Alexander S. Puschkin, 1836
Ein Denkmal baut ich mir, wie Hände keins erheben,
Des Volkes Pfad zu ihm wächst niemals zu; es wagt
Unbänd'gen Hauptes höher himmelan zu streben,
Als Alexanders Säule ragt.
Nein, ganz vergeh ich nicht - im heil'gen Klang der Saiten
Lebt unverweslich, wenn der Leib zerfiel, mein Geist -
Lebendig werd ich sein, solang auf Erdenbreiten
Man einen einzigen Dichter preist.
So weit sich Rußland dehnt, kennt jeder meine Muse,
Es nennt mich jedes Volk, das unser Reich umspannt:
Der Slawen stolzer Sproß, der Finne, der Tunguse
Und der Kalmück am Steppenrand.
Und lang wird liebend mich das Volk im Herzen tragen,
Weil Edles ich erweckt mit meiner Leier Klang,
Weil ich die Freiheit pries in unsern strengen Tagen
Und Nachsicht mit den Opfern sang.
Dem Gott gehorsam, Muse, bleib auf deinen Pfaden,
Gleichmütig, ob man gut, ob bös man von dir spricht;
Verlange keinen Kranz und scheue keinen Schaden
Und wider Dummheit streite nicht.
Übers. Hiller von Gaertringen, 1934
In diesem Jahr wird der 200. Geburtstag von Alexander Sergejewitsch Puschkin (1799-1837) gefeiert. Er ist der Dichter Rußlands, der von Jung und Alt und von allen Gesellschaftsschichten Rußlands - ganz gleich, welche Herrschaftssysteme das Land in den letzten 200 Jahren regierten - am meisten geliebt und verehrt wird.
Puschkins Dichtung ist geprägt vom Geist eines Menschen, der dem Genius der Schönheit und der Freiheit huldigte. Inspiriert von den Werken der größten Dichter der Menschheit - Homer, Dante, Petrarca, Shakespeare, Schiller und Goethe - gelang es ihm, die europäische Renaissance in seiner Person wachzurufen und eine neue Renaissance in der Sprache und Poesie Rußlands einzuleiten.
schrieb der russische Literaturkritiker Tschernyschewskij 1855.
Am 26. Mai 1799 kam Alexander Puschkin in Moskau im Hause Skworzows als Sohn des Majors a.D. und Beamten am Moskauer Kommissariat Sergej Lwowitsch Puschkin und seiner Ehefrau Nadeschda Ossipowna geb. Hannibal zur Welt.
"Unter der kleinen Anzahl der vornehmen Geschlechter, die der blutigen Ungnade des Zaren Iwan Wassiljewitsch des Schrecklichen entronnen sind, nennt die Historiographie auch das der Puschkin", schreibt Puschkin in einer Tagebucheintragung 1830.
Der Stammbaum meiner Mutter ist noch interessanter. Ihr Großvater war ein Neger, der Sohn eines regierenden kleinen Fürsten. Der russische Gesandte in Konstantinopel hatte ihn auf irgendeine Weise aus dem Serail, wo er als Geisel gehalten wurde, bekommen und zusammen mit zwei anderen Mohrenknaben an Peter I. gesandt" (Tagebuchnotiz 1830 "Über den Stammbaum der Puschkin").
Ein hervorragendes Denkmal errichtete Puschkin seinem Großvater Hannibal in der Novelle Der Mohr Peters des Großen. Zar PeterI. hatte Puschkins Großvater Ibrahim als Patenkind angenommen, hatte diesen erziehen und ausbilden lassen und ihn nach seiner Rückkehr aus Paris, wo er an der Artillerieschule studierte, zum Kapitänleutnant der Bombardier-Kompagnie des Preobraschenskijschen Regiments ernannt. Die Novelle gibt zugleich einen Einblick in die Persönlichkeit und die reformerischen Leistungen des von Puschkin zeit seines Lebens hochverehrten Zaren PeterI. In ihm sah Puschkin den eigentlichen Neuerer Rußlands, der das "Fenster nach Europa" öffnete.
Petersburg war die "neugeborene Hauptstadt", "die sich auf den Wink des Herrschers hin aus dem Sumpf erhob. Kahle Dämme, Kanäle ohne Ufermauer und hölzerne Brücken wiesen allerorts auf den kürzlichen Sieg des menschlichen Willens über den Widerstand der Naturgewalten hin. Die Häuser schienen in aller Eile erbaut. In der ganzen Stadt gab es nichts Großartigeres außer der Newa, die noch keine Graniteinfassung schmückte, aber auf der schon ein Kriegs- und Handelsschiff neben dem anderen lag", schreibt Puschkin im Der Mohr Peters des Großen:
Unter dem Einfluß seines Onkels, des Dichters Wassilij Lwowitsch Puschkin (1766-1830), zu dessen engsten Freunden der bedeutende Schriftsteller und Historiker Nikolai Michailowitsch Karamsin und der anerkannte Dichter Wassilij Shukowskij zählten, und dank der großzügig angelegten väterlichen Bibliothek wurde der junge Puschkin schon sehr früh mit den Ideen der großen Klassiker europäischer Geschichte und Literatur vertraut. Homer, Horaz, die französischen Klassiker, Shakespeare, Schiller gehörten zu seiner Lektüre. Die Umgangssprache der Familie Puschkin war Französisch.
Einen wichtigen Einfluß auf die dichterische Entwicklung hatte Puschkins Amme, die Bäuerin Arina Rodionowna. Aus dem reichen Schatz der russischen Märchen schöpfend machte sie Puschkin mit der gesamten russischen Volksliteratur vertraut, den schönen Märchen, Legenden, Sagen, die Puschkin den Reichtum der Sprache und ein Gefühl für den poetischen Charakter der Sprache vermittelten. Sie war auch die einzige Person, die ihm während der Verbannung auf dem elterlichen Gut Michailowskoje in den Jahren 1824-26 als Begleiterin treu zur Seite stand, was er im Eugen Onegin festhält:
Im Alter von zwölf Jahren wurde Puschkin auf das Lyzeum in Zarskoje Selo geschickt, eine vom humanistischen Geist getragene Eliteschule, die 1811 auf Anregung des damaligen Staatssekretärs Graf Michail Speranskij und des Bildungsministers Graf A.K. Rasumowskij gegründet worden war.
Der erste Direktor des Lyzeums war Wassilij Malinowskij, ein Freund von Puschkins Vater und bekannter Verfechter des "amerikanischen Systems" in der Wirtschaftspolitik, der u.a. das Vorwort zur ersten russischen Übersetzung von Alexander Hamiltons Report on Manufactures geschrieben hatte.
"Der Lehrplan des Lyzeums war umfangreich", heißt es in der Puschkin-Biographie von Jurij Lotmann. Die ersten drei Jahre galten dem Studium der russischen, lateinischen, französischen und deutschen Sprache sowie der Mathematik, den Fächern Literatur und Rhetorik, Geschichte und Geographie, Tanz, Fechten, Reiten und Schwimmen. "In den oberen Klassen lief der Unterricht dann ohne festes Programm ab. Das Statut legte nur die Wissenschaften fest, die gelehrt werden sollten: Vorgesehen war der Unterricht zu Gegenständen der Ethik, Physik, Mathematik und Geschichte sowie in Literatur und Sprachen."
Zu den für Puschkins geistige Entwicklung prägenden Lehrern gehörten vor allem Alexander Kunizyn und Alexander Iwanowitsch Galitsch, Lehrer für russische und lateinische Literatur. Alexander Petrowitsch Kunizyn, der in den Jahren 1808-11 in Göttingen und Heidelberg studiert hatte, arbeitete während seiner Zeit in Zarskoje Selo an einem zweibändigen Werk über das "Naturrecht", das 1820 erschien und das auch Gegenstand seines Unterrichts war.
Puschkin erlebte seine Schulzeit als eine sehr fruchtbare und geistig anregende und sorglose Periode, der er im letzten Kapitel des Eugen Onegin gedenkt:
Da füllte sich mit Himmelssonne
Mein enges Stübchen freudig hell
erschloß sich mir der Dichtung Quell,
Ich sang von meiner Kindheit Wonne,
Von Kampf und Sieg der Väterzeit
Und meines Herzens erstem Leid.
Der Beifall kam mir froh entgegen;
Mich hob der jung erstrittne Preis;
Derschawin gab mir seinen Segen,
Der grabesmüde Dichtergreis.
Puschkin spielt auf eine wichtige Episode im Jahre 1815 an, als der Dichterfürst Gawrila Romanowitsch Derschawin (1773-1816) ihn für sein Gedicht Erinnerungen in Zarskoje Selo auszeichnet. Darin besang der junge Puschkin voller Leidenschaft die Heldentaten des russischen Volkes unter Katharina der Großen, den Befreiungskrieg gegen Napoleon und den triumphalen Einzug der russischen Truppen in Paris im Jahre 1812.
Während der Lyzeumszeit trat der junge Puschkin früh schon im Kreise seiner Mitschüler mit ausgesprochen ironischen Versen hervor. Die tiefe Liebe zur schöpferischen Freiheit, ohne die keine große Dichtkunst entstehen kann, durchzieht schon diese ersten Gedichte.
Wie Heinrich Heine, der Puschkin typologisch sehr nahe steht, verstand es Puschkin, sich mit spitzer ironischer Feder und mit wenigen Strichen an der Dummheit seiner Zeitgenossen zu rächen, wie z.B. in dem frühen Gedicht
"Gibt es etwas Neues? - "Nein ich wüßte nicht."
"Ach schäme dich, du willst mir's nur nicht sagen!
Wie einem Kind lügst du mir ins Gesicht,
Mir, deinem Freund! Das solltest du nicht wagen!
Hab ich dir was getan? Wenn nicht, warum
Bist du mir gegenüber so verschwiegen?"
"Laß mich in Ruh! Ich weiß nur: Du bist dumm!
Doch hieß' ich das was Neues, müßt' ich lügen."
Übersetzung von Remané, 1968.
Wie lang schon suchen unsre Weisen
Umsonst vergeßner Wahrheit Spur!
Doch ihre Deutungen, sie kreisen
Um alte Pergamente nur.
"Im Brunnen hat sie sich verborgen",
So schrein sie, sitzend auf dem Steiß.
"Wir finden sie, vielleicht schon morgen!"
Und schöpfen Wasser eimerweis.
Doch einer dieser edlen Leute
(Silen war's wohl) fand ihr Geschrei
Zu dumm und stahl sich stumm beiseite,
Müd dieser Wasserschöpferei.
Fern ihrer würdevollen Runde
Fand die Gesuchte er allein
Bei frohem Trunke auf dem Grunde
Von einem großen Krug voll Wein.
Übersetzung von Remané, 1968.
Er schielte auf den Schnurrbart nieder,
Er lächelte und strich ihn wieder
Sorgfältig glatt, der Herr Husar.
Ein weiser Mann mit glatten Wangen,
Der kam von ungefähr gegangen
Und sprach, dieweil er weise war:
"Du Narr! Es bleibt doch nichts bestehen,
Die Welle muß auf Welle gehen,
Vergeht auch aller Reiche Macht!
Wo blieben schließlich Babels Türme,
Wo blieben Kleons Dramenstürme?
Dies alles schwand wie Licht in Nacht.
Der Schnurrbart reicht bis zu den Ohren
Dem stets besoffnen jungen Toren,
Der zwar nichts weiß, doch alles glaubt.
So wird die Barttracht stolz gehätschelt,
Mit Kamm und Bürsten zart getätschelt
Und schwarz mit Antimon bestaubt.
Dann prangt modern er im Gesichte,
Man wickelt nachts ihn in Gedichte
Mit Sorgfalt und mit Vorsicht ein.
Das Schlafen wird im Stehn erledigt,
Damit das Prunkstück sich nicht schädigt -
Solch Schnurrbart will erlitten sein...
Und sauft gemeinsam ihr im Kreise,
Wie's der Husaren Art und Weise,
Dann lautet stets der erste Toast,
Nachdem ein Flaschenhals gebrochen
Und Durst in euren Leib gekrochen:
Auf Pferd und Weib und Bart - na Prost!
Und stehst du irgendwo im Kampfe,
Umwölkt von heißem Pulverdampfe,
Dann hockst du Tor auf deinem Gaul
und greifst umringt von Feindesscharen,
Nicht nach dem Schwert, nein, nach den Haaren
Und streichelst eitel dir ums Maul.
Doch manchmal liegst du auch in warmen,
Sehr zarten, liebevollen Armen,
Dann sucht zwar deine eine Hand,
Dieweil es üblich, ihren Busen
Zwecks Lustentfachung zu umschmusen -
Die andre zwirnt am Schnurrbart-Band.
Nun gut Husar! Doch mußt du wissen,
All dieses wird einst schwinden müssen!
Beachte, wie die Zeit entschlupft!
Rasch welken Lippen, Busen, Wangen,
Es graut das Haar im Altersbangen
Und auch der Bart wird ausgerupft!"
Übersetzung von Gerlach, 1956.
Puschkin wuchs in einer Zeit großer Umwälzungen in Europa auf. Unter dem Einfluß der preußischen Reformer Scharnhorst, vom Stein und Gneisenau hatten die Befreiungskriege 1812/13 die Ära Napoleons besiegelt, dessen Schicksal sich mit der Niederlage im Rußlandfeldzug wendete. In ganz Europa, vor allem in Rußland, kam es infolge der Befreiungskriege zu fundamentalen Umwälzungen.
Viele junge russische Offiziere, die während der Befreiungskriege Seite an Seite mit preußischen und österreichischen Soldaten am Feldzug gegen Napoleon teilgenommen hatten - ein Feldzug, dessen Grundzüge von Friedrich Schillers Schwager Ludwig Wolzogen und von Scharnhorst in enger Zusammenarbeit mit dem russischen General Kutusow ausgearbeitet worden war - , kehrten nach Rußland zurück mit der Kenntnis der Kultur Westeuropas und der Hoffnung auf durchgreifende Reformen.
1838, ein Jahr nach dem Tod Puschkins, erschien in den Berliner Jahrbüchern für Wissenschaftliche Kritik eine erste umfassende Einführung in Puschkins Werk. Der Autor war Varnhagen von Ense, ein enger Freund Goethes, bekannter Literaturkritiker und Diplomat. Den Anstoß für diese ungewöhnliche Ehrung hatte eine dreibändige posthume Puschkin-Ausgabe gegeben, die Varnhagen von Ense von Alexander von Humboldt als persönliches Geschenk erhalten hatte. Dieser war 1829 anläßlich seiner Sibirien-Expedition in St. Petersburg stürmisch gefeiert worden, und man kann annehmen, daß er bei diesem Anlaß auch mit den Ideen Puschkins bekannt wurde.
Varnhagen von Ense, dem an einem engen Zusammenwirken Rußlands und Deutschlands gelegen war, erlernte innerhalb von drei Monaten mit Hilfe eines russischen Studenten der Berliner Universität Russisch und war so in der Lage, Puschkins Werke im Original zu lesen.
"Die ermutigende und belebende Kraft in Puschkin wird jeder alsbald erfahren, der sich mit ihm beschäftigt", schrieb Varnhagen in seiner Abhandlung aus dem Jahre 1838.
Man habe Rußland nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt, meint Varnhagen mit kritischem Blick auf die Deutschen: "Dies muß um so mehr auffallen, als gerade in den neuesten Zeiten, nach vollbrachten brüderlichen Kämpfen zu gemeinsamer Befreiung und gemeinsamem Siege, beide Völkerschaften einander näher stehen mußten und die Macht und der Einfluß Rußlands auch für uns in immer größere Bedeutung trat."
Als Diplomat im Auswärtigen Amt und politischer Beobachter, der ausführliche Berichte (unter anderem für Alexander von Humboldt) über die Geschehnisse während der Befreiungskriege von den verschiedenen Kriegsschauplätzen schrieb, unterhielt Varnhagen van Ense neben vielfältigen Verbindungen zu französischen, österreichischen und russischen Militärs - (Varnhagen und Alexander von Humboldt unterhielten u.a. eine sehr enge Beziehung zu dem bedeutenden französischen Militärstrategen Lazare Carnot, und es war dank ihrer Initiative, daß Lazare Carnot 1816 ins Exil nach Magdeburg gebracht wurde, wo er mit dem Gehalt eines preußischen Generalleutnants seine letzten Lebensjahre verbrachte.) - auch sehr enge Verbindungen zu J.W. Goethe, den Gebrüdern Humboldt, Heinrich Heine, dem süddeutschen Verleger Georg Friedrich von Cotta und dem Ökonomen Friedrich List. Mit Hilfe von Enses wurde Heinrich Heines Dichtung in Deutschland bekannt gemacht, zu dessen engsten Freunden Ende der 20er Jahre der russische Gesandte und Dichter Graf Tjutschew in München gehörte.
Das Motiv der siegreichen Befreiungskriege, welche in Rußland den Beginn einer neuen Ära im politischen Denken und vor allem in der Dichtung und Sprache einleiteten, zieht sich wie ein roter Faden durch Puschkins Werk.
In der meisterhaften Erzählung Der Schneesturm wird die Erinnerung am Beispiel einer Geschichte aus dem Jahre 1811 transparent gemacht:
Anspielungen auf die große Feuersbrunst 1812, welche die Hauptstadt Moskau zerstörte und den Anfang vom Ende Napoleons bildete, finden sich in der Erzählung Sargmacher.
So groß jedoch die Aufbruchsstimmung der Befreiungskriege war, sehr bald nach dem Wiener Kongreß 1815 wurden die Hoffnungen vieler aufrichtiger Patrioten enttäuscht. Vergebens hatte man gehofft, daß nun eine neue Ära des auf Gerechtigkeit und Wohlstand gegründeten Zusammenwirkens der Nationen in Europa eingeleitet würde. Die drei großen Figuren des Wiener Kongresses, der russische Zar AlexanderI., der österreichische Kanzler Metternich und der englische Außenminister Castlereagh leiteten mit ihrer Politik eine Phase der Restauration in Europa ein, mit der den reformerischen Bewegungen in Europa eine klare Absage erteilt und das geistige Leben unter Zensur gestellt wurde.
Puschkin begab sich nach seinem Schulabschluß im Juni 1817 mit seiner Familie nach St. Petersburg, wo er im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten vereidigt wurde. In der von Schillerschem Geist inspirierten Ode Die Freiheit (1817), die an seinen Freund Tschaadajew gerichtet war, machte Puschkin sehr deutlich, auf welcher Seite er damals politisch stand und wie sehr er für die Idee einer auf naturrechtlicher Basis aufbauenden Gesetzesordnung eintrat.
Und wehe, wehe jenem Land,
Wo es vom Schlaf nicht will erwachen,
Wo Fürsten oder Volkes Hand
Aus dem Gesetz ein Spielzeug machen! (...)
Ihr Fürsten nehmt die Lehre wahr,
Denn weder Strafe noch Belohnung,
Und kein Gefängnis, kein Altar,
Kann euch gewähren Schutz und Schonung.
Lenkt durch Gesetze euer Land
Und hoher Ruhm ist euch beschieden,
Der Völker Gleichheit, Glück und Frieden
Ist eurer Herrschaft Unterpfand.
Anonyme Übersetzung aus dem Jahre 1937.
Dagegen standen auf der anderen Seite der Historiker Karamsin, der Schiller-Übersetzer Shukowskij und Puschkins Onkel Wassilij, die daran arbeiteten, die Umgangssprache zu einer Hochsprache zu entwickeln. Ein tiefer Graben tat sich auf zwischen denen, die in oligarchischer Manier die "Sprachlosigkeit" und Dummheit im Volk fortschreiben wollten, und denen, die die Entwicklung der nationalen Sprache als Hauptmittel zur Erziehung der Bevölkerung ansahen.
Kritisch setzte sich der Sprachschöpfer Puschkin gegen alles Gekünstelte und falsche Pathos in der Sprache zur Wehr: "Was soll man jedoch von unseren Schriftstellern sagen, welche das einfache Aussprechen der alltäglichsten Dinge für zu gering halten und ihre kindliche Prosa mit Ergänzungen und matten Metaphern zu beleben glauben?", schreibt er in dem Aufsatz Über den Stil (1822).
Ich lese den Bericht eines neuen Theaterliebhabers: ,Diese junge Schutzbefohlene der Thalia und Melpomene, reich beschenkt von Apoll...' Mein Gott, so setz doch einfach diese junge, tüchtige Schauspielerin hin und fahre fort..."
In dem Essay Über die Ursachen, die den Gang unserer Literatur verlangsamen (1824) schreibt er:
1820 erschien Puschkins Ruslan und Ludmilla, eine Verserzählung, die großen Eindruck hinterließ. Hier zeigte sich ein Sprachschöpfer, der elegante flüssige Verse, leichte Ironie der Schilderungen, Anspielungen auf Zeitereignisse mit persönlichen Reflexionen verband. Das Echo auf diese literarische Neuheit war ungewöhnlich positiv.
Nach dem ersten großen Erfolg von Ruslan und Ludmilla wurde Puschkin, dessen Gedichte Freiheit und Das Dorf sich im ganzen Land wie ein Lauffeuer verbreiteten, mit seiner poetischen Waffe zu einem Problem für die Obrigkeiten. Am 4. Mai 1820 wurde er mit einem Empfehlungsbrief des Außenministers Graf Nesselrode "strafversetzt" und geriet an einen neuen Vorgesetzten, General Iwan Nikititsch Insow, damals Leiter der Ansiedlungskommission russischer Kolonisten in Bessarabien.
Die Provinz Bessarabien war von den Türken im Frieden von Bukarest 1812 an das Zarenreich abgetreten worden. Hier sollten russische Bauern als Kolonisten angesiedelt werden.
Unter General Insow, der Puschkin ideenmäßig sehr wohlwollend gegenüberstand, hielt sich Puschkin vom 1820-1823 in Kischinjow auf. Er unternahm damals mit General Nikolai Rajewskij eine Reise in den Kaukasus und auf die Krim und war tief beeindruckt von der geographischen Schönheit des russischen Südens. 1822 erschien das Gedicht Der Gefangene im Kaukasus und unmittelbar danach die Fontäne von Bachtschissarai, worin er sehr eindringlich den Geist des Südens Rußlands einfängt. 1823 wurde Puschkin nach Odessa versetzt, wo er unter dem Generalgouverneur Graf M.S. Woronzow diente.
Nach mehreren Gesuchen an den Zaren AlexanderI. mit der Bitte, ihn aus der Verbannung zu befreien, wurde Puschkin 1824 auf Anordnung des Zaren aus dem Auswärtigen Dienst entlassen und erneut in die Verbannung geschickt: ins elterliche Gut Michailowskoje im Gouvernement Pskow. Anlaß dafür war sowohl die Tatsache, daß Puschkin Kontakte zu dem Südbund der später als Dekabristen bekanntgewordenen Offiziere unterhielt, als auch ein Brief, in dem Puschkin atheistische Äußerungen getan haben soll.
Einsam und völlig von der Außenwelt abgeschieden - nur in Begleitung seiner alten Amme Rodionowna - verbrachte Puschkin fast zwei Jahre in Michailowskoje. Diese Zeit gehörte dennoch zu den schöpferischsten Arbeitsphasen des Dichters. Puschkin bestellte sich damals von seinem Bruder die Dramaturgie Schlegels, Literatur von Sismondi, eine Sammlung russischer Gedichte, die Dramen Schillers, eine Bibel "unbedingt in französischer Sprache" und... Gedichte, Gedichte Gedichte. Weiter schrieb er: "Schicke mir doch eine historische, trockene Darstellung des Lebens von Stenka Rasin, der einzigen poetischen Figur der russischen Geschichte."
Angeregt vom Studium der Shakespeareschen Dramen und der russischen Geschichte Karamsins vollendete Puschkin 1824 die Tragödie Boris Godunow. Ganz im Stile eines Shakespeare-Dramas gehalten, gelingt es dem Dichter hier, in 24 dichtgedrängten Szenen die Geschichte vom falschen Zaren Dmitrij (Grigorij Otrepjew) in der Zeit der Wirren nach dem Tod IwansIV. darzustellen.
Auch Friedrich Schiller hatte sich in seinem letzten, unvollendet gebliebenen Werk mit der Thematik des falschen Demetrius auseinandergesetzt. Bei Schiller wie bei Puschkin geht es um die Frage der Macht und ihrer naturrechtlichen Legitimität. Boris Godunow, die Hauptgestalt in Puschkins Tragödie, die sich an der historischen Vorlage Karamsins orientiert, kam durch ein Verbrechen, die Ermordung des Zarensohns in Uglitsch, an die Macht. Umgeben von Emporkömmlingen und Bojaren, die nur darauf warten, die Macht zu zersplittern, ist Godunow während seiner Herrschaft bemüht, die Macht in zentraler Hand zu halten und entsprechende Gesetze zu erlassen.
Sein großer Gegenspieler ist Grischa Otrepjew - der falsche Dmitrij, welcher als Prätendent von Polen unterstützt wird.
Das treibende Rad, die Bewegung im Kampf um die Zarenkrone in diesem Drama, ist das Volk. "Was schweigt ihr?", heißt es im Schlußsatz des Dramas. ",Ruft doch: Es lebe der Zar Dmitrij Iwanowitsch!' (Das Volk bleibt stumm)."
In den Wirren um die Thronnachfolge nach dem Tod AlexandersI. kam es am 14. Dezember 1825 zum Dekabristenaufstand, der jedoch scheiterte. Puschkin verlor dabei viele seiner besten Freunde. Diese wurden entweder wie der Anführer Pestel gehängt oder wie Küchelbecker und Puschtschin in die Verbannung nach Sibirien geschickt.
Wie tief ihn die damaligen Ereignisse erschütterten, wird aus einem Brief deutlich, den Puschkin am 10. Juli 1826 an seinen Freund Pjotr Wjasemskij schreibt:
Drei Wochen später, am 14. August 1826, schreibt er in einem weiteren Brief an Pjotr Wjasemskij:
Zar Nikolaus I. kam als Nachfolger Alexanders I. an die Macht.
1826 begnadigte Nikolaus I. Puschkin und hob dessen Verbannung im September 1826 auf. In den folgenden Jahren 1827-37 hielt sich Puschkin in Moskau und in St. Petersburg auf. Aufgrund einer persönlichen Unterredung mit Nikolaus I. wurde Puschkin von nun an der persönlichen Zensur des Zaren unterstellt.
Puschkin hielt damals um die Hand der jungen Natalja Nikolajewna Gontscharowa an, die er 1828 in Moskau kennengelernt hatte. Auf dem elterlichen Gut in Boldino verfaßte er in wenigen Wochen im Herbst 1830 die Geschichten des verstorbenen Iwan Petrowitsch Belkin, die sich durch sprachliche Einfachheit, dynamischen Aufbau und äußerste Verdichtung auszeichnen.
1833 folgte Puschkins Meisterwerk Eugen Onegin, an dem er zehn Jahre gearbeitet hatte. Es ist ein auf mehreren Ebenen des sokratischen Dialogs komponierter Versroman, in dessen Zentrum die beiden Hauptpersonen Eugen Onegin und die "schöne Seele" Tatjana Larina stehen. Auf einer höheren Ebene führt der Dichter einen Dialog mit seinem schöpferischen Selbst und gibt dem Leser Einblick in das Entstehen seines "Kunstwerks". Puschkin kommentiert, beurteilt, kritisiert und begleitet seine Romanfiguren, er parodiert und kommentiert alle wichtigen Bereiche des damaligen russischen Lebens. So übt er erbarmungslose Kritik an der Vorliebe des Publikums für sentimentale Romane, er nimmt die blasierte adelige Oberschicht Moskaus aufs Korn, die in gesellschaftlichen Ritualen und falscher Romantik erstarrt ist, und macht sich über die Gallomanie lustig. Und indem der Dichter Volks- und Umgangssprache als poetisches Mittel miteinander verwebt, entsteht ein ironischer Kontrast zwischen erhabenem und falschem Pathos, zwischen naiven Gefühlen und falscher Romantik und einer wirklich "schönen Seele", welche ihren Idealen treu bleibt.
Nach monatelangen Recherchen in Simbirsk und Orenburg/Ural schrieb Puschkin 1837 ein Werk über den berühmten Pugatschow-Bauernaufstand mit dem Titel Die Hauptmannstochter. Im Auftrag NikolausI. und als Angestellter des Auswärtigen Amtes beginnt Puschkin mit Archivarbeiten zur "Geschichte Peters des Großen", die leider unausgeführt blieb.
1831 heiratete er in St. Petersburg Natalja Nikolajewna Gontscharowa, die ihm vier Kinder gebar. Das Ehepaar Puschkin war damals gern gesehener Gast auf den Bällen am Hofe des Zaren.
1836 gründete Puschkin in Zusammenarbeit mit Nikolai Gogol, den er 1831 kennengelernt hatte, die Vierteljahreszeitschrift Sowremennik.
Von Schulden geplagt und durch immer perfidere Verleumdungskampagnen wurde Puschkin das Leben jedoch zusehends schwer gemacht. Je mehr sich sein Ruhm im Lande verbreitete, um so intensiver wurden die Versuche der Feinde Puschkins, der Neider und Verleumder in der Gestalt des Uwarow, Bulgarin und van Heeckeren, ihn persönlich zu erledigen. Puschkin starb an den Folgen eines Duells 1837, dem eine äußerst schmutzige Verleumdungskampagne vorausgegangen war.
Intensiv setzte sich Puschkin in verschiedenen Gedichten mit der Frage der künstlerischen und ästhetischen Aufgabe des Dichters auseinander. Nur mit der Kraft seiner Ideen und Sprachschöpfung kann der Poet den Menschen im Innersten rühren.
Übersetzung von Groeger, 1923.
Solang der Dichter nicht Apoll
Zum Weiheopfer ruft, solange
Müht er sich zag und kleinmutsvoll
In dieser Welt geschäft'gem Drange.
Die heil'ge Leier will nicht tönen;
Starr schläft die Seele, dumpf und schwer,
Und von den armen Erdensöhnen
Der allerärmste wohl ist er.
Doch kaum wird feinen Ohrs die Seele
Des heil'gen Götterrufs gewahr,
Gleich fährt sie auf, ein junger Aar,
Und lauscht dem göttlichen Befehle.
Der Dichter flieht der Welt Ergötzen,
Es bangt ihm, wo man lärmt und spricht;
Und vor des Volkes hohlem Götzen
Beugt er den stolzen Scheitel nicht;
Das Herz voll Unruh, voll von Tönen,
Flieht wild und scheu er und allein
Zum weiten winddurchrauschten Hain,
Zum Strande, wo die Wogen stöhnen...
Übersetzung von Hiller von Gaertringen, 1934.
Schmährufe wurden laut im Kreise
Verständnislos, gemein und roh:
"Hör auf mit dieser süßen Weise,
Wozu ereiferst du dich so?
Was kann schon dein Geklimper lehren?
Willst du uns nur das Herz beschweren?
Tu nicht, als seist du ein Prophet!
Uns kannst du damit nicht betören,
Kein Mensch wird um dein Lied sich scheren,
Was nützt es, wenn's im Wind verweht!"
DER DICHTER:
Ihr Ärmsten, ach, wie seid ihr dumm.
Ihr kreist nur um euch selbst herum!
Mir graut, wenn ich euch reden höre!
Wie Würmer kriecht ihr auf der Flur,
Nach schnödem Nutzen fragt ihr nur! (...)
Packt euch! Ihr werdet nicht gescheiter!
Ich kümmere um euch mich nicht!
Beharrt auf euren Lastern weiter,
Nicht besser macht euch mein Gedicht (...)
Sollt ich statt eurer in den Städten
Die Straßen kehren Tag für Tag
- So nützlich immer dies sein mag - ,
Für eure Torheit unterdessen
Mein heiliges Priesteramt vergessen?
Mit Alltagskram sollt sich abgeben,
Mit Neid und Streit der Kunst Prophet?
Nein, über diese Welt erheben
Soll sich sein Lied wie ein Gebet!
Übersetzung von Remané, 1968.
Da ich den Klang ertötet,
Schnitt ich Musik wie einen Leichnam auf.
Ich prüfte Harmonie durch Algebra (...)
Mit angespanntem, kräftigem Beharren
Erwarb ich in der grenzenlosen Kunst
Mir endlich hohen Rang. Mir lächelte der Ruhm...
Ob Puschkin wirklich daran glaubte, daß Salieri Mozart vergiftet hatte oder nicht, ist hier nicht so entscheidend. Er war davon überzeugt, daß, wer das Schöne, Gute und Wahre haßt, zum Bösen, zur destruktiven Tat fähig wäre. In einer Tagebuchnotiz "Mozart und Salieri" aus dem Jahre 1833 bemerkte er: "In der ersten Vorstellung des Don Juan, während das ganze Theater sich schweigend an der Harmonie Mozarts berauschte, ertönte ein Pfiff: Alle wandten sich mit Staunen und Zorn um, und der berühmte Salieri verließ den Saal, rasend von Neid zerfressen. Salieri starb vor etwa acht Jahren. Manche deutsche Journalisten sagen, daß er angeblich auf dem Totenbett ein fürchterliches Verbrechen, die Vergiftung Mozarts, gestanden hätte. Ein Neider, welcher den Don Juan auspfeifen konnte, war wohl imstande, dessen Schöpfer zu vergiften."
Die Worte, die Puschkin Mozart kurz vor dessen Tod im Drama Mozart und Salieri sagen läßt, sind das Bekenntnis des Dichters Puschkin. Für ihn war die Dichtkunst ein "heiliges Priesteramt". Nicht mit Alltagskram, mit Neid und Streit soll sich der "Prophet der Kunst" abgeben,
Alexander Puschkin, Gesammelte Werke in sechs Bänden, hrsg. Harald Raab, Insel Verlag, Frankfurt am Main, 1973. (Alle Zitate aus Puschkins Gedichten, Eugen Onegin und Mozart und Salieri nach dieser Ausgabe.)
Alexander Puschkin, Aufsätze und Tagebuchblätter, Buchenau und Reichert Verlag, München 1926.
Jurij Lotmann, Alexander Puschkin - Leben als Kunstwerk, Reclam Verlag, Leipzig 1989.
Josi von Koskull, Der junge Puschkin, Steuben Verlag, Berlin 1948.
Gudrun Ziegler, Alexander Puschkin, Rowohlt Taschenbuch Verlags GmbH, 1979.
Harald Raab, Die Lyrik Puschkins in Deutschland, Akademie Verlag, Berlin 1964.
N.G. Tschernyschewskij, "A.S. Puschkin, Sein Leben und sein Werk", in: Über die Klassiker der russischen Literatur, Moskau 1971.