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Neue Solidarität
Nr. 42, 14. Oktober 2009

Schluß mit der englischen Krankheit im Gesundheitswesen!

Deutschland. Die Rationierung im deutschen Gesundheitswesen hat schon begonnen und muß energisch bekämpft werden.

Nach der Wahl überschlagen sich die Meldungen: Steuereinahmen brechen zusammen, der Gesundheitsfonds und Sozialleistungen sind nicht mehr finanzierbar, kommunale Krankenhäuser haben kein Geld und müssen privatisiert werden. Im Fernsehen gibt es Sendungen wie „Altersgrenzen für teure Medizin?“ (am 5.10. im MDR). Alles kreist um das zentrale Mantra: „Die Ressourcen sind begrenzt!“ Die einen betonen, man müsse sie möglichst „gerecht“ verteilen, die anderen wollen eine allgemeine Minimalversorgung und sonst jeden nach seinen Möglichkeiten „frei entscheiden lassen“. Daß diese Freiheit aber aufgrund des wirtschaftlichen Kollapses sowieso verschwindet, wird nicht erwähnt. Das ist keine kompetente Politik, sondern blanker Darwinismus - das Recht des Stärkeren in einem kollabierenden System.

Besonders perfide ist der Versuch, in der Öffentlichkeit Stimmung gegen die Alten und „zu Kranken“ zu schüren. Man hört allerorten, die Menschen hätten ein zu hohes Anspruchsdenken und müßten sich jetzt „bescheiden“. So auch der Vorstandsvorsitzende des Verbandes der Ersatzkassen (vdek), Thomas Ballast, der kürzlich in der Hannoverschen Neuen Presse behauptete, es gebe in Deutschland „eine zunehmende Überversorgung“, zu viele Krankenhausbetten und zu viele Pflegetage pro Behandlungsfall, vor allem nach internationalen Maßstäben. „Wir haben immer noch zu viele Ärzte, zu viele Krankenhäuser und enorm viele Apotheken.“

Die finanziell motivierte sog. Kosten-Nutzen-Argumentation im Gesundheitswesen gibt es nicht erst seit heute. Sie ist Ausgeburt und logische Folge inkompetenten, statistischen Denkens - und vor allem der Weigerung, eine andere Wirtschaftspolitik zu betreiben. Politiker, Ökonomen und Akademiker marschierten seit Beginn der siebziger Jahre frohgemut mit dem „Zeitgeist“ in die unproduktive Spekulations- und grüne „Dienstleistungsgesellschaft“, in der Menschen laut Club of Rome und seiner Ideologie der „Grenzen des Wachstums“ plötzlich störender Kostenfaktor waren. Mit dieser Politik zerstörte man die Voraussetzung für eine wachsende Gesellschaft ebenso wie ihr moralisches Fundament, denn der größte Reichtum einer Nation, und zwar in jeder Hinsicht, ist ihr wachsendes Bevölkerungsdichtepotential.1

In Deutschland begannen Ende der siebziger Jahre diejenigen die Trommel zu rühren, die unter Bedingungen der Wirtschaftskrise das seit Bismarck existierende, bewährte solidarische Sozialsystem untergraben und auf den Weg des „managed care“, also „rationierter Billigversorgung“, bringen wollten. In den USA wurde dieser Weg zugunsten privater Finanzinteressen mit der Abschaffung des Hill-Burton-Gesetzes 1972 beschritten.

1982 schrieb der heute als Guru geltende Statistiker und „Gesundheitsökonom“ Walter Krämer sein Buch Wer leben will, muß zahlen. Darin postulierte er: „Als Folge stagnierenden Wirtschaftswachstums nähert sich das Geben und Nehmen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen immer mehr einem Nullsummenspiel. Was der eine will, muß er dem anderen wegnehmen. Im Gegensatz zu wachsenden Wirtschaften, wo zumindestens im Grundsatz jeder über immer größere Stücke des Sozialprodukt-Kuchens verfügen kann, ohne daß ein anderer darunter leiden muß, ist heute der Anspruch auf Mehr eines einzelnen Individuums, eines Interessensverbandes oder einer sonstigen gesellschaftlichen Gruppe mit einer Minderversorgung anderer verknüpft.“

Krämer, wie heute viele, folgerte daraus messerscharf: „Ohne Verzicht auf medizinisch sinnvolle Vorsorge- und Heilverfahren ist eine Kostenbegrenzung in unserem Gesundheitswesen nicht zu haben. Diese Erkenntnis ist unangenehm, weil es unangenehme Entscheidungen notwendig macht… Früher oder später wird auch dem letzten unserer Gesundheitsstrategen zu Bewußtsein kommen, daß eine Gesundheitspolitik ohne eine Antwort auf die Frage: ‚Wer soll leben?’ nicht mehr zu machen ist.“

IQWIG, NICE und Co.

Solche Töne kennen wir aus den Praktiken des NICE in England, wo mittlerweile jeder 7. Todesfall durch „terminale Sedierung“ geschieht, bzw. aus den „Berechnungen“ eines Ezekiel Emanuel, dem Gesundheitsberater von Präsident Obama, der „beweist“, daß die letzten zwei Lebensjahre angeblich immer die teuersten sind.

Eine Tagung im Dresdner Hygiene-Museum am 19. und 20. Juni 2009 erlaubte einen exemplarischen Blick auf die Netzwerke, die in der deutschen akademischen „Elite“ in den letzten Jahren den Boden für Triage bereitet haben. Die Tagung wurde übrigens mitveranstaltet von der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen und der Akademie für Palliativmedizin und Hospizarbeit Dresden gGmbH. Das Thema lautete: „Welches Leben ist mehr wert - wie knappe Güter im Medizinsystem gerecht zu verteilen sind“. Alle Vorträge kreisten um „Effizienz im Gesundheitssystem“, „Allokationsproblematik“, „Grundorientierungen in der gesundheitspolitischen Verteilungsdebatte“, „Fragen der Selbstbestimmung und Hilfebedürftigkeit unter den Bedingungen von Knappheit und Verteilungsproblemen“.

Prof. Peter Sawicki, Leiter des umstrittenen Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) pries die statistische sog. „evidenzbasierte“ Medizin (die sich immer auf Patienten- oder Populationsgruppen bezieht). Diese sei effektiver als die „alte“, vorwiegend individualistisch orientierte Medizin. Dabei stellte er der sog. „internen Evidenz“ des einzelnen Mediziners (durch Ausbildung, Erfahrung etc.) die „externe Evidenz“ der „Wissenschaft“ gegenüber: z.B. Kunst - Wissenschaft, Hoffnung - Skepsis, Glaube - Wissen, Mystik - Logik, Täuschung - Ent-täuschung, etc. Wem in dieser Aufzählung etwas aufgefallen ist, geht es wie der Verfasserin, die Prof. Sawicki darauf hinwies, daß man nicht besonders religiös sein muß, um zu wissen, daß zu Glaube und Hoffnung auch die Liebe gehört, wovon allerdings in seinem ganzen Gedankenkonstrukt jede Spur fehlte.

Das IQWIG nahm seine Arbeit im Rahmen des GKV-Modernisierungsgesetzes ab dem 1. Januar 2004 auf. Es überprüft im Auftrag des Gemeinsamen Bundesauschusses (Kostenträger und Leistungserbringer) und des Bundesgesundheitsministeriums medizinische Leistungen und bereits zugelassene Medikamente (pharmaökonomisch) auf ihren „Nutzen“. Demzufolge werden diese dann in den Leistungskatalog der Krankenkassen aufgenommen oder nicht. Eine ähnliche Rolle spielt die 2000 gegründete staatliche DAHT, die Deutsche Agentur für Health Technology Assessment. Nutzen bezieht sich hier nicht, wie man als ahnungsloser Bürger zunächst vermuten mag, auf die medizinische Wirkung. Es handelt sich um eine statistische Bestimmung, bei der man eine „Analyse von Effizienzgrenzen“ vollzieht. Der „therapeutische Zusatznutzen“ für den Patienten von Medikamenten und Behandlungsformen wird dabei ins Verhältnis zu den Kosten gesetzt, wobei „Angemessenheit und Zumutbarkeit einer Kostenübernahme durch die Versichertengemeinschaft“ mit berücksichtigt wird.

Mit scheinbar „neutralen“ Bewertungsverfahren wollte man offenbar bisher eine offene Rationierung nach Alters- oder Bevölkerungsgruppen in Deutschland vermeiden, die ja - nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen in der Nazizeit - auf die „Hürde“ des Grundgesetzes trifft (Art.2 in Verbindung mit Art.19). Tatsächlich läuft die Methodik aber in der Konsequenz auf dasselbe Resultat hinaus, wie die berüchtigten „qualitätsgewichteten“ Lebensjahre (QALY), mit denen in England festgelegt wird, was ein durch medizinische Behandlung gewonnenes Lebensjahr im Durchschnitt noch kosten darf. Unter Bedingungen der Wirtschaftskrise wird das auch in Deutschland sehr schnell deutlich werden.

Das 1999 unter Tony Blair gegründete NICE (National Institute for Health and Clinical Excellence) diente als wichtiges Vorbild für die Gründung des IQWIG. NICE veröffentlicht IQWIG-Berichte auf seiner Webseite, auch wenn die in Deutschland bereits häufig umstrittenen IQWIG-Empfehlungen manchmal noch „großzügiger“ ausfielen als die britischen. Seit 2006 finden regelmäßige Treffen zwischen NICE, IQWIG und dem französischen HAS-Institut statt, bei denen man z.B. gemeinsame Verfahren zur „schnellen Nutzenbewertung“ entwickelt oder auch die Frage untersucht, „welche Anreize Angehörige der Gesundheitsberufe dazu motivieren, wissenschaftliche Empfehlungen zügig in die Praxis umzusetzen“.

Wie so etwas aussieht, konnte man in einem Interview nachlesen, das Prof. Sawicki dem österreichischen Kurier am 18.5.09 gab. Im Juni nahm er am 1. Internationalen Kongreß für Evidenzbasierte Gesundheitsförderung und Prävention in Baden bei Wien teil. Im Kurier-Interview stritt er den Nutzen von Mammographie zur Brustkrebs-Früherkennung ab und behauptete naßforsch, die Ärzte klärten die Patientinnen nicht genügend über Vor- und Nachteile solche Untersuchungen auf; sie wollten damit Geld verdienen. Häufig seien sie aber auch nicht ausreichend informiert über aktuelle Studien und handelten deshalb „aus der verblendeten Überzeugung“ heraus, sie könnten mit solchen Untersuchungen „das Leben ihrer Patienten retten“. Und schließlich das für normal denkende Menschen verwirrende Fazit: „Das Verführerische an Vorsorgeuntersuchungen ist, daß sie in 90 bis 95 % der Fälle ergeben, daß einem nichts fehlt. Und dieses Resultat gibt den Patienten einen enormen Lebensmut.“ Sind Mammographie-Untersuchungen also deshalb unnütz, weil man den Nebeneffekt des erhöhten Lebensmutes für die vielen, denen nichts fehlt, nicht monetär veranschlagen kann? Oder ist es nicht einfach so, daß auf Früherkennung bei den Betroffenen in der Regel eine „teure Behandlung“ folgt?

Wer einen ersten Eindruck des erschreckenden Vormarschs der „evidenzbasierten“, statistischen „Gesundheitsökonomie“ nebst der dazugehörigen „Ethik“ auf allen Ebenen und ihren internationalen Vernetzungen in Deutschland erhalten will, braucht nur einen Blick auf das Portal „Gerechte Gesundheit - das Portal zur Verteilungsdebatte“ zu werfen (www.gerechte-gesundheit.de). Hinweise auf die Rolle privater Finanzinteressen im Hintergrund, ihrer Handlanger in den Medien, den Namen Bertelsmann oder die Tatsache, daß der frühere Chef der Techniker-Krankenkasse gerade zum Rhön-Klinikum wechselte, findet man da allerdings nicht.2

Triage fürs bankrotte Finanzsystem - nicht für die Menschen!

Wir stehen vor dem schlimmsten Absturz der menschlichen Zivilisation, wenn wir den Moloch des völlig bankrotten Weltfinanzsystems nicht schleunigst begraben. Daß es um die Menschenwürde und um die pure Existenz geht, ist der Bevölkerung in den USA, wo es einen Volksaufstand gegen Obamas Gesundheitspläne gibt, mittlerweile aufgegangen. In Deutschland gilt es, jetzt die BüSo zu stärken, die den Namen „Bürgerrechtsbewegung Solidarität“ bei ihrer Gründung 1992 aus gutem Grund gewählt hat. Sie verfügt als einzige deutsche Partei über ein funktionierendes Programm gegen diese Krise.

Das lineare Dogma der „begrenzten Ressourcen“ war immer ein imperialer Schwindel. Menschen können nie „zu teuer“ oder „überflüssig“ sein. Die menschliche Kreativität unterscheidet uns als Gattung von allen anderen Lebewesen und macht die einzigartige Stellung des Menschen im Universum aus. Mit einem geordneten Konkursverfahren des Finanzsystems, einem neuen System staatlicher produktiver Kreditschöpfung für langfristige Aufbauprojekte, für die Erschließung des Weltraums und viele andere inspirierende Aufgaben können wir die große Krise meistern.

Elke Fimmen, stellv. Bundesvorsitzende der BüSo

 


Anmerkungen

1. Wie die BüSo schon in ihrer Broschüre Was tun gegen die Demontage des Gesundheitswesens? von 1997 erläuterte, stiegen die GKV-Ausgaben für Gesundheitsleistungen zwischen 1975 und 1990 im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt kaum. Deutlich angestiegen waren die Ausgaben hingegen zwischen 1970 und 1975, und zwar vor allem wegen der massiven inflationären Auswirkungen des manipulierten Ölpreisanstieges 1973. Die damit einhergehende tiefe Rezession und die anhaltend hohen Energiepreise produzierten ein seither nie wieder unterschrittenes Arbeitslosigkeitsniveau, das der Beginn der Verschuldungsspirale von Bund, Ländern und Gemeinden war. Nach 1990 kamen die neuen Bundesländer mit ihrem weit geringeren BIP als dem der alten Bundesländer hinzu. Später sanken die Einnahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung aufgrund der steigenden Arbeitslosigkeit sowie der Abkehr von produktiver Arbeit immer weiter.

2. Die Techniker Krankenkasse (Mitglied im vedk) untersucht übrigens mit ihrem eigenen Wissenschaftlichen Institut für Nutzen und Effizienz im Gesundheitswesen (WINEG), was Deutschland bei der Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneistoffen von Großbritannien lernen kann.

Lesen Sie hierzu bitte auch:
Der Euthanasieskandal in Großbritannien
- Neue Solidarität Nr. 39/2009
NICE entscheidet über Leben und Tod
- Neue Solidarität Nr. 25/2009
Jetzt handeln! Gegen Obamas Politik der „Menschenopfer“
- Neue Solidarität Nr. 24/2009
Großbritannien fordert Freihandel für Viren
- Neue Solidarität Nr. 24/2009
Dossier über die vorsätzliche Zerstörung der Gesundheitssysteme
- Neue Solidarität Nr. 22-23/2009