» » » Internetforum mit Helga Zepp-LaRouche « « «
Aktuelle Ausgabe Diese Ausgabe Gehe zu ... Kernthemen Suchen Abonnieren Leserforum

Artikel als
=eMail=
weiterleiten

Aus der Neuen Solidarität Nr. 33/2008

Jetzt
Archiv-CD
bestellen!

  Produktive Kreditschöpfung 
  Neues Bretton Woods
  Glass-Steagall
  Physische Wirtschaft
  Kernenergie
  Eurasische Landbrücke
  Transrapid
  Inflation
  Terror - Cui bono?
  Südwestasienkrise
  11. September und danach
  Letzte Woche
  Aktuelle Ausgabe
  Ausgabe Nr. ...
  Heureka!
  Das Beste von Eulenspiegel
  Erziehungs-Reihe
  PC-Spiele & Gewalt 
  Diskussionsforum
  Wirtschaftsgrafiken
  Animierte Grafiken

Die amerikanischen Wurzeln
der industriellen Revolution in Deutschland

Von Helga Zepp-LaRouche

Geschichte. Den folgenden Vortrag hielt die BüSo-Vositzende Helga Zepp-LaRouche am 4. Juli 2008 auf einem Wochenendseminar der LaRouche-Jugendbewegung (LYM) in der Nähe von Nordhausen am Harz.

Ich will heute abend etwas zu dem prinzipiellen Konflikt sagen, der die gegenwärtige weltstrategische Lage dominiert. Es handelt sich dabei um einen Konflikt, über den man mit Sicherheit in den deutschen Medien nichts lesen wird, weil es politisch nicht korrekt ist, darüber zu sprechen. Zudem scheint dahinter lange vergessenes Wissen über die Geschichte verborgen zu sein - über Geschichte generell und insbesondere über die Geschichte des 19. Jahrhunderts, worüber in Deutschland kaum noch jemand etwas weiß, was ein unhaltbares Phänomen ist.

Der Hauptkonflikt, ohne den man nicht verstehen kann, was heute passiert, ist der Konflikt zwischen dem Britischen System und dem Amerikanischen System der Ökonomie. Ich werde in meinen Ausführungen darauf eingehen, weil das keineswegs ein akademisches Thema ist, das nur die Vergangenheit betrifft, sondern ganz aktuelle Bedeutung hat.

Zum Beispiel traten kürzlich bei der FAO-Konferenz in Rom genau die Leute auf, die die britische Freihandelspolitik vertreten. Sie wollen, daß die sogenannte Doha-Runde der WTO (Welthandelsorganisation) endlich abgeschlossen wird, d.h. jegliche Barrieren und Schutzzölle verschwinden.

Was heißt eigentlich Freihandel? Das heißt, daß die Spekulanten, die jetzt für die Erhöhung der Öl- und Nahrungsmittelpreise verantwortlich sind, völlig freie Hand bekommen. Das ist die Position der EU, das ist die Position der USA, das ist die Position von IWF, Weltbank usw. Diese prallt jetzt frontal mit der Position der meisten Entwicklungsländer zusammen, die unter dem Eindruck der Nahrungsmittelkatastrophe sagen: „Nein, wir brauchen keinen Freihandel mehr, sondern wir brauchen Nahrungsmittelsicherheit. Jedes Land muß soviel produzieren, daß es sich selbst ernähren kann. Wir brauchen das genaue Gegenteil von Freihandel, wir brauchen Protektionismus und Schutzzölle, um die schwächeren Ökonomien insbesondere vor der Flut von Billigprodukten zu schützen.“

Das ist in Wirklichkeit auch der Hauptgegensatz zwischen dem katastrophalen Lissabon-Vertrag, der die neoliberale Politik zementieren würde, und all den Kräften, die sich weltweit für einen New Deal, für ein Neues Bretton Woods, für die Politik in der Tradition von Franklin Delano Roosevelt aussprechen. Bereits in den dreißiger Jahren hatte auch in Deutschland Dr. Wilhelm Lautenbach ähnliche Vorschläge wie Roosevelt gemacht. Ebenso ging der berühmte WTB-Plan (von Woytinsky, Tarnow, Baade) des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) in die Richtung staatlicher Kreditschöpfung und staatlicher Investitionsprogramme.

Diese beiden Positionen knallen derzeit aufeinander, und es wird vom Ausgang dieser Auseinandersetzung abhängen, ob die Welt in einen Alptraum von Hungersnöten und Hungerkatastrophen verfällt, wie wir sie jetzt schon erleben, oder ob es rechtzeitig gelingt, die Freihandelstheorie zu besiegen und eine am Gemeinwohl orientierte Politik zu betreiben.

Dieser Kampf dauert schon sehr lange an; man kann sagen, mindestens zweieinhalbtausend Jahre. Somit ist es nicht der Klassenkampf, der die Geschichte bestimmt, nicht der „Dia-Mat“ [Dialektischer Materialismus] oder „Histo-Mat“ [Historischer Materialismus], sondern der Kampf zwischen den republikanischen Tendenzen und den oligarchischen Tendenzen.

Friedrich Schiller hat diesen Gegensatz in seiner Schrift über die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon beschrieben, wobei die weisen Gesetze des Solon den Zweck der Fortschreitung aller Bürger der Gesellschaft hatten, dagegen aber in Sparta alles dem Staat und damit einer kleinen Elite aufgeopfert wurde und der Mensch nichts galt.

Eigentlich kann man sagen, daß solche imperialen, oligarchischen Regierungsformen die ganze Welt bis zum 15. Jahrhundert beherrscht haben. Hierzu sei nur angemerkt, daß ich auf einer unserer Konferenzen in Bad Schwalbach einmal einen Vortrag über die Herausbildung des Nationalstaates gehalten und dabei die Schrift [Friedrich August Freiherr] von der Heydtes „Die Geburtsstunde des modernen Staates“ zitiert habe. Ich kann jedem nur empfehlen, diesen Aufsatz einmal zu studieren, denn in dieser Frage gibt es heute die größten Vorurteile und Irrtümer: Der Nationalstaat sei schlecht, er bringe nur Kriege; die Nationalstaaten seien an den beiden Weltkriegen schuld gewesen usw. Das ist natürlich vollkommener Unsinn, denn die zwei Weltkriege waren das Resultat des Zusammenpralls von Imperien - des österreichisch-ungarischen, des russischen, des britischen und des deutschen. Das waren keine Nationalstaaten, sondern imperiale Gebilde, die um die Vorherrschaft in einer imperialen Ordnung kämpften.

Von der Heydte beschreibt die Entstehung der Nationalstaaten (ich will das jetzt nicht zum Thema machen) als einen ungeheuer mühsamen Prozeß vom Kaisertum und Papsttum bis schließlich zur Idee nationaler Souveränität und damit der Orientierung der Regierungen am Gemeinwohl. Es hat insgesamt fünfzehnhundert Jahre oder länger gedauert, bis es dahin kam.

Nikolaus von Kues war derjenige, der in der Concordantia Catholica (vor allen Dingen im dritten Buch) zum ersten Mal ganz klar formuliert hat, daß die Menschenrechte als Prinzipien nur durch ein repräsentatives System gewahrt werden können; d.h. die Bürger wählen Repräsentanten, und diese Repräsentanten stehen in einem reziproken Rechtsverhältnis, denn sie sollen einerseits die Interessen der Bürger, andererseits aber auch die Interessen der Regierung vertreten.

Das oligarchische System

Das war ein ganz wichtiger Gedanke. Schon Platon oder auch Thukydides hatten erkannt, daß die Demokratie nur die Kehrseite von Oligarchie und Tyrannei war. Bei bestimmten Punkten mag es sehr sinnvoll sein, Volksbefragungen durchzuführen, aber wenn man versucht, eine reine Basisdemokratie zu praktizieren, wird es vollkommen absurd. Wollte man das Volk zu Dingen befragen, wie viele Lampen in der Hauptstadt aufgehängt oder wie viele Brücken gebaut werden sollten usw., käme man vom Hölzchen aufs Stöckchen, und nichts ginge mehr. Es würde genau das passieren, was im griechischen Athen in der sogenannten Demokratie von Perikles auch passiert ist: Perikles war der erste Mann im Staat, faktisch aber auch ein Diktator.

Aufbauend auf vielen Schritten vorher bedeutete diese Formulierung von Cusanus tatsächlich die Begründung des modernen souveränen Staates. Durch den Kampf der Johanna von Orleans konnte sich die Tendenz zum Nationalstaat auch in Frankreich entwickeln, so daß sich dann in den zwanzig Jahren während der Herrschaft von Ludwig XI. der Lebensstandard der Bevölkerung verdoppelte.

Es war also die Idee entstanden, daß die Regierung die Pflicht habe, sich für das Gemeinwohl der Bevölkerung einzusetzen; außerdem entstand die Erkenntnis, daß sich dies nur im Rahmen urbaner Strukturen verwirklichen ließe, d. h. wenn ein immer größerer Teil der Bevölkerung von reiner Landwirtschaft zum Leben in den Städten mit Wissenschaft, Technologie und generellem Fortschritt überginge. Die drei Entwicklungen von Nikolaus von Kues über Ludwig XI. und die italienische Renaissance bedeuteten den Beginn der Neuzeit. Alles davor war noch Mittelalter.  

Die Amerikanische Revolution

Natürlich hatte der Umstand, daß jetzt Regierungen plötzlich die Privilegien der Oligarchie, der Nobilität, des Adels zurückschneiden, sofort den Widerstand Venedigs auf den Plan gerufen, das damals die Weltherrschaft im Seehandel beanspruchte. Letztlich gab es im Kampf zwischen dem Nationalstaat und den oligarchischen Strukturen erst mit der Amerikanischen Revolution den ersten durchschlagenden Erfolg.

Die Amerikanische Revolution ist natürlich nicht ohne Kolumbus zu denken, denn wenn Kolumbus Amerika nicht entdeckt hätte, hätte diese Revolution nicht stattfinden können, und daran hatte Nikolaus von Kues einen großen Anteil. Er war 1492 zwar schon tot, aber einer der Freunde des Nikolaus von Kues war der große Geograph und Mathematiker Toscanelli, der auf der Basis cusanischer Ideen Landkarten erstellte, die Kolumbus bei seinen Entdeckungsreisen benutzte.

Die Idee, daß man die neue Welt möglichst weit weg von der Kontrolle der europäischen Oligarchie aufbauen müsse, bahnte sich bereits in dieser Zeit an und hatte mit der Amerikanischen Revolution einen ersten Erfolg.

Die Amerikanische Revolution war keineswegs so, daß irgendwelche wilden Cowboys, wie in Wildwestfilmen aus Hollywood dargestellt, nach Westen gezogen wären. Sie war ein Projekt, das mit Cotton Mather in der Massachusetts Bay Colony anfing und von Benjamin Franklin vorbereitet wurde, der mit den besten humanistischen Kreisen in Europa in Kontakt stand - mit Abraham Kästner, mit den Kreisen um Gotthold Ephraim Lessing und Moses Mendelssohn, so daß die Amerikanische Revolution eigentlich das Projekt aller Humanisten und Republikaner in Europa wurde, die sich darüber unheimlich freuten.

In Friedrich Schillers Don Carlos gibt es diese phantastische Szene zwischen Marquis Posa und König Philip, in der Marquis Posa sich für Menschenwürde und Gedankenfreiheit einsetzt und fordert: „Seien Sie ein König von Millionen Königen!“ - das war das republikanische Prinzip.

Gleichheit kommt nicht dadurch zustande, daß man wie die Jakobiner in der Französischen Revolution allen gleichermaßen die Köpfe unter der Guillotine abhaut; sondern es kommt darauf an, daß alle erhoben und so im Grunde zu Königen werden. „Seien Sie ein König von Millionen Königen!“, ist ein ganz anderes Prinzip der Gleichheit.

Schiller schreibt in seinen Briefen über Don Carlos, daß dieses Drama in dem Jahrzehnt entstand, als der Lieblingsgegenstand von allen „die höchstmögliche Freiheit der Individuen bei des Staats höchster Blüte“ war. In welchem Jahrzehnt wurde Don Carlos geschrieben? Das waren die achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts, und es bezog sich ganz deutlich auf Amerika. Schiller wollte ja eine zeitlang sogar nach Amerika auswandern; er sagte, er wolle noch einmal ganz große Sprünge machen, was er dann aber nicht gemacht hat - vielleicht auch nicht so schlecht für uns!

Preußen und Amerika

Der Bezug humanistischer Kreise im 18. Jahrhundert auf das, was in Amerika passiert ist, spielte sich auf allen Ebenen ab - nicht nur auf Regierungsebene, sondern auch auf der Ebene der Dichter und Humanisten - so daß es keine Überraschung war, als Preußen 1780, also noch während des Unabhängigkeitskrieges, der „Liga der bewaffneten Neutralität“ und damit faktisch einem Bündnis gegen England beitrat. Das war für das Ergebnis dieses Krieges ganz, ganz wichtig.

Im gleichen Geist schloß Friedrich der Große 1785 auch den Freundschafts- und Handelsvertrag zwischen Preußen und den USA - der erste diplomatische Vertrag der jungen Republik. Das führte dazu, daß das Ansehen Preußens in den USA noch mehr anwuchs. Es war schon vorher wegen der Rolle Friedrichs des Großen im Siebenjährigen Krieg recht hoch, wo dieser durch seine Auseinandersetzungen in Europa Amerika den Rücken freihielt und zur gleichen Zeit Frankreich Kanada verlor, so daß Friedrich der Große als wirklicher Held galt. In Pennsylvania gab es damals viele Wirtshäuser, die „Zum Großen Fritz“ oder ähnlich hießen.

Zwanzig Jahre später ging Friedrich Wilhelm von Steuben nach Amerika - jener von Steuben, der den amerikanischen Soldaten erst einmal Disziplin beibringen mußte, was sich dann in Valley Forge und anderen Kriegsschauplätzen zeigte. Da war der Ruhm Friedrichs des Großen noch ungeheuer groß.

Zur gleichen Zeit kämpften auch sehr viele Deutsche in den amerikanischen Milizen; allerdings auf beiden Seiten, muß man leider sagen, denn bekanntermaßen haben auch die Oligarchen ihre Untertanen (zum Beispiel aus Hessen) verkauft, was Schiller in Kabale und Liebe verewigt hat. Wer das nachlesen will, sollte das tun.

Wenn man heute vom „Amerikanischen System“ spricht, dann heißt es meist: „Ääh, Bush!!“, und die Leute bekommen wilde Zuckungen. Es steht aber einfach fest, daß die amerikanische und die deutsche Geschichte aufs engste miteinander verbunden ist und es auf beiden Seiten eine unheimlich positive und ganz wichtige Tradition gibt, was eigentlich auch der Grund ist, warum wir die Hoffnung in Deutschland nicht vollkommen aufgeben sollten.

Diese Tradition ist etwas verschüttet, aber wie ich heute abend darzustellen versuche, ist sie trotzdem massiv da und bietet eine Reihe ganz interessanter Ansätze.

Ein Beispiel: Der Sohn des zweiten US-Präsidenten John Adams, John Quincy Adams, war von 1797 bis 1801 amerikanischer Gesandter in Berlin; das war in der Endphase der Französischen Revolution, die er somit persönlich miterlebt hat. Dann folgten der Aufstieg Napoleons und später der Wiener Kongreß.

Die Isolation Amerikas

Man sollte sich die europäische Geschichte einmal vom damaligen Standpunkt Amerikas ansehen, denn als in Europa mit Napoleon unglücklicherweise der erste Faschist an die Macht kam - ein Imperator, der sich in der Tradition des Römischen Reiches selber gekrönt hatte, der nicht nur Ägypten besiegen, sondern nach dem Rußlandfeldzug weiter nach Indien wollte, der also imperiale Weltmachtpläne hatte -, und Europa dann unter dem Regime Metternichs wieder riesengroße Rückschritte machte, da waren die USA vollkommen isoliert. Das ist für die amerikanische Geschichte sehr wichtig, denn nur so kann man verstehen, warum später durch Präsident Monroe, aber auch unter Mithilfe von John Quincy Adams, die Monroe-Doktrin erlassen wurde.

Die preußischen Reformer

Dahinter stand die einfache Idee, daß die Europäer sich gefälligst aus den Amerikas heraushalten sollten. Diese Kreise - Italiener, Spanier, Franzosen - hatten allesamt koloniale Absichten für Lateinamerika, zum Teil aber auch für Nordamerika, und dem sollte durch die Monroe-Doktrin ein Riegel vorgeschoben werden. Metternich war darüber vollkommen entrüstet und sagte: „Unverschämt, wenn sich solche Verträge jetzt noch weiter ausbreiten…“ Umgekehrt empfand Alexander von Humboldt die Monroe-Doktrin als völlig richtig und unterstützte sie.

Das war die Zeit in der Nachfolge der Deutschen Klassik, die vor allem von Schiller beherrscht wurde, der mit Sicherheit der Größte war, aber auch Wilhelm von Humboldt, der zusammen mit Körner Schillers engster Freund war. Natürlich lassen sich auch Wilhelm und Alexander von Humboldt nicht voneinander trennen. Es gab noch einige andere phantastische Staatsmänner: zum Beispiel Neidhardt von Gneisenau, Gerhard Scharnhorst, vom Stein. Mit denen kann sich heute keiner auch nur annähernd messen.

Ich meine, vom Stein und von Humboldt waren die größten Staatsmänner, die Deutschland je hatte. Was sie in den Freiheitskriegen gegen Napoleon geleistet haben, war wirklich enorm. Zum Beispiel haben vom Stein und Wilhelm von Humboldt noch während des Rußlandfeldzugs Memoranden für die deutsche Einheit geschrieben, die sie auf dem Wiener Kongreß präsentieren wollten. Das wurde durch die Machinationen der gesamten europäischen Oligarchie verhindert, so daß die Frage der deutschen Einheit, die durch den Volksaufstand und durch den Sieg in den Freiheitskriegen verdient war, gar nicht auf die Tagesordnung kam. Der Wiener Kongreß verkam vielmehr zu ständigen Bällen und Schlittenfahrten und allen möglichen Vergnügungen.

Gneisenau schrieb in dieser Zeit eine Abhandlung über den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, während Schillers Schwager von Wohlzogen, der Schillers „Geschichte des Abfalls der Niederlande“ studiert hatte, auf Grundlage von Schillers Geschichtswissen das Weißbuch für den „Abnutzungskrieg“ gegen Napoleon im Rußlandfeldzug verfaßte, also die Idee, daß man Napoleons Söldnerheer nur besiegen könne, wenn man es in die Weiten Rußlands lockt und dann in gewisser Weise ins Leere laufen läßt.

Friedrich List

In den gleichen Kreis gehört auch Friedrich List, der Vater des Deutschen Zollvereins, der nach der Restauration, die mit den Karlsbader Beschlüssen 1819 neue Härten mit sich brachten - Schillers Werke konnten nur heimlich unterm Tisch zwischen den Studenten weitergereicht werden - ebenfalls unter enormen Druck geriet und 1825 in die USA ging. Dort schrieb er ein Buch, in dem er den Unterschied zwischen amerikanischem und britischem System mit absolut großer Klarheit beschrieb. Er kam 1832 als amerikanischer Konsul nach Leipzig zurück, und es ist wirklich eines der größten Verdienste von Friedrich List, daß er die deutsch-amerikanischen Beziehungen auf eine ganz solide Grundlage gestellt hat. Es war auch extrem wichtig, daß er zusammen mit dem Marquis de Lafayette in Amerika war.

In der gleichen Zeit begann sich an den Universitäten von Göttingen und Berlin eine Art „Powerhouse“ von Intellektuellen beider Seiten des Atlantik zu entwickeln. In Göttingen studierte zum Beispiel damals der spätere amerikanische Historiker und Gesandte George Bancroft, der später eine ganz wichtige Rolle spielte, als er 1867 bis 1874 amerikanischer Botschafter in Berlin war und eng mit Otto von Bismarck zusammenarbeitete. Auch John Lothrop Motley, ein lebenslanger Freund Bismarcks, studierte mit letzterem zuerst in Göttingen und dann in Berlin.  

Die Bedeutung Humboldts

Eine andere sehr wichtige Rolle in dem Ganzen spielte Alexander von Humboldt, der 1791/92 an der Freiberger Bergakademie in Sachsen studierte und dort Forscher aus den USA, Mexiko, Peru, China und vielen anderen Ländern kennenlernte. Alexander von Humboldt unternahm dann 1799 eine Forschungsreise in die neue Welt, nach Lateinamerika, wo er so phantastische Entdeckungen machte, daß er 1804 von Präsident Thomas Jefferson nach Washington eingeladen wurde, um ihm aus erster Hand über seine Reise zu berichten. Dadurch wurde Alexander von Humboldt auch zu einer der Schlüsselfiguren in den deutsch-amerikanischen Beziehungen.

1804 bis 1827 lebte Alexander von Humboldt in Paris, dem damaligen Zentrum der Wissenschaftsarbeit in Europa, und er half später, als die politische Situation in Frankreich sich rapide verschlechterte, u. a. Lazard Carnot dabei, mit nach Deutschland zu kommen und dort weiterzuarbeiten.

1828 begann Alexander von Humboldt in der Berliner Singakademie Vorträge über sein Hauptwerk, den berühmten Kosmos, zu halten. Darüber berichtete ein Zuhörer: „Achthundert Menschen atmen kaum, um den einen zu hören. Es gibt keinen großartigeren Eindruck, als die irdische Macht, den Adel samt dem König, zu sehen, wie sie dem Geiste huldigt. Und schon deshalb gehört Humboldts jetziges Wirken in Berlin zu den erhebendsten Erscheinungen der Zeit.“

Ich möchte ein kurzes Zitat aus dem Kosmos vorlesen, einem Werk, das sich genauer anzuschauen lohnt. Es ist vielleicht nicht ganz auf dem gleichen konzeptionellen Niveau wie das von Kepler, aber es ist ein wunderbares Werk, und ich lese eine Passage vor, damit Ihr einen Begriff davon bekommt:

„Die Natur aber ist das Reich der Freiheit. Wer die Resultate der Naturforschung nicht in ihrem Verhältnis zu den einzelnen Stufen der Bildung oder zu den individuellen Bedürfnissen des geselligen Lebens, sondern in ihrer großen Beziehung auf die ganze Menschheit betrachtet, dem bietet sich als die erfreulichste Frucht dieser Forschung der Gewinn dar, durch die Einsicht in den Zusammenhang der Erscheinungen den Genuß der Natur vermehrt und veredelt zu sehen.“ - Die Idee also, daß die gesamte Natur miteinander zusammenhängt.

„Eine solche Veredelung aber ist das Werk der Beobachtung, der Intelligenz und der Zeit, in welcher alle Richtungen der Geisteskräfte sich reflektieren. Wie seit Jahrtausenden das Menschengeschlecht darin gearbeitet hat, in dem ewig wiederkehrenden Wechsel der Weltgestaltungen das Beharrliche des Gesetzes aufzufinden und so allmählich durch die Macht der Intelligenz den weiten Erdkreis zu erobern, lehrt die Geschichte den, welcher den uralten Stamm unseres Wissens durch die tiefen Schichten der Vorzeit bis zu seinen Wurzeln zu verfolgen weiß. Diese Vorzeit zu befragen, heißt dem geheimnisvollen Gang der Ideen nachzuspüren, auf welchem dasselbe Bild, das froh dem inneren Sinn als harmonisch geordnetes Ganzes, Kosmos, vorschwebte, sich zuletzt wie das Ergebnis langer mühevoller gesammelter Erfahrungen darstellt.

In diesen beiden Epochen der Weltensicht, dem ersten Erwachen des Bewußtseins der Völker und dem endlichen gleichzeitigen Aufbau aller Zweige der Kultur spiegeln sich zwei Arten des Genusses ab; den einen erregt in dem offenen kindlichen Sinne des Menschen der Eintritt in die freie Natur und das dunkle Gefühl des Einklangs, welcher in dem ewigen Wandel ihres stillen Treibens herrscht. Der andere Genuß gehört der vollendeten Bildung des Geschlechts und dem Reflex dieser Bildung auf das Individuum an. Es entspringt aus der Einsicht in die Ordnung des Weltalls und das Zusammenwirken der physischen Kräfte.

So, wie der Mensch nun Organe schafft, um die Natur zu befragen [damit meint er Instrumente] und den engen Raum seines flüchtigen Daseins zu überschreiten, wie er nicht mehr bloß beobachtet, sondern Erscheinungen unter bestimmten Bedingungen hervorzurufen weiß, wie endlich die Philosophie der Natur ihrem alten dichterischen Gewande entzogen, den ernsten Charakter einer denkenden Beobachtung des Beobachtens annimmt, treten klare Erkenntnisse und Begrenzungen an die Stelle dumpfer Ahndungen und unvollständiger Induktionen. Die Natur ist für die denkende Betrachtung Einheit in der Vielheit, Verbindung des Mannigfaltigen in Form und Mischung, Inbegriff der Naturdinge und Naturkräfte als ein lebendiges Ganzes.“

Ich meine, hieran wird sehr deutlich, daß Alexander von Humboldt, wie Kepler, einer derjenigen gewesen ist, die ausdrücklich die Arbeiten von Nikolaus von Kues hervorgehoben haben, und man erkennt darin durchaus ein ähnliches Denken wieder.

Alexander von Humboldt lebte, wie gesagt, nach seinen Aufenthalten in Amerika und in Frankreich wieder in Berlin. Er vertrat die ganze Zeit die Auffassung, daß die amerikanische Verfassung das eigentliche Vorbild für Deutschland sei. Einer seiner engsten Befürworter war Friedrich von Gerold, der später 24 Jahre lang preußischer Gesandter in Washington war.

Alexander von Humboldt hatte ein sehr gutes Verhältnis zum preußischen Königshaus, zu  Friedrich Wilhelm IV. und auch zu dessen Nachfolger König Wilhelm I., dem späteren Kaiser Wilhelm I. Auch aufgrund des Einflusses Alexander von Humboldts hatten diese beiden Könige eine sehr positive Einstellung zu den USA.

Alexander von Humboldt hatte immer Besuch in seinem Haus. Alle Amerikaner, die nach Berlin kamen, suchten ihn auf, er hatte zahlreiche Briefkontakte und unterstützte ganz bewußt jene amerikanischen Politiker, die gegen die Sklaverei in Amerika kämpften. Friedrich von Gerold hatte schon als 17-Jähriger an den Befreiungskriegen teilgenommen, und während seiner Zeit als Botschafter in Washington wanderten 1,5 Millionen Deutsche nach Amerika aus, im 19. Jahrhundert insgesamt 4 Millionen. Von Gerold schrieb aus Amerika, man dürfe in Preußen nie vergessen, daß sich in den USA „eine in der Weltgeschichte beispiellose Entwicklung von Macht, Bevölkerung und materieller Wohlfahrt“ vollziehe. Als es 1857 in Amerika zu einer schweren Wirtschaftskrise kam, wuchs der Druck, Schutzzölle zu errichten, und die Fraktion, die sich auf Alexander Hamilton und Friedrich List bezog, wurde stärker.

Preußen und Amerika im amerikanischen Bürgerkrieg

Mit dem Sieg der Republikanischen Partei 1860 und der Präsidentschaft Abraham Lincolns war der eigentliche Durchbruch erzielt. 1858 schrieb Henry C. Carey The American System of Political Economy, welches explizit die Schutzzollpolitik unterstützte. Schon fünf Jahre später, 1863, erschien in Deutschland eine deutsche Ausgabe des Werks, das die Tradition Lists erheblich stärkte.

Als dann der Bürgerkrieg ausbrach, stand England ganz klar auf der Seite der „Confederacy“ und war der Ansicht, daß der englische Rechtsgedanke, der angeblich die staatliche Souveränität darstellte, dort jetzt Geltung hätte und daß man den Bürgerkrieg als die Fortsetzung der 1776 begonnenen Loslösung der amerikanischen Kolonie vom britischen Empire zu betrachten habe. Freiherr von Gerold, seit Anfang der vierziger Jahre Botschafter, hatte die Überzeugung, daß die Einheit der Union mit dem Süden wiederhergestellt werden müsse, und seine diplomatischen Berichte hatten großen Einfluß insbesondere auf die Politik in Preußen. In Washington festigte von Gerold die gegenseitigen Beziehungen, so daß in Washington sehr stark der Eindruck vorherrschte, Preußen sei ein enger Freund.

In der Mitte des Bürgerkrieges wurde dann ein gewisser Robert J. Walker in besonderer Mission nach Europa geschickt. In einem Brief vom 30. November 1867 wies Walker auf die Bedeutung der Aufnahme amerikanischer Bonds in Deutschland hin. Es sei der Absatz dieser amerikanischen Anleihen gewesen, die es der Union erlaubt hätten, den Krieg fortzusetzen. Er sprach sich dafür aus, weitere Anleihen nicht in Frankreich oder in England aufzunehmen, sondern in Deutschland. Er berichtete, daß sich die großen deutschen Banken bei Bismarck erkundigt hätten, ob Darlehen an die Union mit deutschen Interessen zu vereinbaren wären. Bismarck habe sich dahingehend geäußert, soviel wie möglich zu geben.

Das gleiche geht aus den Gesprächen hervor, die Richard Barthold, ein Mitglied des amerikanischen Kongresses, 1895 mit Bismarck in dessen Heimatsitz Friedrichsruh führte. Zurück in Amerika sagte er, Lincoln hätte den Krieg nicht fortsetzen können, wenn Deutschland nicht finanziell geholfen hätte - eine exzellente Aussage für einen Kongreßabgeordneten.

Wie in seiner Biographie steht, habe er Bismarck gefragt: „So war das monarchische Gefühl also kein Hindernis, um eine Republik zu unterstützen?“, denn Bismarck galt als Monarchist, und Amerika war natürlich eine Republik. Der Fürst - Bismarck - schüttelte lächelnd den Kopf. „Durchaus nicht“, erwiderte er. „Die inneren Angelegenheiten anderer Länder sind für die Diplomatie ein versiegeltes Buch. Das Hauptziel der Staatsführung besteht darin, oder sollte darin bestehen, das Volk glücklich und wohlhabend zu machen und ihm Frieden und Reichtum zu geben. Mögen die verschiedenen Regierungsformen miteinander wetteifern, um diesen großen Zweck zu erreichen. Wir fürchten uns nicht vor Vergleichen.“

Soviel zu der Frage, ob Bismarck ein Monarchist war oder nicht... Bereits Nikolaus von Kues hatte übrigens, als er das repräsentative System entwickelte, gesagt, es sei eigentlich ganz gleich, ob eine Monarchie oder eine andere Regierungsform herrsche. Das Wichtige sei, daß sie zum Glück des Volkes führe.

Am Anfang war absolut nicht klar, ob die amerikanischen Bonds eine sichere Geschäftsanlage wären. Später stellte sich freilich heraus, daß sie ein sehr gutes Geschäft waren, das einen beträchtlichen Gewinn erbrachte, der dann Deutschland im Krieg gegen Frankreich sehr zugute kam.

In einem Schreiben vom 10. Oktober 1864 regte sich die Südstaatenregierung fürchterlich über die deutsche Finanzierung der Union auf. - Wenn man noch einen Gegenbeweis brauchte für die Bedeutung dieser Angelegenheit, dann ist es wirklich dieser.

Bismarck selbst hat später in einer Reichstagsrede vom 13. März 1884 angedeutet, daß die preußische Politik sehr dazu beigetragen habe, die Einmischung anderer Kräfte, u.a. Englands, in diesen Krieg zu verhindern. Und von Gerold versicherte Bismarck am 20. Februar 1865, daß die amerikanische Regierung von der freundschaftlichen Gesinnung der preußischen Regierung mehr als von jeder anderen Regierung überzeugt sei. Er habe dauernd Komplimente und Schmeichelhaftes von seiten des Präsidenten, der Mitglieder der Regierung und des Kongresses bekommen.

Ein wichtiger Einfluß für diese Entwicklung war daß auch John Lothrop Motley, der Jugendfreund Bismarcks, Bismarck vollständig für die amerikanische Sache eingenommen hatte. Motley war seit Anfang des Krieges amerikanischer Gesandter in Wien und stärkte in regelmäßigen Abständen Bismarcks Zuversicht, daß der Bürgerkrieg von der Union gewonnen werden würde.

Die Folgen des US-Bürgerkriegs in Deutschland

Die Auswirkungen des amerikanischen Bürgerkriegs auf Europa waren enorm, obgleich man im alten Europa zuerst skeptisch war, ob das amerikanische Experiment funktionieren würde. Aber nach dem Sieg der Union stellte man fest, daß diese Union eine überraschende innere Kraft besaß. Zum ersten Mal in der Geschichte war eine große erfolgreiche Republik entstanden, was für alle Anhänger der republikanischen Idee in Europa eine unglaubliche Bestätigung war. Dazu kam, daß die Versuche von Kaiser Maximilian in Mexiko, ein mexikanisches Kaisertum zu errichten, mit seiner Enthauptung geendet hatten. Auch George Bancroft, der später Botschafter in Berlin war, hatte am Jahrestag von Lincolns Ermordung vor beiden Häusern des Kongresses und des diplomatischen Corps Kaiser Maximilian einen Abenteurer genannt. Damit war die Idee der Monarchie in Amerika noch weiter diskreditiert.

Das gleiche galt auch für Deutschland. Die jungen deutschen Arbeiterorganisationen begrüßten den Sieg der Union. Sie hatten diesen Krieg von Anfang an als eine Sache für die freie Arbeit angesehen und schrieben am 4. Mai in einem Beileidsschreiben anläßlich der Ermordung Lincolns: „Mit großem Interesse haben wir den riesigen Kampf verfolgt, welchen Nordamerika für die Sache der Freiheit, der freien Arbeit, aufgenommen hat, indem wir unser tiefes Mitgefühl für den Tod des Präsidenten Abraham Lincoln hiermit ausdrücken.“ Und die Berliner Altgesellen, eine andere Gewerkschaft, schrieb: „Wir haben die Hoffnung, daß es gelingen möge, die großen Prinzipien der Menschenrechte zur vollen Geltung zu bringen und damit Ihre Gegner in Europa, welche auch die unsrigen sind, ihres bisherigen schädlichen Einflusses zu entheben.“

In anderen Briefen Bancrofts wurde deutlich, daß der Einfluß der USA stetig wuchs, und wenn man 20 Jahre vorher nicht geglaubt hatte, daß Amerika zusammen bliebe, herrschte jetzt ein allgemeines Vertrauen in die Fähigkeit des amerikanischen Volkes, mit jeder Schwierigkeit fertig zu werden. Preußen war auch die erste europäische Macht, welche die republikanische Regierung in Mexiko durch die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen anerkannte.

Bismarck und Amerika

Bismarck hatte schon als Göttinger Student jedes Jahr an den amerikanischen Unabhängigkeitsfeiern am 4. Juli teilgenommen, und durch seine Freundschaft mit Bancroft und Motley war die Verbindung nie unterbrochen.

Motley wurde 1814 in Boston geboren. Sein Lehrer war Bancroft, der ihn in die deutsche Sprache und Literatur einführte. Motley verfaßte auch Übersetzungen von Goethe-Gedichten, die von Goethes Frau sehr gelobt und geschätzt wurden. Anschließend trat eine Trennung von einigen Jahrzehnten ein. Aber als Motley 1861 als Gesandter nach Wien kam, festigte sich das Verhältnis wieder. Bismarck hat immer nur Amerikaner als Freunde bezeichnet, niemals irgendeinen Engländer. Er hat auch gesagt, daß die Vereinigten Staaten ihn immer gefesselt hätten. Die rasche wirtschaftliche Entwicklung imponierte ihm, und wiederholt hat er in Reden die Einführung der Zollschutzpolitik mit dem Beispiel und mit Bezug auf Amerika verteidigt. Als er gefragt wurde: „Ja, aber Amerika ist doch eine Republik?“, erwiderte er: „Konservativ ist nur das historisch Gewordene, und deshalb ist die amerikanische Republik eine konservative Form.“ - So kann man es auch auslegen. Bismarcks Außenpolitik läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Er war bestrebt, die Beziehung zu Amerika so positiv wie nur irgend möglich zu gestalten.

Auch Carl Schurz, der ein berühmter Kämpfer gegen die Sklaverei war, bewunderte Bismarck als großen Staatsmann. Schurz sprach von Bismarck „als dem wichtigsten aller Staatsmänner unserer Zeit, dessen weitschauender Blick, dessen gewaltige Kraft und geniale Kühnheit das alte Vaterland der Zerrissenheit und  schlimmer Ohnmacht entrissen hat.“ Schurz blieb mit Bismarck stets in Verbindung, und umgekehrt war Bismarck stolz auf Schurz und sagte: „Als Deutscher bin ich stolz auf den gebürtigen Deutschen, den in die USA ausgewanderten Revolutionär“.

Am 4. März 1869 war Bismarck anläßlich der Inaugurationsfeier von Präsident Grant zu Gast bei Bancroft. In einem Toast sagte Bismarck, es sei eine Tatsache, daß jenes herzliche Verhältnis, welches von Washington und Friedrich dem Großen begründet worden sei, niemals die geringste Störung erlitten hätte. Nicht nur sei niemals eine Schwierigkeit aufgetreten  zwischen den beiden Ländern, sondern es habe sich nicht einmal etwas ereignet, das zwischen ihnen nur eine erläuternde Erklärung nötig gemacht hätte.

Humboldt-Reformen Vorbild für Amerika

Auch die geistigen Beziehungen zwischen beiden Ländern waren sehr intensiv. Die deutsche Sprache breitete sich immer mehr in Amerika aus, und plötzlich trat auch das deutsche Bildungswesen in das Zentrum des Interesses, weil das preußische Schulsystem als Folge der Reformen Wilhelm von Humboldts Weltspitze war. An den deutschen Universitäten waren Forschung und Lehre vereint, und mehr und mehr Amerikaner kamen nach Deutschland, um hier zu studieren. Ende des 19. Jahrhunderts gab es in Amerika nicht einen einzigen Professor, der nicht entweder in Deutschland studiert hatte oder Student bei jemandem gewesen war, der in Deutschland studiert hatte. Beispielsweise wurde die John Hopkins Universität und einige andere Universitäten in den siebziger Jahren als bewußte Nachahmung deutscher Universitäten gegründet.

Die Amerikaner schätzten an den Deutschen die Fähigkeit zu großem methodischen Denken und daß sie die Suche nach der Wahrheit um der Wahrheit Willen hochhielten. Das deutsche Erziehungsideal schien ihnen vorbildlich zu sein. Als Bancroft 1867 als Botschafter nach Berlin kam, pflegte er die deutsch-amerikanische Freundschaft sehr. Sein Haus am Tiergarten in Berlin wurde der Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens; die Historiker Mommsen, Ranke, Droysen kamen regelmäßig als Freunde; Bismarck besuchte ihn oft, sowie auch von Moltke, mit dem Bancroft eng befreundet war.

Bancroft war begeistert, den Prozeß der Einigung in Deutschland und vor allem auch das Entstehen des Norddeutschen Bundes mitzuerleben, von dem Österreich ausgeschlossen wurde. Er war stolz darauf, daß in der Verfassung des Norddeutschen Bundes - einer Vorstufe der deutschen Einheit - die Einflüsse der amerikanischen Verfassung ungeheuer stark waren. Auch Schriften Benjamin Franklins dienten dem Verfassungsprozeß als Vorlage. Bancroft betonte, daß beide Verfassungen auf den gleichen Grundsätzen beruhten. Auf jeden Fall schien der Einigungsprozeß des deutschen Volkes für Bancroft so naturrechtlich begründet zu sein, daß er jeden Versuch, ihn zu stören, für ein moralisches Unrecht hielt. Auch Carl Schurz sprach 1855 davon, daß die Vereinigten Staaten und Deutschland gemeinsam an einem internationalen Rechtssystem für die Welt arbeiten müßten, weil sie in wichtigen Positionen derselben Meinung seien.

1879 begann Bismarcks neue Wirtschaftspolitik, d. h. es vollzog sich der Übergang vom Freihandel zur Schutzpolitik, die direkt auf den amerikanischen Einfluß zurückging. Immer wieder führte Bismarck als Erklärung, warum er eine solche Politik betreibe, Amerika als Beispiel an. Fragt mal heute jemanden in Deutschland auf der Straße danach: Das weiß kein Mensch mehr.

Damals war die deutsche Wirtschaft noch in einem schlechten Zustand. Als Reichskommissar Reuleaux 1876 die Weltausstellung in Philadelphia besuchte, lautete sein Urteil über die deutschen Ausstellungsgegenstände: „Billig, aber schlecht.“ Als Bismarck schließlich den Wandel in der deutschen Wirtschaftspolitik einleitete, waren die Amerikaner sehr froh und hatten volles Verständnis, während sich das freihändlerische England empfindlich geschädigt glaubte. Seitdem verstärkten sich die Handelsbeziehungen zwischen Amerika und Deutschland, und 1879, also in dem Jahr, als Bismarck den Wechsel einleitete, kam auch William D. Kelley nach Berlin, der wegen seiner Rolle als Hauptsprecher im Kongreß für die Eiseninteressen Pennsylvanias „Pig-Iron Kelly“ [Roheisen-Kelly] genannt wurde.

Fortsetzung folgt.

Lesen Sie hierzu bitte auch:
Stellungnahmen und Reden der BüSo-Vorsitzenden
- Internetseite der Bürgerrechtsbewegung Solidarität (BüSo)

 

Aktuelle Ausgabe Diese Ausgabe Kernthemen Suchen Abonnieren Leserforum