man als eine häßliche und des rechten Maßes entbehrende ansehen. Es gibt zwei Arten von Schlechtigkeit in ihr; die eine, die von den meisten Verdorbenheit genannt wird und zweifellos eine Krankheit derselben ist. Die andere, die man Unwissen nennt, will nicht zugeben, daß sie für sich allein schon Schlechtigkeit der Seele ausmache.

Für die Seele gibt es zwei Arten von Schlechtigkeit: Feigheit, Zügellosigkeit, Ungerechtigkeit sind als Krankheiten in uns zu betrachten; die vielen und mannigfachen Erscheinungsweisen der Unwissenheit sind als Häßlichkeit zu bezeichnen. Daß man ohne eigentliches Wissen glaubt, im Besitze des Wissens zu sein, sieht Platon als Quelle alles Irrtums beim Nachdenken und bezeichnet diesen Teil der Unwissenheit als Unbildung.

Was ist Freiheit?

Kommen wir jetzt wieder zu Schiller zurück und zu seinem Ziel, den Menschen von all diesen Zwängen frei zu machen. „Erkühne dich, weise zu sein!“ fordert er. „Energie des Muts gehört dazu, die Hindernisse zu bekämpfen, welche sowohl die Trägheit der Natur als die Feigheit des Herzens der Belehrung entgegensetzen.“ Und er sagt in den Philosophischen Briefen, der Mensch als Teil des Universums könne als vernunftbegabtes Wesen die Gesetze des Universums erkennen.

 

„Das Universum ist ein Gedanke Gottes... Nachdem die geborne Welt den Riß ihres Schöpfers erfüllte,... so ist der Beruf aller denkenden Wesen, in diesem vorhandenen Ganzen die erste Zeichnung wiederzufinden, die Regel in der Maschine, die Einheit in der Zusammensetzung, das Gesetz in dem Phänomen aufzusuchen, und das Gebäude rückwärts auf seinen Grundriß zu übertragen. Also gibt es für mich nur eine einzige Erscheinung in der Natur, das denkende Wesen... Die Gesetze der Natur sind die Chiffern, welche das denkende Wesen zusammenfügt... Harmonie, Wahrheit, Ordnung, Schönheit, Vortrefflichkeit geben mir Freude, weil sie mich in den tätigen Zustand ihres Erfinders, ihres Besitzers versetzen, weil sie mir die Gegenwart eines vernünftig empfindenden Wesens verraten und meine Verwandtschaft mit diesem Wesen mich ahnden lassen. Eine neue Erfahrung in diesem Reiche der Wahrheit, die Gravitation, der entdeckte Umlauf des Blutes, das Natursystem des Linnäus [d.i. Carl von Linné, schwedischer Naturforscher, Botaniker, schuf die Grundlagen der beschreibenden und ordnenden Biologie, insbes. Pflanzenkunde, UL] heißen mir ursprünglich eben das, was eine Antike in Herkulanum hervorgegraben... Ich bespreche mich mit dem Unendlichen durch das Instrument der Natur, durch die Weltgeschichte“

 

Über den Menschen als Vernunftwesen sagt er: „Durch die Vernunft können wir uns über die sinnliche Natur moralisch, d.i. durch Ideen erheben. Durch unsere Vernunft erreichen wir Unabhängigkeit von der Natur... Als Vernunftwesen sind wir frei...“

Eine von Schillers grundlegenden Ansichten ist es, daß der Mensch ein selbständiges Prinzip in sich hat, das er als das Gefühl des Erhabenen bezeichnet, welches von allen sinnlichen Rührungen unabhängig ist. „Das ganze Wesen des Erhabenen beruht auf dem Bewußtsein dieser unserer Vernunftfreiheit.“

Schiller nennt das Beispiel eines Menschen, dem ein großes Unglück geschieht, er verliert allen Besitz, er wird verleumdet, er erkrankt ernsthaft, seine wahren Freunde sterben, seine vermeintlichen verlassen ihn. „Findet man diesen Menschen ganz so wie in glücklicheren Zeiten, hat die Armut seine Wohltätigkeit, der Undank seine Dienstfertigkeit, der Schmerz seine Gleichmütigkeit, eigenes Unglück seine Teilnehmung an fremdem Glücke nicht vermindert“, dann, so Schiller, sprechen wir von dem absolut moralischen Vermögen, welches an keine Naturbedingung geknüpft ist - von dem Erhabenen. Man muß es ganz und gar aufgeben, das Betragen aus dem Zustand abzuleiten. Das Erhabene schafft uns also einen Ausgang aus der sinnlichen Welt.

Schiller, der selbst in seinem Leben immer diesem hohen Anspruch gerecht wurde, obwohl er sich oft in sehr schwierigen materiellen und gesundheitlichen Lebensumständen befand, stellt uns in seinen Schauspielen, Tragödien, die schönsten Beispiele menschlichen erhabenen Verhaltens dar, denken wir z.B. an Gertrud im Wilhelm Tell oder an Johanna von Orleans.

Ein anderes Beispiel ist, wie die Maria aus Maria Stuart die letzten Minuten vor ihrem Tod verbringt. Wir sehen eine Maria, geläutert und erhaben im Angesicht des Todes.

Als weiteres sieht Schiller den freien Willen als „Geschlechtscharakter des Menschen“. „Kein Mensch muß müssen“, beginnt Schiller seine Schrift Über das Erhabene: „Der Mensch ist das Wesen, welches will.“ Nur was den Menschen aufhebt, der Tod und jeder Raub des Bewußtseins, kann die innere Freiheit aufheben.

Uns an die obigen Zitate Platons erinnernd, daß der Mensch eigentlich nach dem Guten und Wahren strebt, schreibt Schiller in den Philosophischen Briefen:

„Alle Geister werden angezogen von Vollkommenheit. Alle - es gibt hier Verirrungen, aber keine einzige Ausnahme - alle streben nach dem Zustand der höchsten freien Äußerung ihrer Kräfte, alle besitzen den gemeinschaftlichen Trieb, ihre Fähigkeit auszudehnen, alles an sich zu ziehen, in sich zu versammeln, sich zueigen zu machen, was sie als gut, als vortrefflich, als reizend erkennen. Anschauung des Schönen, des Wahren, des Vortrefflichen, ist augenblickliche Besitznehmung dieser Eigenschaften...

Etwas Ähnliches sagt einem jeden schon das innere Gefühl. Wenn wir z.B. eine Handlung der Großmut, der Tapferkeit, der Klugheit bewundern, regt sich da nicht ein geheimes Bewußtsein in unserm Herzen, daß wir fähig wären, ein Gleiches zu tun?...

Ich wollte erweisen,... daß unser Wohlgefallen an Wahrheit, Schönheit und Tugend sich endlich in das Bewußtsein eigner Veredlung, eigner Bereicherung auflöset...

Vollkommenheit in der Natur ist keine Eigenschaft der Materie, sondern der Geister. Alle Geister sind glücklich durch ihre Vollkommenheit. Ich begehre das Glück aller Geister, weil ich mich selbst liebe. Die Glückseligkeit, die ich mir vorstelle, wird meine Glückseligkeit, also liegt mir daran, diese Vorstellung zu erwecken, zu vervielfältigen, zu erhöhen - also liegt mir daran, Glückseligkeit um mich her zu verbreiten.“

Trotz aller Veränderungen im Raum und der Zeit bleibt jedoch die ewige Einheit des Ichs im Menschen, die Person, „Wir sind, weil wir sind“:

„Der Mensch, vorgestellt in seiner Vollendung, wäre demnach die beharrliche Einheit, die in den Fluten der Veränderung ewig dieselbe bleibt... Alle Wahrnehmungen zur Erfahrung, d.h. zur Einheit der Erkenntnis, und jede seiner Erscheinungsarten in der Zeit zum Gesetz für alle Zeiten machen, ist die Vorschrift, die durch seine vernünftige Natur ihm gegeben ist...

Ob nun gleich ein unendliches Wesen, eine Gottheit, nicht werden kann, so muß man doch eine Tendenz göttlich nennen, die das eigentlichste Merkmal der Gottheit, absolute Verkündigung des Vermögens (Wirklichkeit alles Möglichen) und absolute Einheit des Erscheinen (Notwendigkeit alles Wirklichen) zu ihrer unendlichen Aufgabe hat. Die Anlage zu der Gottheit trägt der Mensch unwidersprechlich in seiner Persönlichkeit in sich: der Weg zu der Gottheit, wenn man einen Weg nennen kann, was niemals zum Ziele führt, ist ihm aufgetan in den Sinnen.“

Dieses Zitat aus den Ästhetischen Briefen ist Schillers Antwort auf die Frage, wie der Mensch, dem das göttliche Potential dazu gegeben ist, zu dieser Vollkommenheit gelangen kann, Freiheit im Erhabenen erreichen, wie kann er zu der Einheit der Erkenntnis gelangen? Denn nur indem sich der Mensch verändert, existiert er - nur indem er unveränderlich bleibt, existiert er.

Schiller geht es letztendlich um die Schaffung des ästhetischen, des sittlichen, moralischen Staates, der dem Bedürfnis nach in jeder feingestimmten Seele existiert, und in dem alles - auch das dienende Werkzeug - ein freier Bürger ist, der mit dem edelsten gleiche Rechte hat.

Weiter führt er in den Ästhetischen Briefen aus: „Alle Verbesserung im Politischen soll von Veredlung des Charakters ausgehen - aber wie kann sich unter den Einflüssen einer barbarischen Staatsverfassung der Charakter veredeln? Man müßte also zu diesem Zweck ein Werkzeug aufsuchen, welches der Staat nicht hergibt, und Quellen dazu eröffnen, die sich bei aller politischen Verderbnis rein und lauter erhalten... Dieses Werkzeug ist die schöne Kunst...“

Die schöne Kunst, d.h. die Schönheit, sieht Schiller als notwendige Bedingung der Menschheit, denn ihr Ideal wird von der Vernunft aufgestellt. Das Wesen der Schönheit ist Freiheit in der Erscheinung, das ist nicht Gesetzlosigkeit, sondern Harmonie von Gesetzen, nicht Willkür, sondern höchste innere Notwendigkeit.

„Das Schöne beschäftigt und kultiviert Vernunft und Sinnlichkeit, befördert durch Verengung ihres Bundes die Humanität, stiftet Vereinigung zwischen der physischen und moralischen Natur des Menschen... durch das Schöne erweitern wir das Feld unserer Empfindungen... Für den Menschen von gröberer Sinnlichkeit ist daher die Schönheit die größte Wohltat.“ (Fragmente aus den Ästhetischen Vorlesungen).

Die ästhetische Erziehung des Menschen setzt also die Beschäftigung mit dem Schönen - „weil es die Schönheit ist, durch die man zur Freiheit wandert“ -, die Bildung des Charakters und des Empfindungsvermögens voraus. „Nicht genug also, daß alle Aufklärung des Verstandes auf den Charakter zurückfließt; sie geht auch gewissermaßen vom Charakter aus, weil der Weg zu dem Kopf durch das Herz muß geöffnet werden. Ausbildung des Empfindungsvermögens ist also das dringendere Bedürfnis der Zeit, nicht bloß weil sie ein Mittel wird, die verbesserte Einsicht für das Leben wirksam zu machen, sondern selbst darum, weil sie zur Verbesserung der Einsicht erweckt.“

Wir müssen lernen, das Schöne zu beurteilen und den Geschmack dafür zu entwickeln, „denn der Geschmack sichert den Menschen vor der rohen Sinnlichkeit und vor der Verwilderung...

Der Geschmack verhält sich als Beurteilung des Schönen, so wie das Schmecken einer Speise, indem man diese erst gekostet, jenes betrachtet und empfunden haben muß, um von beiden sein Gefühl und Urteil aussagen zu können.“ (Fragmente aus den Ästhetischen Vorlesungen).

Es ist also die Beschäftigung mit der schönen Kunst, Musik, Poesie, die in uns das Gefühl für das Schöne erweckt, den ästhetischen Sinn festigt, denn „durch die ästhetische Gemütsstimmung wird die Selbsttätigkeit der Vernunft schon auf dem Felde der Sinnlichkeit eröffnet, die Macht der Empfindung schon innerhalb ihrer eigenen Grenzen gebrochen und der physische Mensch so weit veredelt, daß nunmehr das Geistige sich nach Gesetzen der Freiheit aus demselben bloß zu entwickeln braucht... Der ästhetisch gestimmte Mensch wird allgemein urteilen und allgemeingültig handeln, sobald er es wollen wird.“

Für Schiller sollte diese Aufgabe dem Theater - dem „offenen Spiegel des menschlichen Lebens“ -, der Schaubühne, zukommen, die er als moralische Anstalt definiert. Der Zustand des Schauspiels zu Schillers Zeit, über welches er drastisch sagt, es sei der Platz für das große Heer der Müßiggänger und würde mehr für die Toilette und die Schenke arbeiten, ist vielleicht nicht mit der Dekadenz der entsprechenden heutigen Szene zu vergleichen, aber er ist das gleiche Anzeichen für den moralischen Niedergang unserer Gesellschaft.

Welcher Gegensatz zu Schillers herrlicher Darstellung der Schaubühne - fast wie eine Regieanweisung für das Theaterwesen. Die Bühne soll ein unfehlbarer Schlüssel zu den geheimsten Zugängen der menschlichen Seele sein, uns z.B. mit Schicksalen der Menschheit bekannt machen und uns lehren, gerechter gegen den Unglücklichen zu sein, denn nur, wenn wir die Tiefe seiner Bedrängnisse ausmessen, dürfen wir das Urteil über ihn aussprechen.

Die Schaubühne vereinigt alle Klassen und Stände in sich und hat den gebahntesten Weg zum Verstand und zum Herzen, sie „ist der gemeinschaftliche Kanal, in welchem von dem denkenden besseren Teil des Volkes das Licht der Weisheit herunterströmt, und von da aus in milderen Strahlen durch den ganzen Staat sich verbreitet.“

Schiller hat sich intensiv mit der Antike beschäftigt - so hatte er z.B. die berühmte Mannheimer Antikensammlung besucht und in dem Brief eines reisenden Dänen begeistert darüber berichtet: „Der Mensch brachte hier etwas zustande, das mehr ist, als er selbst war, das an etwas größeres erinnert, als seine Gattung... Die Griechen malten ihre Götter nur als edlere Menschen und näherten ihre Menschen den Göttern. Es waren Kinder einer Familie.“ 

Winckelmanns Gefühl für das Schöne

Auf die Werke Johann Joachim Winckelmanns, die Schiller in diesem Zusammenhang las, hatte ihn wahrscheinlich sein Lehrer an der Karlsschule, Jakob Friedrich Abel, aufmerksam gemacht.

Der Altertumsforscher Winckelmann lebte vor Schiller und hatte den gleichen universalgeschichtlichen Ansatz. Deshalb unterschied er z.B. die griechische von der römischen Kunst. Er wollte den Geschmack verbessern und orientierte sich dabei an den universalen Grundsätzen von Vernunft, Wahrheit und Gemeinwohl, und er wandte sich gegen die französische Kulturdominanz.

Zu diesem Zwecke entwarf er auch Vorschläge für den Unterricht. Darin heißt es u.a.:

„Zuerst sollte bei dem Schüler dessen Herz und Empfindung, durch Erklärung der schönsten Stellen alter und neuer Schriftsteller, sonderlich der Dichter, rührend erweckt und zu eigener Betrachtung des Schönen in aller Art zubereitet werden, weil dieser Weg zur Vollkommenheit führt. Zu gleicher Zeit sollte sein Auge an Beobachtung des Schönen in der Kunst gewöhnt werden... da die ungetrübte Empfindung dem Efeu gleicht, welcher sich ebenso leicht an einen Baum, als an eine Mauer anhängt, ich will sagen, das Schlechte und Gute mit gleichem Vergnügen sieht, so soll man denselben mit schönen Dingen beschäftigen.“

In der Nachahmung der Alten sah Winckelmann den einzigen Weg, als Künstler selbst groß, möglichst unnachahmlich zu werden. Deshalb galt es als vorgeschriebenes Gesetz, der Wahrheit der Natur zu folgen. Das höchste Gesetz aber war, „die Personen ähnlich und zu gleicher Zeit schöner zu machen“, und dies setzt notwendig eine Absicht des Meisters auf eine schönere und vollkommenere Natur voraus.

In seinen Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst schreibt Winckelmann: „Ich glaube, ihre Nachahmung könnte lehren, geschwinder klug zu werden, weil sie hier in dem einen den Inbegriff desjenigen findet, was in der ganzen Natur ausgeteilt ist, und in dem andern, ,, wie weit die schönste Natur sich über sich selbst, kühn aber weislich, erheben kann. Sie wird lehren, mit Sicherheit zu denken und zu entwerfen, indem sie hier die höchsten Grenzen des menschlich und zugleich des göttlich Schönen bestimmt sieht... die Begriffe des Ganzen, des Vollkommenen in der Natur des Altertums werden die Begriffe des Geteilten in unserer Natur bei ihm läutern und sinnlicher machen...

Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist endlich die edle Einfalt und eine stille Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdruck. Der Ausdruck in den Figuren der Griechen zeigt bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele...

Der Ausdruck einer so großen Seele (z.B. im Gesichte des Laokoon) geht weit über die Bildung der schönen Natur: der Künstler mußte die Stärke des Geistes in sich selbst fühlen, welche er seinem Marmor einprägte. Griechenland hatte Künstler und Weltweise in einer  Person.“

Das Schöne besteht also in der Mannigfaltigkeit des Einfachen, dies sah Winckelmann gleichsam als den Stein der Weisen, den der Künstler zu suchen habe. Und er begründet dies damit, daß die Schönheit nicht unter Zahl und Maß fällt. „Die Linie, die das Schöne beschreibt, ist elliptisch, und in derselben ist das Einfache und eine beständige Veränderung. Sie kann mit keinem Zirkel beschrieben werden und verändert in allen Punkten ihre Richtung. Dieses ist leicht gesagt und schwer zu lernen: welche Linie, mehr oder weniger elliptisch, die verschiedenen Teile zur Schönheit formt, kann die Algebra nicht bestimmen.“

Die Krise in unserer Gesellschaft verunsichert viele Menschen, führt aber auch zur Rückbesinnung auf  das Bleibende. Mein Vortrag soll dazu anregen, Schillers Werk und seine großen Ideen zu studieren. Denken wir wieder wie Schiller, denn

 

                                   Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben,

                                   Bewahret sie!

                                   Sie sinkt mit euch! Mit euch wird sie sich heben!

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